Titel
Theater der Identität. Das Brünner deutsche Theater der Zwischenkriegszeit


Autor(en)
Wessely, Katharina
Reihe
Reihe Theater
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
€ 32,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elisabeth Großegger, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

Bereits im 19. Jahrhundert war die Sprache zum wesentlichen Distinktionsmerkmal der „Nationen“ geworden. 1918 markiert in Zentraleuropa den „Sieg“ der aktivistischen, nationalistischen Bewegungen, die – bezogen auf Brünn/Brno – aus den deutsch- bzw. tschechisch-sprachigen Bewohnern Böhmen und Mährens beiderlei Geschlechts „Deutsche“ und „Tschechen“ werden ließen. Das Theater der Zwischenkriegszeit wurde dabei zum Instrument, um diskursiv in Debatten den eigenen Standort zu verfestigen, die jeweils eigene Identität zu verhandeln.

Katharina Wessely – ehemalige Österreich-Lektorin in Brünn und derzeit Marie-Curie-Fellow am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern – verwendet den Begriff der Identität somit nicht als Instrument der Analyse sondern als einen „mit dem Untersuchungsgegenstand Theater zusammenhängende[n] Untersuchungsgegenstand“ (S. 12) um die nationale Nebenbedeutung der Theaterdebatten freizulegen.

Ausgehend vom gesellschaftspolitischen Kontext der ČSR der Zwischenkriegszeit, der von Nationalitätenkonflikten „zwischen dem neuen Staatsvolk der TschechInnen und der mit der neuen Rolle unzufriedenen deutschen Minderheit“ (S. 14), dem Einfluss der nationalsozialistischen Bewegung im Nachbarland Deutschland, Weltwirtschaftskrise und „Volkstumskampf“ markiert war, spannt sich der Bogen zur Bedeutung des Theaters für das Selbstverständnis der Deutschen und TschechInnen als Kulturnationen.

Die Deutschen in der Ersten Tschechoslowakischen Republik weigerten sich, sich als Minderheit (23,36 Prozent Deutsche und 65,51 Prozent TschechInnen und SlowakInnen) zu begreifen, die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker hielt sie davon ab, eine effiziente Minderheitenpolitik zu betreiben. Das angespannte nationale Klima, das Angst schürte und eine permanente Bedrohung wachrief griff auch auf das Diskussionsfeld „Theater“ über. Die Theaterdiskurse bestätigen in ihrer Wirkungsmächtigkeit die (von den neueren Standardwerken zu Nationen- und Nationalismus-Forschung vertretene) Theorie der „Nation“ als diskursives Konstrukt.

Diese die Diskussionen prägenden nationalen Vorstellungen hatten sich bereits im 19. Jahrhundert herausgebildet: auf Grundlage des Artikel 19 der Dezemberverfassung von 1867 wurde Sprache zum „sichersten Kriterium der Nationalität“ in der Habsburgermonarchie. Mit dem Instrument der Volkszählung ab 1880 wurde Mehrsprachigkeit amtlich nicht anerkannt, denn die Nennung einer zweiten (Umgangs)Sprache war nicht möglich. Parallel zur Annahme der deutschen Sprache als konstituierendem Element des „Deutschtums“ propagierte die tschechische Nationalbewegung Tschechisch als „Etappenziel und Vehikel für die weitere Stärkung des Nationalbewusstseins“ (S. 75). Neben Sprache spielte für den deutschen Nationalismus vor allem Kultur eine wesentliche Rolle. So wie der Maßstab für richtiges Deutsch seinerzeit dem Theater überantwortet worden war, so sah auch die tschechische Bewegung der „nationalen Wiedergeburt“ das Theater als Mittel zur Etablierung des Tschechischen als Hochsprache: 1868 erfolgte die Grundsteinlegung für ein tschechisches Nationaltheater, dessen Aufgabe es bereits sein sollte „als reine Idee das tschechische Volk in seinen nationalen Kämpfen zu unterstützen“ (S. 89).

