Cover
Titel
Balthus Erinnerungen. aufgezeichnet von Alain Vircondelet


Herausgeber
Vircondelet, Alain
Erschienen
Berlin 2002: Ullstein Verlag
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eckhard Fürlus, Berlin

„Worte in Moll“ – Zu den „Erinnerungen“ des Malers Balthus

Sein eigentlicher Name lautet mit vorgeschaltetem Adelsprädikat Comte Balthazar (oder Baltusz) Klossowski de Rola; besser kennt man ihn unter seinem Künstlernamen Balthus, unter dem in diesem Jahr seine „Erinnerungen“ in der deutschen Übersetzung von Claudia Steinitz erschienen sind.

„Erinnerungen“ – bei näherem Hinsehen entpuppt sich dieser Titel als Etikettenschwindel, geht es doch vordergründig in dem hier vorliegenden Buch nicht um Erinnerungen des Künstlers an tempi passati. In 107 Kapiteln, viele davon kaum länger als eine Seite, denen ein Text von Paul Lombard, ein Vorwort des Herausgebers Alain Vircondelet und ein „Hinweis für den Leser“ – von Alain Vircondelet – vorangestellt sind, entwickelt Balthus seine Aphorismen, ganz persönliche Gedankensplitter zu Kunst und Künstlern vornehmlich des 20. Jahrhunderts, bisweilen aber auch zu älteren Meistern, denjenigen nämlich, die ihn, den Autodidakten Balthus, maßgeblich beeinflusst haben, ferner zur Musik, zur Philosophie und immer wieder auch zur Religion. Diese Gedankensplitter hat Balthus dem Herausgeber des Buches im Verlauf zahlreicher Begegnungen diktiert und ihm damit die Aufgabe überlassen, seine – des Künstlers – Gedanken „in eine möglichst getreue Form“ 1 zu überführen. Dass Vircondelet diese Aufgabe vielleicht ein wenig zu wörtlich genommen hat, ist eine Vermutung, die sich schon während der Lektüre der ersten Kapitel dieses Buches einstellt.

Erste Erfolge konnte Balthus mit seinen Bildern zu Beginn der dreißiger Jahre verbuchen. André Malraux berief ihn 1961 als Direktor der Académie de France an die Villa Medici in Rom. Dennoch wurde Balthus von der offiziellen Kunstgeschichtsschreibung jahrelang nur am Rande wahrgenommen. 2 Nun preist ihn der Klappentext des Buches als Jahrhundertgenie und reiht ihn unter die größten Maler des 20. Jahrhunderts. Man rechnet ihm als Verdienst an, sich dem Kubismus, Surrealismus und anderen modernen Kunstströmungen entzogen zu haben und einer figurativen Malerei treu geblieben zu sein. Zu seinen Freunden und Bewunderern gehörten und gehören Pablo Picasso, Georges Braque, Pierre Bonnard, Maurice Denis, Alberto Giacometti, Georges Rouault, Antonin Artaud, Federico Fellini, Richard Gere, Bono Vox und David Bowie. Im März 2000 notierte das Magazin der Süddeutschen Zeitung anlässlich des Geburtstags von Monsieur Balthus, dass die Preise für seine Gemälde heute „jenseits von 10 Millionen Mark“ 3 liegen; eineinhalb Jahre später, im September 2001, ehrte der Palazzo Grassi in Venedig den Maler mit einer Retrospektiv-Ausstellung, in der rund 250 Werke des Künstlers zu sehen waren.

