Titel
Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948-1969


Autor(en)
von Oertzen, Christine
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 132
Erschienen
Göttingen 1999: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
411 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wiebke Kolbe, Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie, Universität Bielefeld

Die Zeitgeschichtsforschung hat neuerdings verstärkt die sechziger Jahre als Phase beschleunigten sozialen Wandels entdeckt und zu erforschen begonnen. Christine von Oertzens umfassende Studie über Teilzeitarbeit leistet einen wichtigen Beitrag zu dieser Forschung. Anhand des „gesellschaftlich zentralen Konfliktfelds“ Teilzeitarbeit, mit dem im Sinne einer „Querschnittanalyse“ unterschiedliche Gesellschaftsbereiche in den Blick kommen (S. 13), kann sie zeigen, dass der Zeitraum von 1955 bis 1965/67 in vielfacher Hinsicht eine Umbruchphase in der Geschichte der Bundesrepublik darstellte. Dabei wird u.a. deutlich, dass der die Erwerbsarbeit von Ehefrauen betreffende Meinungs- und Politikwandel zentraler Bestandteil einer gesellschaftlichen Modernisierung, der Annäherung der jungen Bundesrepublik an den Westen und ihrer neuen Selbstdefinition als Konsumgesellschaft war.

Von Oertzens Studie ergänzt damit jüngere zeithistorische Forschungen um eine wichtige Dimension und konkretisiert zugleich ein Bild der jungen Bundesrepublik, das amerikanische konsum- und geschlechtergeschichtliche Publikationen neuerdings zu zeichnen beginnen. Sie stellt die gängige Annahme der starren und extrem konservativen fünfziger Jahre in Frage, in der Frauen vom Arbeitsmarkt verdrängt, an Heim und Herd gebunden werden sollten und selbst vor allem familienorientiert gewesen seien. Dieses Bild resultiert wesentlich aus der langjährigen Konzentration der Forschung auf die unmittelbare Nachkriegszeit und die offiziellen Verlautbarungen der Familienpolitik. Der Blick auf die Arbeitsmarktpolitik und auf unpubliziertes Material sowie die Ausdehnung der zeitlichen Perspektive bis in die sechziger Jahre machen hingegen deutlich, dass es auch in der Nachkriegszeit schon ambivalente und widerstreitende Auffassungen über die Erwerbstätigkeit und den gesellschaftlichen Platz von Ehefrauen gab und bereits seit Mitte der fünfziger Jahre ein deutlicher Wandel in Richtung auf eine erhöhte Akzeptanz zu verzeichnen war.

Mit einer Vielfalt von Methoden und Perspektiven untersucht Christine von Oertzen die „Einbürgerung“ (S. 19) von Teilzeitarbeit in der westdeutschen Gesellschaft als komplexes Zusammenspiel von politischen und öffentlichen Debatten, Rechtsprechung, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, politischen Machtverschiebungen, sozialen Praktiken, subjektiven Erfahrungen und Handlungen. In überzeugender Weise verbindet sie den Blick auf wirtschaftliche, politische, soziale und gesellschaftliche Strukturen mit Fragen nach den Motiven, Strategien, Handlungsspielräumen und Aushandlungsprozessen kollektiver und individueller Akteure. Die wirtschaftlich-technische Entwicklung und der Arbeitskräftebedarf werden als Motor, nicht jedoch als alleinige Erklärung für den untersuchten Wandel aufgefasst. Die Einführung von Teilzeitarbeit sei „unumgänglich, aber alles andere als ein automatischer Prozess“ gewesen (S. 233).

Diesem Prozess nähert sich die Untersuchung in fünf Kapiteln aus unterschiedlichen Perspektiven, die sich gegenseitig ergänzen und schließlich ein umfassendes Gesamtbild des Phänomens Teilzeiterwerbstätigkeit und seiner Verortung in der Gesellschaft der jungen Bundesrepublik ergeben. Ein sechstes Kapitel arbeitet die Spezifika der westdeutschen Entwicklung in der Kontrastierung mit der DDR heraus. Dazu kann Christine von Oertzen auf die Ergebnisse der noch unpublizierten Studie Almut Rietzschels über Teilzeitarbeit in Ostdeutschland zurückgreifen. Beide Studien sind in enger Zusammenarbeit als deutsch-deutscher Vergleich konzipiert und bearbeitet worden und verfolgen die Leitfrage, ob und ggf. wie geschlechterspezifische Hierarchien unter veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen neu gesetzt und verankert wurden. Teilzeitarbeit, so die Antwort, diente in beiden deutschen Staaten dazu, in Zeiten dynamisierten sozialen Wandels und einer sich verändernden Geschlechterordnung die mit der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung verbundene Hierarchie festzuklopfen. In der Bundesrepublik war sie der gesellschaftliche Kompromiss, Ehefrauen eine Erwerbstätigkeit zuzugestehen, ohne ihre alleinige und vorrangige Zuständigkeit für Haushalt und Familie – und somit das Familienernährermodell – anzutasten (S. 32).