Auch für den deutschen Nationalismus hatte das Theater neben der aufklärerischen und bildenden Funktion durchaus eine theoretische, erzieherische und moralische Aufgabe. Ziel der nationalistischen Bewegung war die Schaffung von Teilgesellschaften, Parallelwelten ohne jeglichen Kontakt. Es gab jedoch gerade im Theater, in der Alltagserfahrung der Brünner Gesellschaft „Überschneidungen dieser beiden Teilgesellschaften“ (S. 112). Und gerade in den 1930er-Jahren waren die diskursiven Auseinandersetzungen weniger auf deutsch-tschechischer als auf nationalsozialistisch-demokratischer Ebene zu finden. Das Interesse der in den ‚Volkstumskampf‘ verwickelten deutschen Verbände am Theater blieb bis die 1930er-Jahre gering, erst die Sudetendeutsche Partei nutzte – nach Vorbild der NS-Kulturpolitik – das Theater als Mittel im Kulturkampf. Die Etablierung einer „sudetendeutschen Identität“ sollte dabei jedoch eine Abgrenzung zum antisemitischen Nationalsozialismus ermöglichen.

Brünn war in der Zwischenkriegszeit die größte „deutsche“ Stadt der ČSR. Die architektonisch an Wien orientierte Stadt verfügte über ein vielfältiges Kulturleben, das sich bereits vor dem Weltkrieg in einen tschechischen und einen deutschen Teil ausdifferenziert hatte. Im vom Architekten-Duo Fellner und Helmer 1882 erbauten Stadttheater wurde deutsch gespielt, das 1881 gegründete Národni divadlo brachte tschechische Vorstellungen. Mit Gründung der ČSR wurde die Theatersituation Brünns neu gestaltet. Das aus Steuermitteln erbaute Stadttheater musste dem Brünner Národni divadlo übergeben werden. Die Theaterkommission, die im Stadttheater ein deutschsprachiges Drei-Sparten-Theater unterhalten hatte, stand nunmehr das Kleine Schauspielhaus als Spielstätte in der Redoute zur Verfügung. Montag und Dienstag wurden die Häuser getauscht, die Deutschen nutzten diese beiden Tage im großen Haus hauptsächlich für Opernaufführungen. Mit dem Einbau einer Bühne im Festsaal des Deutschen Hauses stand auch eine Spielstätte für Operettenaufführungen zur Verfügung. Der Spielplan orientierte sich – wie bereits vor dem Krieg – stark am Vorbild Wiens.

Die allgemeine Theaterkrise in den 1920er-Jahren verursachte auch in Brünn Abonnementkündigungen, wechselnde Direktionen und Ensembles, steigende Aufführungskosten und verkürzte Spielzeiten. Während die tschechischen Theater staatlicherseits subventioniert wurden, war die deutschsprachige Theaterlandschaft der ČSR inhomogen und auf Zuwendungen der Stadtgemeinden und privater Sponsoren angewiesen, einzig das Neue Deutsche Theater in Prag war finanziell besser gestellt.

Mit der Gründung der ČSR war die Subventionspolitik in Bezug auf das deutsche und das tschechische Theater schlichtweg umgedreht worden. So wie das tschechische Theater in finanzieller Hinsicht vor 1918 behandelt worden war, so erging es dem deutschen Theater nach 1918. Die Förderung der – in der Monarchie vernachlässigten – tschechischen Bühnen war allerdings bewusste Politik, die die Schlechterstellung der deutschen Theater „gleichsam als ‚ausgleichende Ungerechtigkeit‘ in Kauf nahm“ (S. 196). Eine diesbezügliche Einsicht sucht man in den Zeitungsberichten vergeblich. Dort wurde mit dem hohen Steueraufkommen der einkommensstarken deutschen Schichten argumentiert um höhere Subventionen aus dem Steuertopf zu lukrieren.

