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Titel
Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit


Autor(en)
Mulsow, Martin
Erschienen
Berlin 2012: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
556 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Papenheim, Düsseldorf

Das Schreiben von Rezensionen ist bisweilen eine ziemlich langweilige Tätigkeit. In diesem Falle aber, so sei gleich vorweggeschickt, hat der Rezensent Leselust und Wissensdurst bei der Lektüre verspürt. Martin Mulsows Werk über das „Prekäre Wissen“ ist nicht nur ein Meilenstein der Frühneuzeitforschung, sondern auch ein Buch, das man mit Begeisterung liest, ja sogar mehrmals.

Martin Mulsow leistet nicht weniger, als die schon etwas angestaubte Forschung über klandestine Literatur, verfolgte Philosophen und Grenzgänger der Orthodoxie und des guten Geschmacks auf ein neues theoretisches Niveau zu heben und ihr damit auch zu neuen Ergebnissen zu verhelfen. Während Robert Darntons bahnbrechende Studien zur Entstehungsgeschichte der Encyclopédie und zum „literarischen Untergrund“, die seit dem Ende der 1960er-Jahre erschienen, ganz der damals herrschenden Sozialgeschichte verpflichtet waren, reiht sich Mulsow nicht in die Reihe seiner zahlreichen Epigonen ein, sondern er geht vom „Wissen“ selbst aus. „Wissen“ ist für ihn „begründete Überzeugung“ und „organisierte und mit Erfahrungskontext getränkte Information“ (S. 12). Dieser sehr weit gefasste, von Max Weber und Alfred Schütz beeinflusste Wissens-Begriff umfasst sowohl das subjektive Wissen der Akteure als auch das institutionalisierte, gesellschaftliche Wissen. Wahrheit und Falschheit sind hingegen keine Kriterien, da auch falsches Wissen bekanntlich handlungsleitend und wirkmächtig ist (S. 13). Wissen kann nach Mulsow unterschiedlich stabil sein, was abhängig ist von seinem Status (nicht von seinem objektiven Inhalt), das heißt von seiner Beziehung zu anderen Wissensinhalten, vom „Wissensträger“ im materiellen Sinne und vom gesellschaftlichen Status derer, die das Wissen vertreten. Wissen kann also auch „prekär“, flüchtig, marginal und gefährdet sein. Es kann verschwinden, gefährlich und verwirrend sein. „Prekäres Wissen“ wird nicht behauptet, sondern wird verkleidet, wird als Möglichkeit oder nur indirekt mitgeteilt.

Wie sah die Sicherung des prekären Wissens aus? Es gedieh in Nischen, etwa in Fußnoten und Glossen angeblich orthodoxer Werke. Manuskripte wurden von Hand zu Hand weitergegeben, oder man verschob die Veröffentlichung auf die Zeit nach dem Ableben. Nachgeborene retteten das Wissen durch Nachdrucke. Unschuldige Bibliographien und Namenslisten konnten einen Sprengsatz bilden. Schließlich konnte gefährliches Wissen auch in Bildern, vorzugsweise in Emblemen versteckt werden.

Die Träger dieses „prekären Wissens“ waren nach Mulsow nicht identisch mit Personenkreisen, sondern bestimmten sich von den Rollen her, die einzelne Autoren situativ einnahmen. So waren zum Beispiel Hermann Samuel Reimarus und Isaac Newton anerkannte öffentliche Gelehrte, zugleich aber auch heimlich Autoren religionskritischer bzw. alchemistischer Werke. Mulsow sieht geradezu das „prekäre Wissen“ als zwingende Konsequenz der „Fragilität“ der etablierten Wissenskulturen, denn das herrschende Wissen werde vor allem durch „implizite Faktoren, wie Ambivalenzen und Faszinationen […] anfällig gemacht“ (S. 34). Aber auch neue Erfahrungen wie Reisen und neues Material setzten das Wissen der Gefahr aus. Mulsow lehnt – darin unterscheidet er sich deutlich von Robert Darnton – deshalb jede „Sozialromantik“ der „Außenseiter“, der „Radikalen“, der „Freidenker“ und der „Dissidenten“ ab. „Andernfalls läuft man Gefahr, isolierte Individuen oder kleine Gruppen, die aus ganz verschiedenen Gründen ins Abseits oder in den Protest geraten sind, zu einer Großgruppe zu stilisieren und eine Homogenität zu suggerieren, die es faktisch nicht gegeben hat.“ (S. 33f.)