Das erste Kapitel analysiert detailliert die öffentlichen Debatten über Teilzeitarbeit und zeichnet einen allmählichen Meinungsumschwung über drei Phasen: von der anfänglichen Kriegsfolgenbewältigung über heftige Auseinandersetzungen und widersprüchliche Konzepte ab 1953, bis schließlich seit 1959 Teilzeitarbeit als Ausdruck eines neuen „Erwerbsbedürfnisses“ und Lebensgefühls verheirateter Frauen entdeckt wurde. Zur Akzeptanz der neuen „Lust am Zuverdienen“ trug einerseits eine Verschiebung der politischen Definitionsmacht in familien- und geschlechterpolitischen Fragen bei (von den konservativen Parteien und der katholischen Kirche hin zur SPD und evangelischen Kirche), andererseits die Überzeugung aller politischen Akteure, dass sie ihre geschlechterpolitischen Standpunkte einem tiefgreifenden, nicht beeinflussbaren gesellschaftlichen Wandel anzupassen hätten.

Das zweite Kapitel widmet sich den sozial- und rechtspolitischen Seiten der Teilzeitarbeit. Sachkundig nimmt sich von Oertzen der komplizierten Materie an und beschreibt den Umgang mit Teilzeitarbeit in der Sozialversicherung, im Arbeits- und Tarifrecht, in der Arbeitslosenversicherung und im Steuerrecht. Das Problem für alle diese Rechtsbereiche bestand darin, dass weibliche Teilzeitarbeit den „Normalarbeitstag“, der ihnen als Norm und Bezugsgröße zugrunde lag und idealtypisch an den männlichen vollbeschäftigten Familienernährer gebunden war, in Frage stellte. Es galt nun, Lösungen zu finden, die den Ort von Ehefrauen zwischen Familie und Erwerbsleben so definierten, dass die bestehende Geschlechterhierarchie nicht gefährdet war. Diese Lösungen folgten unterschiedlichen Notwendigkeiten und Logiken und hatten doch alle gemeinsam, dass sie zäh ausgehandelte gesellschaftliche Kompromisse zur Ehefrauenerwerbstätigkeit und als solche höchst ambivalenter Natur waren. Immer jedoch ging es um die zentrale Frage der In- oder Exklusion von Ehefrauen in die verrechtlichte Arbeitswelt und das Sozialversicherungssystem, um die (Nicht-)Anerkennung ihres individuellen Arbeitnehmerstatus und die grundsätzliche Bewertung ihrer Erwerbsarbeit. Mit Ausnahme vom Arbeits- und Tarifrecht kam es im Laufe der 1960er Jahre in allen Bereichen zu einer rechtlichen Integration von Teilzeitarbeit, deren ambivalente Mechanismen das Steuerrecht vielleicht am deutlichsten veranschaulicht: Der „Zuverdienst“ von Ehefrauen wurde seit 1961 zwar eigenständig besteuert, doch nach der neu eingeführten Steuerklasse „F“ (für „Frauen“ – 1965 geändert in Steuerklasse V) erheblich höher als das „Ernährereinkommen“ ihrer Ehemänner.

Kapitel drei behandelt mit der statistischen Entwicklung wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte von Teilzeitarbeit. Es erörtert die Tücken der Statistik gerade im Bereich der Teilerwerbstätigkeit und zeigt, wie die zunehmende Ausdifferenzierung der statistischen Erfassungskriterien die gesellschaftliche Etablierung von Teilzeitarbeit widerspiegelte. Teilzeitarbeit entwickelte sich demnach in den sechziger Jahren nicht nur konzeptionell, sondern auch faktisch zum Erwerbsmodell für verheiratete Frauen und Mütter schlechthin und veränderte den Frauenarbeitsmarkt grundlegend. Dass ein großer Teil der Frauenarbeitsplätze nun in Teilzeit angeboten wurde, ermöglichte besonders Müttern eine langfristige Integration in den Arbeitsmarkt. Doch zeigen die Zahlen auch, dass sehr viele Teilzeitfrauen geringfügig Beschäftigte und somit Arbeitnehmerinnen zweiter Klasse blieben.