Auch in Hinblick auf die Eintrittspreispolitik behielten beide Theater, das tschechische und das deutsche, ihre im 19. Jahrhundert ausdifferenzierten Rollen bei: das deutsche Theater verstand sich im Sinne des ehemaligen Provinz-Stadttheaters weiterhin als Bühne der bürgerlichen Repräsentation mit höheren Eintrittspreisen und das tschechische Theater sollte als „die Nation einigendes, dem gesamten Volk zur Verfügung stehendes Mittel der Selbstbestätigung“ (S. 193) zu niedrigen Eintrittspreisen besucht werden können.

In den Brünner Tageszeitungen war die Brünner Theaterfrage in der gesamten Zwischenkriegszeit ein vieldiskutiertes Thema. Der hohe Stellenwert, den das Theater für das Brünner deutsche Bürgertum hatte, macht es zum Gradmesser der Aushandlung von Identitätsdiskursen. Dabei ist zu beobachten, wie die Theaterfrage auch instrumentalisiert wurde, um andere Interessen durchzusetzen.

Theaterskandale zeigen am deutlichsten, dass das Bühnengeschehen meist nur Folie und Vorwand war die gesellschaftlichen Konflikte der jeweiligen Stadt zu artikulieren; soziale und politische Gründe standen dabei im Vordergrund. Anhand der Inszenierungen von Frank Wedekinds ‚Schloss Wetterstein‘ und Ernst Tollers ‚Hinkemann‘ wird eindrucksvoll aufgezeigt, wie der Skandal sich weniger an ästhetischen Fragen entzündete als vielmehr der Durchsetzung politischer Positionen diente. Auch die Oper war als „nationales Gut“ umkämpft; dennoch kam es auf diesem kostenintensiven Gebiet zur „übernationalen“ Zusammenarbeit: vor allem Spielplanabsprachen sollten gegenseitige Konkurrenzierungen verhindern. In den Theaterdiskursen hatte nationalistische Rhetorik vor allem in den Jahren der Theaterkrise eine großen Stellenwert: mit Bedrohungsszenarien und Kulturkampfparolen, die das Theater zum „nationalen Bollwerk“ (S. 180) erklärten wurden Ängste geschürt.

Gegen Ende der 1920er-Jahre wurden diskursiv eingängigere Töne angeschlagen, die die vielfältigsten Aufgaben des Theaters und die „national versöhnliche Wirkung“ für die Gesellschaft betonten. Brünn galt in der Zwischenkriegszeit als ganz besonders theaterfreudige Stadt, wie auch die Opferbereitschaft der Bevölkerung für den Theaterbetrieb beweist. Ab 1936 wurde das Theater zum politischen Ort und „Spielball politischer Interessen“ (S. 227). Die nationale Argumentation fand zunehmend Eingang in den Konkurrenzkampf der SchauspielerInnen und die Spaltung des Ensembles bedeutete 1937 das Ende des demokratischen Theaters in Brünn.

Katharina Wessely legt mit diesem Band eine erste umfassende Darstellung des Brünner deutschen Theaters nach 1918 vor. Daneben sucht sie auch erfolgreich den komplexen gesellschaftlichen Vielschichtigkeiten im Brünn dieser Zeit gerecht zu werden. Während zahlreiche Arbeiten zum tschechischen Theater vorliegen, bestand beim deutschen Theater lange eine Forschungslücke; die Wechselwirkungen im kulturellen und sozialen Alltag der deutschen und tschechischen BewohnerInnen Brünns wurden bislang in der Forschung weitgehend ausgeklammert und konnten hier erstmals an Einzelfällen angerissen werden. Die Arbeit von Katharina Wessely leistet damit einen wichtigen Beitrag das Forschungsdefizit für die Kultur- und Alltagsgeschichte der Ersten Republik, das jenseits der Kulturmetropole Prag für Böhmen und Mären besteht, zu verkleinern und bildet die Voraussetzung für eine zukünftige tschechisch-deutsche Theatergeschichte Brünns.

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