G. Bauer: Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche

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Titel
Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte eines Grundsatzkonflikts (1945 bis 1989)


Autor(en)
Bauer, Gisa
Reihe
Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte Reihe B: Darstellungen 53
Erschienen
Göttingen 2012: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
796 S.
Preis
€ 119,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Sarx, Evangelische Theologie, Fachgebiet Kirchengeschichte, Philipps-Universität Marburg

Es gibt Begriffe, denen eine gewisse Unschärfe innewohnt. Je nach Perspektive erleichtert oder erschwert ihr Gebrauch die Beschreibung der unter diesen Termini subsumierten Phänomene. Für die wissenschaftliche Forschung, die an exakten Definitionen und trennscharfen Klassifizierungen interessiert ist, sind diese Begriffe eine Herausforderung und erfordern methodische Vorüberlegungen sowie Begriffsklärungen. Erschwert wird die Arbeit, wenn es, wie im vorliegenden Fall, um ein konfliktbeladenes Thema der Zeitgeschichte geht, dessen Behandlung bis in die Gegenwart hinein nicht zu unterschätzende Emotionen auslöst.1

Wer oder was war die „evangelikale Bewegung“ in der „alten“ Bundesrepublik? Wie kann man sich ihr mit einem wissenschaftlichen Forschungsinteresse nähern? Diesen zwei Fragen geht Gisa Bauer in ihrer Einleitung (S. 15–44) sowie in einer phänomenologischen Annäherung an das Thema (S. 45–116) nach, um den Untersuchungsgegenstand für die folgenden 560 Seiten genauer zu umreißen. Mithilfe einer knappen begriffsgeschichtlichen Untersuchung arbeitet sie das Aufkommen des Terminus „evangelikal“ seit Mitte der 1960er-Jahre heraus. Sie weist nach, dass er zum einen als kirchenpolitisches Kampfwort in Opposition zu modernistischen Tendenzen innerhalb des westdeutschen Protestantismus und zum anderen als Bezeichnung für eine bestimmte Frömmigkeitsrichtung eingeführt wurde (S. 28–32). Bereits aus dem Untertitel wird deutlich, dass der Schwerpunkt der Untersuchung auf dem ersten Aspekt liegt. Das Frömmigkeitsprofil der Bewegung wird fast ausschließlich anhand der Konflikte herausgearbeitet, die während des Untersuchungszeitraums entstanden. Dieser Zugriff ist Stärke und Schwäche zugleich. Einerseits gelingt es Verfasserin, ein sehr weites Feld so einzugrenzen, dass es im Rahmen ihrer Habilitationsschrift beherrschbar wird. Andererseits wird das evangelikale Selbstverständnis nahezu ausnahmslos als „Protest gegen…“ interpretiert. Dies ist eine problematische Verengung, da die Bewegung mit ihrem Fokus auf Gemeinschaftspflege und Evangelisation wesentlich mehr ausmacht als das zweifellos vorhandene Abgrenzungsbestreben gegen modernistische und liberale Tendenzen innerhalb der Evangelischen Kirchen.

Den Hauptteil des zu besprechenden Buches bilden folgende drei inhaltliche Schwerpunkte: Erstens zeichnet Gisa Bauer „die Vorgeschichte des evangelikalen Konfliktes“ für die Jahre 1945 bis 1966 nach (S. 117–423). In diesem Zusammenhang beschreibt sie zum einen die drei ihrer Meinung nach wichtigsten „evangelikalen Trägergruppen“ in ihrem Verhältnis zu den jeweiligen Landeskirchen (Evangelische Gemeinschaftsbewegung, Evangelisationsbewegung, Deutsche Evangelische Allianz). Zum anderen arbeitet sie den Protest gegen den theologischen Neuansatz Rudolf Bultmanns als Beginn einer Sammlung heterogener Gruppen heraus, die ab 1966 die evangelikale (Protest-) Bewegung bildeten.

Zweitens wertet die Verfasserin die über 300 Seiten umfassende „Vorgeschichte“ aus, indem sie ihren Untersuchungsgegenstand als „neue soziale Bewegung“ definiert. Trotz der Kürze von lediglich zwölf Seiten (S. 424–436) macht dieser Abschnitt einen wesentlichen Teil der Studie aus, da diese Definition den inhaltlichen Zugriff auf das Gesamtthema präzise beschreibt. Die Verfasserin ist der Ansicht, „dass mit ‚Protest‘ […] der wesentlichste Aspekt der evangelikalen Bewegung bezeichnet wird“ (S. 672).

Der dritte inhaltliche Schwerpunkt ist eine Beschreibung des Konflikts zwischen der Evangelikalen Bewegung mit den Evangelischen Landeskirchen während der Jahre 1966 bis 1989. Ausgehend vom öffentlichkeitswirksam inszenierten Dortmunder Bekenntnistag vom 6. März 1966 mit über 20.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern (S. 437–444) interpretiert die Verfasserin die Entwicklung der Bewegung als Konfliktgeschichte. Zunächst erwähnt sie die Gründung weiterer Trägergruppen (Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ und andere, S. 513–591), anschließend arbeitet sie Arbeitsschwerpunkte der Jahre 1970 bis 1980 heraus (S. 591–637) und berichtet abschließend von einer Ausdifferenzierung des evangelikalen Lagers während des letzten Jahrzehnts des Untersuchungszeitraums (S. 637–660).

