Titel
Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem Ersten Weltkrieg


Autor(en)
Afflerbach, Holger
Erschienen
Anzahl Seiten
984 S.
Preis
€ 95,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ewald Frie, Fachbereich Geschichte, Universität Essen

„Der Erste Weltkrieg brach als Resultat schwerer diplomatischer Fehler und Fehleinschätzungen aus. Die vielbeschworenen, zur Erklärung natürlich unverzichtbaren tieferen Gründe stellten die Potentialität her: Der Erste Weltkrieg war ein mögliches, aber kein zwangsläufiges und sogar ein eher unwahrscheinliches Resultat der damaligen politischen Ordnung.“ (S. 826) Dies ist einer der Kernsätze der Habilitationsschrift des Düsseldorfer Historikers Holger Afflerbach über den Dreibund zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien 1880-1915. Sie endet mit der Feststellung, dass der Dreibund – ebenso wie das Bündnis zwischen Frankreich und Russland, wie Afflerbach zuvor gezeigt hat – als primär defensiv wirkende Allianz einen friedewahrenden Charakter hatte. Der Erste Weltkrieg gewinne gerade deswegen „um so mehr den Charakter einer unnötigen, ja anachronistischen Katastrophe, die eine in vielerlei Hinsicht gegenläufige und friedfertige Entwicklung Europas gewaltsam beendete, die politische Kultur des Kontinents zutiefst erschütterte und dadurch den ungeheuerlichen Fehlentwicklungen des ‚kurzen 20. Jahrhunderts’ den Weg bereitete“ (S. 873).

Diese Thesen runden ein knapp 900 Textseiten umfassendes Buch ab. Es beruht auf umfangreichen Recherchen in deutschen, österreichischen und italienischen Archiven sowie auf genauer Kenntnis vor allem der deutschen, österreichischen, italienischen und angloamerikanischen Forschungsliteratur. Afflerbach kann so, und das ist ein großer Vorzug seiner Arbeit, die Dreibundgeschichte nicht nur von der deutschen Politik her, sondern vor allem aus italienischer und auch aus österreichischer Perspektive schildern. Zehn Jahre hat Afflerbach, bekannt vor allem durch eine Falkenhayn-Biografie 1, an das Buch gesetzt. Seine Ergebnisse, einige bereits in Aufsatzform publiziert, tragen wesentlich zu einem Bild der internationalen Politik im Vorfeld des Ersten Weltkrieges bei, das in den letzten Jahren neu gezeichnet worden ist 2.

Methodisch geht es dabei um eine erneuerte Diplomatiegeschichte. Sie setzt die Eigenlogik der internationalen Beziehungen und die Beobachtungsbedingungen der einzelnen Akteure wieder in ihr Recht, ohne auf die Erkenntnisse der deutschen politischen Sozialgeschichte der 1970er und 1980er Jahre verzichten zu wollen. Danach ist ohne die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen innerhalb der einzelnen Staaten die internationale Geschichte nicht zu erklären, wobei jedoch die konkreten Zusammenhänge methodisch, theoretisch und praktisch oft undeutlich geblieben sind. Afflerbach konzentriert sich zwar auf die „Spitzengruppe der obersten politischen und diplomatischen Handlungsträger“ (S. 30), sagt wohl auch einmal, dass im Winter 1914/15 in Italien „wahrscheinlich […] weniger als zehn Personen“ (S. 854) über die Frage von Krieg und Frieden ausschlaggebend entschieden hätten. Doch behält er die innenpolitischen, publizistischen sozialen und wirtschaftlichen Verankerungen von Außenpolitik regelmäßig im Auge.

Inhaltlich geht es Afflerbach und anderen jüngeren Historikern darum, die Politik seit den 1890er Jahren nicht mehr als einen auf den Abgrund des Weltkrieges zulaufenden Ereignisstrom zu begreifen, sondern den jeweiligen Möglichkeitsraum auszumessen. Hierfür erweist sich der genaue Blick auf die Geschichte des Dreibundes als fruchtbar. Es zeigen sich die Höhen und Tiefen einer außenpolitischen Allianz, die von Beteiligten und Beobachtern bis 1914 keineswegs als Geschichte des Verfalls oder zunehmender Gefährdung wahrgenommen wurde. Anlässlich der anstehenden Verlängerung des Bündnisses 1912 zogen Berlin, Wien und Rom sogar unabhängig voneinander eine positive Bilanz der bisherigen Wirkung der Allianz als Instrument der europäischen Friedenssicherung. „Die Kritik am Bündnis entstand dadurch, und dies ist in Hinblick sowohl auf die angeblich universale europäische Kriegsstimmung zwischen Agadir und Sarajewo als auch auf die Julikrise 1914 von besonderem Interesse, daß die friedenserhaltenden Qualitäten des Bündnisses nicht so hoch eingeschätzt wurden, weil ein europäischer Krieg aus Gründen des Zeitgeistes für relativ unwahrscheinlich gehalten wurde.“ (S. 719)