Als Sohn eines polnischstämmigen Künstlerpaares aus Breslau wurde Balthus am 29. Februar 1908 in Paris geboren und starb am 18. Februar 2001 im Alter von 91 Jahren. Seine Jugend verbrachte er in der Schweiz und in Berlin. Balthus wird nicht müde zu betonen, nie etwas anderes gewollt zu haben als zu malen. Bereits als Kind im Alter von 13 Jahren wurde Balthus von Rainer Maria Rilke – damals ein Freund seiner Mutter Baladine Klossowska – zur Malerei ermutigt. Von Rilke stammt das Vorwort zu einem Buch mit dem Titel „Mitsou“; es enthält vierzig Tuschzeichnungen, die Balthus 1921 zu einer entlaufenen Angorakatze fertigte. Zu Balthus’ Werk gehören etwa 350 Gemälde und 1600 Zeichnungen, Bildnisse von jungen Mädchen, Akte, Interieurs, Katzen und Landschaften, die in Komposition und Durchführung auf das Vorbild und Studium alter Meister zurückgehen, aber auch surrealistische und neusachliche Elemente aufweisen. Seine Darstellungen junger Mädchen haben ihm lange Zeit den Vorwurf der Pornografie eingebracht. Balthus deutet die von ihm dargestellten Mädchen als Engel. „Wenn ich von Engeln spreche, von der verwirrenden Anmut einiger meiner Mädchen, darf man auch den strahlendsten Engel nicht vergessen, gefallen und herrlich, Luzifer!“ (S. 224).

In einem kurzen „Der Maler im Spiegel“ überschriebenen kurzen Einleitungstext, verfasst am Tag der Beisetzung des Malers Balthus, nimmt Paul Lombard, zu dem man in diesem Buch keine näheren Angaben findet, Bezug auf die Malerei des vergangenen Jahrhunderts. Lombard versteigt sich zu der These, „dass das 20. Jahrhundert, dessen Ruhm so viele Schulen begründeten, von zwei Einzelgängern dominiert wurde: Balthus und Picasso“ (S. 6). Diese These versucht Lombard zu untermauern, indem er Balthus und Picasso als zwei Antipoden beschreibt. Picasso habe den Menschen eine neue Vision der Welt aufgezwungen, heißt es pejorativ bei Lombard, „er zerstörte und erschuf neu, was der Schöpfer uns gegeben hatte, verwandelte seinen Namen in den Namen einer Gattung“ (S. 6). Balthus hingegen, „Liebhaber der Reinheit und der Ambiguität, besiegte den äußeren Schein der Dinge und ging darüber hinaus. Nach Masaccio und Piero della Francesca – den er besonders liebte – wurde er zum Maler der Seele“ (S. 6). – Balthus und Picasso sind sich häufiger begegnet; dennoch erstaunt, wie oft Balthus in diesem Buch mit Picasso in Zusammenhang gebracht wird resp. sich selbst mit Picasso in Zusammenhang bringt. Resümierend schreibt Paul Lombard in seiner Einleitung, Balthus sei kein Regisseur gewesen, sondern ein Kunsthandwerker, allerdings einer, „der die Stille zur Ader lässt, ein Dichter, der sich über die Schicklichkeit hinwegsetzt. Er verwandelte die Erotik in einen Choral, zur Enttäuschung der Voyeure und Schaulustigen“ (S. 9)

Ähnlich unangenehm wie diese metaphorisch aufgeladenen Sätze berührt während der Lektüre auch der sakrale Impetus, der, kombiniert mit des Künstlers Kollegenschelte, das gesamte Buch generalbassmäßig durchzieht. Balthus bezeichnet sich selbst als einen tief religiösen Katholiken. Die Malerei versteht er als religiösen Akt des Glaubens. Malerei bedeutet für ihn eine Annäherung an das Göttliche. So liest man auf Seite 19: „Ich bestehe sehr auf dieser Notwendigkeit des Gebets. Malen, wie man betet. Da es meist Schwachköpfe sind, die produzieren, was man zeitgenössische Kunst nennt, Künstler, die nichts von Malerei verstehen, bin ich nicht sicher, ob man diesem Gedanken aufmerksam folgen oder mich verstehen wird. Unwichtig. Die Malerei genügt sich selbst.“, oder es heißt auf einer Abbildung nach Seite 172: „‚Malen heißt Beten’ pflegte Balthus zu sagen (1999)“.