Im vierten Kapitel zeichnet Christine von Oertzen anhand von Fallstudien die Einführung von Teilzeitarbeit in verschiedenen Regionen, Branchen und Betrieben nach. Sie beschreibt dabei die Aushandlungsprozesse zwischen Unternehmen, Frauen und dem Staat und die jeweiligen strukturellen Konstellationen, die zum Scheitern oder Erfolg von Versuchen mit Teilzeitmodellen beitrugen. So erwies sich die Durchsetzung von Teilzeitarbeit in der Industrie als besonders schwierig, weil sie auf große Skepsis der Unternehmer wie der zu mobilisierenden Hausfrauen stieß. Diese konnten nur dann als Teilzeit-Fabrikarbeiterinnen gewonnen werden, wenn andere attraktive Verdienstmöglichkeiten fehlten, der Betrieb ihren „familienfreundlichen“ Arbeitszeitwünschen entgegenkam oder das Produkt, wie etwa die Kekse der Firma Bahlsen, die Tätigkeit vermeintlich in die Nähe der Hausarbeit rückte. Teilzeitarbeit in Bürotätigkeiten setzte sich dagegen erheblich schneller und dauerhafter durch, nicht zuletzt, weil diese mit Vorstellungen von höherem Status, sozialer Aufstiegsmobilität und konsumorientierter Weiblichkeit verbunden waren.

Kapitel fünf bietet eine anschauliche Ergänzung und Kontrastierung der bis dahin herausgearbeiteten Ergebnisse aus der Mikroperspektive: Hier werden Interviews mit „Teilzeitfrauen“ ausgewertet, die viele der Befunde bestätigen, andere erst in ihrer ganzen Tragweite erhellen. Nicht zuletzt lässt dieses Kapitel die Arbeitnehmerinnen als Akteurinnen mit spezifischen Interessen deutlich werden, die sie gegenüber ihren Ehemännern, Verwandten und Arbeitgebern häufig erfolgreich durchzusetzen wussten. Die Kapitel vier und fünf mit ihren Fallstudien und Interviews gehören zu den anschaulichsten und stärksten des durchgängig gut geschriebenen Buches, das die Lektüre zum Vergnügen werden lässt.

Im abschließenden sechsten Kapitel werden wesentliche Ergebnisse der Studie im Vergleich zur DDR pointiert zusammengefasst und im Kontext allgemeiner Entwicklungen und Forschungsmeinungen zur Geschichte der beiden deutschen Staaten diskutiert. Hier zeigt sich, dass die Analyse von Teilzeitarbeit in der Tat geeignet ist, zentrale gesellschaftliche Bereiche und Entwicklungen in den Blick zu nehmen. So geht es etwa um Fragen der Geschlechterordnung, der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, der Integration in das jeweilige politische Bündnissystem, der Konsumgeschichte, gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse und der unterschiedlichen Rechtssysteme. Dabei werden etliche überraschende Parallelen zwischen beiden deutschen Staaten aufgezeigt. Einmal mehr erweist sich ein Ländervergleich als besonders geeignet, nationale Entwicklungen in ihrer Spezifik zu pointieren oder als Teil einer internationalen, Regime-unabhängigen Entwicklung deutlich zu machen und somit vor irreführenden Sonderwegsthesen einerseits und unzulässigen Verallgemeinerungen andererseits zu schützen. Die Lektüre macht zugleich neugierig auf die noch nicht publizierte Untersuchung Almut Rietzschels zur Teilzeitarbeit in der DDR.

Christine von Oertzens Studie behandelt das Phänomen Teilzeitarbeit erstmals nahezu erschöpfend in seinen diversen historischen Facetten. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Methodenvielfalt und ihres umfassenden Anspruchs, den sie durchgängig einlöst, werden ihre Ergebnisse wohl längerfristig Geltung beanspruchen können. Das Buch leistet nicht nur zur Geschichte der Teilzeitarbeit und Frauenerwerbstätigkeit einen wesentlichen Beitrag, sondern auch zur Gesellschaftsgeschichte der frühen Bundesrepublik. Es wirkt überzeugend daran mit, das noch häufig zu findende monolithische Bild der „dunklen“ fünfziger Jahre aufzubrechen. Von Oertzens Untersuchung revidiert zudem das gängige Theorem der sozialwissenschaftlichen Arbeitsmarktforschung, wonach die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes erst in den 1970er Jahren mit der Massenarbeitslosigkeit eingesetzt habe. Nimmt man die Geschlechterperspektive ernst, ist die normative und faktische Erosion des „Normalarbeitsverhältnisses“ in die fünfziger Jahre zurückzudatieren. Bleibt zu hoffen, dass Christine von Oertzens Ergebnisse nicht nur innerhalb der Geschlechterforschung, sondern auch von Vertretern der sogenannten „allgemeinen“ Geschichte zur Kenntnis genommen werden.

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