Dabei hatte der Bund von Anfang an unter mehreren gravierenden Schwierigkeiten gelitten: der wirtschaftlichen Dynamik und politischen Unrast Deutschlands, den schwierigen innenpolitischen Bedingungen Österreich-Ungarns, das wegen der Auseinandersetzungen zwischen den beiden Reichsteilen und innerhalb des cisleithanischen Teils zwischen Tschechen und Deutschen zeitweise geradezu immobil war, der immer wieder aufwallenden Triest- und Trient-Frage sowie insgesamt der Geringschätzung, die die beiden großen Partner dem kleinen Italien gegenüber immer wieder an den Tag legten. Afflerbach zeigt, wie gut angesichts dieser schwierigen Grundbedingungen der Dreibund als Defensivallianz funktionierte, auch deswegen, weil vor allem die Italiener sich sehr für ihn engagierten. Keineswegs haben sie, wie infolge des Eintritts in den Weltkrieg auf Seiten der Entente 1915 immer wieder behauptet worden ist, das Bündnis nicht ernst genommen. Als Offensivbündnis war der Dreibund hingegen nicht einsetzbar, weil er regelmäßig an den unterschiedlichen Interessen der Partner scheiterte. Gleiches galt für die französisch-russische Allianz. „Die Bündnisse neutralisierten sich, was ihre aggressive Wirkung anging, infolge ihrer inneren Struktur“ (S. 818). Die „Ängste, Bündnisse und Begehrlichkeiten der europäischen Kabinette wurden durch die Allianzpolitik wirkungsvoll in Schach gehalten“ (S. 823). Freilich führten die Allianzen andererseits auch dazu, dass die einzelnen Mächte immer stärker aus dem Bewusstsein handelten, aus Gründen der Allianzerhaltung für die Partner mit verantwortlich zu sein. Damit wurden zwar europäische Regionalkriege immer unwahrscheinlicher, wenn sie nicht, wie die Balkankriege, ohne Beteiligung der Großmächte ausgefochten wurden. Aber der Schritt von der Krise zum großen Krieg verkleinerte sich.

Volker Ullrich hat sich in der Wochenzeitung DIE ZEIT sehr skeptisch zu den Thesen Afflerbachs und auch Kießlings geäußert. 3 Sie bedeuteten „einen Rückfall hinter die Erkenntnisse der Fischer-Kontroverse“. Bis zum Konsens der 1950er Jahre, die europäischen Mächte seien in den Krieg hineingeschlittert, sei es „nur noch ein kleiner Schritt“. Zu einer Revision des Geschichtsbildes werde es daher nicht kommen. Das ist ungenau beobachtet. Kießling wie Afflerbach legen Erklärungen für den Kriegsausbruch vor, die über die 50er Jahre hinausführen. Nur gehen sie nicht mehr in die Richtung, die die politische Sozialgeschichte der 1970er Jahre eingeschlagen hat. Vor allem in Deutschland war nach innenpolitischen Belastungen gesucht worden, die die alten Eliten in eine immer ausweglosere Lage gebracht und zu einer immer risikoreicheren Außenpolitik verleitet haben sollten. Afflerbach hingegen präsentiert – durchaus vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandels – die Eigenlogiken und Eigendynamiken der Diplomatie und die Beobachtungen der Akteure, geprägt durch ihre persönlichen, kulturellen, schichtspezifischen und nationalen Erfahrungen einerseits, durch ihre Ängste und Zukunftsvisionen anderseits. Damit geraten erneut Personen ins Blickfeld: Bethmann Hollweg, der von Afflerbach in dunklen Farben porträtiert wird, der jüngere Moltke, Franz Conrad von Hötzendorf usw. Die Julikrise trägt „den Charakter eines – katastrophal gescheiterten – Bluffs der Mittelmächte mit dem Hintergedanken, wenn die anderen Mächte sich nicht einschüchtern ließen und den europäischen Konsens brechen sollten, hätten sie sowieso schlechte Absichten für die Zukunft, dann stünde der befürchtete slawisch-germanische Endkampf tatsächlich vor der Tür und dann sein es immer noch besser, den Krieg jetzt als später herbeizuführen“ (S. 831). Das ist weit entfernt vom „Hineinschlittern“ der 1950er Jahre. Auf alternative Deutungsangebote der sozialhistorischen Kriegsursachenforschung darf man gespannt sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. Afflerbach, Holger, Falkenhayn. Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich, 2. Aufl., München 1996.
2 Vgl. auch Kießling, Friedrich, Gegen den „großen Krieg“. Entspannung in den internationalen Beziehungen 1911-1914, München 2002.
3 Ullrich, Volker, Ein Weltkrieg wieder Willen? Der Streit der Historiker über den Kriegsausbruch 1914 geht in eine neue Runde, in: DIE ZEIT 2.1.2003.

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