Die „Erinnerungen“, das hält Alain Vircondelet fest, sind „das Ergebnis einer zweijährigen Arbeit, in deren Verlauf Balthus sich öffnete, wie er es in seinem Leben nur selten getan hatte“ (S. 11). Wer allerdings glaubt, bei der Lektüre des Buches auf Schilderungen von Tatsachen zu stoßen, sieht sich bald enttäuscht. Von sich und von seinem Leben zu erzählen ist nicht Intention des Malers. Balthus hält das für unnötig und fast anmaßend. „Ich habe nicht das Schweigen über mein Leben gepflegt, das im übrigen arm an romantischen und pikanten Ereignissen ist, ich habe nicht so beharrlich jedes Fernsehinterview in meinem Atelier abgelehnt, um mich jetzt in einem Erguss von Worten hinzugeben, der mir sehr unschicklich erschiene“ (S. 206). Balthus will seine Bilder für sich sprechen lassen. „Ich dachte oft, die beste Eigenschaft, die größte Tugend bestehe darin zu schweigen, Stille einkehren zu lassen. Ich habe meine Bilder niemals interpretiert und zu verstehen versucht. Müssen sie denn unbedingt etwas bedeuten?“ (S. 34).

Das von den Surrealisten propagierte und derzeit wieder diskutierte Verfahren der „écriture automatique“ 4 hält Balthus für ein zur Kunst erhobenes Spielchen (S. 87). Balthus will nicht das Unbewusste, das Traumhafte sichtbar machen; er hegt großes Misstrauen gegenüber der Psychoanalyse. Balthus wendet sich explizit gegen die Selbstdarstellung des Künstlers und die Projektion von Phantasien; ihm geht es um die Visualisierung des Unsichtbaren „durch das Material, die Farbe, das Licht auf ihrer feinen, zarten Oberfläche, die Transparenz“ (S. 108). Es überrascht, dass Balthus dem Mythos vom Schöpfertum des Künstlers eine Absage erteilt: „Ich höre von der Demokratisierung der Kunst sprechen und mithin von ihrer Banalisierung, ich werde konfrontiert mit der Ignoranz des Künstlers, der die Anmaßung besitzt, sich für einen Schöpfer zu halten, das heißt für Gott selbst, wenn ich es recht verstehe ...“ (S. 120) .

„Picasso, der gegen Ende seines Lebens Dutzende Bilder pro Woche malte, bekämpfte damit gewiss seine Ängste, doch das ist ein anderes Problem. Man sollte zur Langsamkeit Giottos, zur Genauigkeit Masaccios, zur Präzision Poussins zurückkehren!“ (S. 89) Balthus glaubt, dass die Welt der Malerei „von den zeitgenössischen Malern vollkommen verraten wurde. Concept-Art, Abstraktion, revolutionäre Ästhetik und Ideologien haben das Gesicht, die Landschaft geopfert, zeigen sie wie reaktionären und fortan nutzlosen Plunder. Mit einem Schlag ist die Jahrtausende alte Beziehung der Maler zum Göttlichen verschwunden.“ (S. 90) Auch seine eigenen Bilder hält Balthus für unvollendet. (S. 215) Die moderne Kunst, so Balthus, habe die Malerei bis zu ihren Anfängen ausradiert. Die direkte Verbindung der Malerei zum Geistigen, zum Heiligen – das alles sei hinweggefegt worden. „Man kehrt zur Weisheit der italienischen Freskomaler zurück, zu ihrer Ausdauer und Geduld, zu ihrer Liebe zum Handwerk und zu ihrer Gewissheit, durch das Malen zur Schönheit zu gelangen.“ (S. 91)

Offenbar ist es der Tatsache geschuldet, die oben erwähnte „möglichst getreue Form“ beizubehalten, dass man bei der Lektüre des Buches jegliche Dramaturgie innerhalb der Textgestaltung vermisst. Oft gehen die Kapitel ineinander über und wirken in ihrer Abfolge wie auch bezüglich ihrer Inhalte völlig arbiträr. Die 23 meist farbigen und teils ganzseitigen Abbildungen im Buch zeigen den Künstler im Kreise seiner Familie, sein Chalet in Rossinière, seine Katzen und seinen Dalmatiner. Henri Cartier-Bresson hat den Maler Balthus auf einem Foto im Halbprofil beim Rauchen porträtiert. Lediglich auf einer Fotografie ist eine Arbeit – eine ländliche Impression – mit dem davor meditierenden Künstler zu sehen.