Die Studie besticht durch die Berücksichtigung umfangreichen bislang noch nicht ausgewerteten Archivmaterials. Gefördert durch die Fritz Thyssen Stiftung hat Gisa Bauer 19 Archive bereist, um die schriftliche Überlieferung zu dem von ihr angenommenen „Grundsatzkonflikt“ einzusehen. Korrespondenzen, unveröffentlichte Redemanuskripte, Sitzungsprotokolle, Aktenvermerke und weiteres in Bibliotheken nicht greifbares Material geben der Arbeit ein solides Fundament und bilden eine wichtige Ergänzung zu den ebenfalls berücksichtigten themenrelevanten Veröffentlichungen. Positiv hervorzuheben ist die gut überlegte und differenziert vollzogene Einordnung des Themas in den größeren Kontext der westdeutschen Protestantismusgeschichte mithilfe des von Dieter Rucht geprägten Begriffs der „neuen sozialen Bewegungen“ (S. 672f.).2

Problematisch erscheint, dass die Autorin ihrer im Titel angekündigten Zuspitzung des Themas nicht konsequent treu bleibt. Ihr Ziel ist nicht nur, den „Grundsatzkonflikt“ zwischen Evangelikaler Bewegung und den Evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland nachzuzeichnen. Darüber hinaus möchte sie zu der Frage vordringen, „was eigentlich unter ‚evangelikal‘ verstanden werden muss“ (S. 17; ähnlich S. 436 und S. 672). Angesichts der Massivität des evangelikalen Protests besitzt es eine gewisse Plausibilität, hinter diesem Indizien für eine „Identitätssuche“ (S. 672) der Bewegung auszumachen. Unterbelichtet bleiben in diesem Zusammenhang jedoch andere Traditionsströme, die jenseits der Protesthaltung zweifellos weiterexistierten und mindestens ebenso stark auf evangelikale Identitätsbildung einwirkten.

Die an der Evangelischen Hochschule Tabor angesiedelte Forschungsstelle „Neupietismus“ hat in den vergangenen Jahren wichtige Aspekte diesbezüglich herausgearbeitet. Sie hat zu Recht auf die dem 19. Jahrhundert entstammende Heiligungsbewegung verwiesen, die bleibenden Einfluss auf die wichtigsten evangelikalen Trägergruppen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein besaß und nicht allein im Konflikt mit den Evangelischen Landeskirchen Ausdruck gewann. Gisa Bauer erwähnt dies verschiedentlich, würdigt es aber nicht in ausreichendem Maße. Hier wären ergänzende Studien wünschenswert, die die Evangelikale Bewegung nicht allein von ihrem Abgrenzungsbedürfnis her untersuchen, sondern auch die anderen Themen von internen Veranstaltungen und Schulungsprogrammen stärker in den Blick nehmen. Die nur knapp in ihrem Verhältnis zu den Evangelischen Landeskirchen behandelten Missions- und Bibelschulen (S. 360–389) – um nur ein Beispiel zu nennen – organisierten Kurzzeiteinsätze und Konferenzen, an denen tausende Jugendliche und junge Erwachsene teilnahmen, um anschließend in ihren Heimatgemeinden als Multiplikatoren evangelikalen Gedankenguts zu fungieren. Die Auswirkungen, die diese Form des Trainings für die Gesamtentwicklung der Evangelikalen Bewegung hatte, sind bislang kaum erforscht worden, dürften aber groß sein. Auch eine Untersuchung des Liedguts der evangelikalen Trägergruppen könnte weiterführenden Aufschluss über das Frömmigkeitsprofil dieser Bewegung geben.

Die zu besprechende Studie darf nicht als eine Gesamtdarstellung der Geschichte der Evangelikalen Bewegung für die Jahre 1945 bis 1989 missverstanden werden. Dafür ist sie in ihrem Fokus zu einseitig, in den Worten der Autorin: „Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, eine kirchenhistorische Darstellung einer zeitgeschichtlichen, innerprotestantischen Auseinandersetzung zu bieten, der sich die evangelische Kirche seit 1945 ausgesetzt sah und der sie immer noch ausgesetzt ist.“ (S. 16) Diese Auseinandersetzung – nicht mehr und nicht weniger – wird auf profunder Quellenbasis rekonstruiert, in die entsprechenden historischen Kontexte eingebettet und solide analysiert. Damit hat Gisa Bauer wichtige Schneisen in ein bislang auf wissenschaftlichem Niveau wenig bearbeitetes Thema geschlagen.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. „Fragwürdige journalistische Mittel“. Erklärung des Rates der EKD zur Diffamierung evangelikaler Christen vom 05. September 2009, in: <http://www.ekd.de/presse/pm199_2009_erklaerung_rat_evangelikale.html> (26.08.2013).
2 Dieter Rucht, Die Ereignisse von 1968 als soziale Bewegung. Methodologische Überlegungen und einige empirische Befunde, in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968. Vom Ereignis zum Mythos, Frankfurt am Main 2008, S. 153–171.

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