Jonathan Israels Unterscheidung von radikaler und moderater Aufklärung will Mulsow deshalb auch durch eine komplexere Sichtweise ersetzen, in der sich etablierte Positionen und Wissensprekariat weniger durch ihre Inhalte unterschieden, als durch ihren jeweiligen Habitus – hier „soziale und intellektuelle Reproduktion“, „Erfolg bei Reformen“, man könnte sagen, pragmatische Vorsicht – dort hingegen „affekt- und vorurteilslose Gelassenheit“ und „Pluralitätsbereitschaft“ (S. 166f.). In Letzterer sieht Mulsow geradezu das Leitkriterium des „Wissensprekariats“. Sie ermöglichte einen Außenstandpunkt: Verhärtete Alternativen wurden dadurch versöhnlich überboten, dass man die gemeinsamen Grundlagen des Diskurses in Zweifel zog, etwa wenn Konfessionsdebatten durch Zweifel am Offenbarungsglauben der Boden unter den Füßen weggezogen wurde (S. 144f.). Man konnte sich auch des Standpunktes enthalten: Der Indifferentismus des frühen 18. Jahrhunderts, der bisher kaum Beachtung gefunden habe, gewinnt folgerichtig in Mulsows Ideengeschichte einen ganz neuen Stellenwert. „Pluralitätsbereitschaft“ kannte schließlich das Spiel mit verteilten Rollen, etwa der des Theologen oder des Philosophen, des Bürgers oder des Privatmannes, des Juristen oder des Literaten, und sie rechtfertigte die nützliche Lüge. „Die Wahrheit zeigt viele Gesichter“ (S. 195) schreibt Mulsow, einen Buchtitel von Markus Völkel aufgreifend. Diese „ausgehaltene Pluralisierung“ geriet in der Zeit nach Rousseau in Verruf (S. 78), aber – so kann man ergänzen –: Gehört sie nicht auch noch zu den Schreibtechniken, die die Krise des Ancien Régime bis zur Revolution vorantrieben?

Die neue Ideengeschichte, die uns hier facettenreich präsentiert wird, ist immer eingebettet in kulturelle und sozialgeschichtliche Kontexte. Nicht die Auseinandersetzung von Paradigmen, sondern die handgreiflichen Konkurrenzen von Personen, von „sozialen und intellektuellen Praktiken“ bilden den Stoff dieser Geschichte. Es ist eine sehr komplexe Geschichte, die Mulsow hier im Anschluss an Ian Hunter gegen die Cambridge School schreibt. Sie erweitert die Kategorie des „Wissens“ über die Semantik hinaus: es geht auch um Gefühle, um Habitus, um Lebensart. Zu den schönsten Begriffen in diesem Buch gehört deshalb der der „Faszinationsgemeinschaft“ (S. 317). Zahlreiche Gelehrte der Frühen Neuzeit waren fasziniert vom Alten Orient, von der Magie, aber auch von Münzen und anderen Artefakten. Sie blickten auf diese fremden Welten mit geheimer Bewunderung und Abscheu zugleich, was dem Sujet eine große Triebkraft verlieh. Dies erklärt auch, warum es Themenbereiche gab und gibt, die immer wieder bearbeitet wurden, obwohl sich ihr epistemologischer Stellenwert völlig änderte: Hermetismus, Magie und Alchemie wurden so von anerkannten Disziplinen zu randständigen Phänomenen, aber die Faszination blieb (S. 318).

Martin Mulsows Werk ist sichtlich von einem starken Gegenwartsbezug gekennzeichnet. Und das ist auch gut so. Der ständige Kampf um die „Freiheit“ der Artikulation und die „Sicherheit“ des Wissens und der Existenz der Gelehrten bilden die Matrix dieser Ideengeschichte. An die Stelle einer linearen Geschichte von Fortschritt und Modernisierung tritt die eines Vor-und-Zurück. Der Fortschritt stützt sich dabei häufig auf Randständiges, Abstruses, Flüchtiges und schnell Vergessenes.

Das Buch ist überreich an hochinteressanten Fallgeschichten, die hier nicht wiedergegeben werden können. Nicht zuletzt kann man aber auch lernen, wie eklektisch Theorien unterschiedlichster Provenienz nutzbringend für die historische Forschung angewandt werden können. Übertragungsmöglichkeiten in andere Forschungsfelder als die der Frühen Neuzeit bieten sich förmlich an. Das sichert Mulsows Werk einen wichtigen Stellenwert über die engeren Fachgrenzen hinaus.

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