„Es kehrt nicht um, wer an seinen STERN gebunden ist.“ 5 hat die Künstlerin Hannah Höch 1922 in ihr Tagebuch notiert. Ähnlich heißt es bei Balthus: „Man muß dem Stern folgen, der einen führt, und so zur Erscheinung gelangen.“ (S. 90) Es sind die Ausführungen des Malers Balthus über seine ganz persönliche, auf Einsamkeit, Stille, Licht und Langsamkeit gegründete Arbeitsweise und seine schon fast exotisch anmutende Definition der Malerei als Suche nach dem Wunderbaren (S. 90), als „einem persönlichen, anspruchsvollen und grausamen Abenteuer, das in unauslöschlicher Schönheit endet. Mystik par excellence.“ (215), die seine „Erinnerungen“ dennoch zu einer interessanten und kurzweiligen Lektüre machen. „Der Maler ist nur ein demütiger Fährmann von Bildern, ein gehorsamer Handwerker, der sie mehr oder weniger gut festzuhalten vermag. Das ist seine Aufgabe. Darin liegt seine Vollendung.“ (S. 259f.)

Anmerkungen:
1 Der Herausgeber verweist in seinen „Anmerkungen“ darauf, Balthus hätte sich gewünscht, dass seine Erinnerungen zu Lebzeiten erscheinen. Dieser Umstand überrascht umso mehr, als Balthus sich Journalisten gegenüber Fragen nach Bildaussagen und -inhalten sowie seinen Intentionen von vornherein verbat oder ihnen in Interviews konsequent ausgewichen ist. – Einen wunderlichen alten Herrn hat Rose-Maria Gropp den Maler Balthus genannt, als sie ihn im Grand Chalet in Rossinière im schweizerischen Vallée de la Gruyère in der Nähe von Gstaad besuchen durfte und ihr ein Interview mit dem Künstler gewährt wurde. Doch wie für viele andere Journalisten waren auch für sie Fragen nach den Bildinhalten von Anfang an tabu. Nur einmal erlaubt sie sich die Frage, ob er, Balthus, „nicht immer nur ein einziges Bild gemalt habe“, und löst damit bei ihrem Gegenüber Verständnislosigkeit aus. Vgl. Rose-Maria Gropp: Denkmal für den Erschrecker : warum man, zu Besuch in Rossinière, den Maler Balthus nicht nach seinen Bilder(n) fragen soll. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 133. Frankfurt a.M., 12.6.1999. - S. IV.
2 Matthias Frehner schreibt in einem Werkstattgespräch in der Neuen Zürcher Zeitung vom 3. Mai 1999, „dass die Schweizer Museen und Privatsammler Balthus verpasst haben“. Neue Zürcher Zeitung Internationale Ausgabe Nr. 100. Zürich, 3.5.1999, S. 35; In dem in Anm. 1 erwähnten Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung konstatiert Rose-Maria Gropp, dass kein deutsches Museum einen Balthus besitzt, Gropp, a. a. O.
3 Johannes Willms: „‚Ich bin der Modernste von allen’: im hohen Alter von 92 sieht Balthus sich und die Welt noch immer durch und durch realistisch: Keiner malt besser. Sagt er.“ Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 9. München, 3.3.2000, S. 37.
4 Vgl. Isabelle Graw: Wie von selbst. Über die Aktualität der „écriture automatique“; in: Texte zur Kunst, 12. Jg., Heft 48 (2002), S. 40-44.
5 Hannah Höch - Eine Lebenscollage. Archiv-Edition Band II 1921-1945 / Berlinische Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst, Photographie und Architektur (Hgg.). Ostfildern 1995.

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