H. James (Hg.): Interwar Depression

Titel
The Interwar Depression in an International Context.


Herausgeber
James, Harold
Reihe
Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 51
Erschienen
München 2002: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
€ 44.80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
PD Dr. Christian Kleinschmidt, Ruhr-Universität Bochum Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

Vor nunmehr fast einem viertel Jahrhundert löste Knut Borchardt mit seinem Aufsatz über „Zwangslagen und Handlungsspielräume“ 1 in der Weltwirtschaftskrise eine heftige Diskussion unter Wirtschaftshistorikern aus, die als „Borchardt-Kontroverse“ in die Historiographie eingegangen ist und bis heute die Diskussion über die wirtschaftliche Entwicklung der Weimarer Republik prägt. Anlässlich des 70. Geburtstags von Knut Borchardt veranstaltete das Historische Kolleg im Jahr 1999 ein Kolloquium, welches sich mit der Weltwirtschaftskrise im internationalen Kontext auseinandersetzte. Während die Borchardt-Kontroverse in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren in Zeiten keynesianischer Wirtschaftspolitik noch vornehmlich um die Frage zu hoher Löhne und der wirtschaftspolitischen Handlungsspielräume in der Weimarer Republik kreiste, rücken im Zeitalter der Globalisierung Fragen der weltwirtschaftlichen Entwicklung, des internationalen Handels, des Protektionismus und Überlegungen weltweiter Handlungsalternativen in den Vordergrund. Dementsprechend äußern sich in dem vorliegenden Sammelband renommierte Wirtschaftshistoriker und Wirtschaftshistorikerinnen in elf Beiträgen zu Themen der Weltwirtschaftskrise zwischen Ende der 1920er und Ende der 1930er Jahre im internationalen Kontext.

Die Beiträge sind nicht weiter untergliedert. Es kristallisieren sich allerdings Themenschwerpunkte wie Protektionismus, die Rolle der USA als wirtschaftliche Führungsmacht sowie Institutionen und Organisationen als Problemlöser bzw. –verstärker in der Weltwirtschaftskrise heraus, die eine deutliche Schwerpunktverlagerung gegenüber der „älteren“ Borchardt-Kontroverse erkennen lassen. Ein Bindeglied, auch mit Blick auf die deutsche Entwicklung, ergibt sich u.a. hinsichtlich personeller Kontinuitäten der Autoren, wobei insbesondere Christoph Buchheim mit Blick auf die deutsche Exportindustrie noch einmal die Frage von Löhnen und Kosten aufgreift. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass deutsche Exportgüter in der Weimarer Republik international durchaus wettbewerbsfähig und die variablen Kosten nicht höher waren als vor dem Ersten Weltkrieg, stellt Buchheim die Frage, warum dann die Profite so viel niedriger lagen als in der Vorkriegszeit. Als Hauptgrund macht er dann eben nicht die Lohnhöhe, sondern den Nachfragerückgang und steigende fixe Kosten als Konsequenz der Unterauslastung der deutschen Industrie aus. Und das lag vor allem am internationalen Protektionismus, der schließlich auch die deutsche Exportwirtschaft „aus dem Tritt “ brachte.

Forrest Capie verweist in seinem Beitrag vor allem auf den Handelsprotektionismus der USA und Großbritanniens, denen er für die 1920er und frühen 30er Jahre eine Hauptschuld an dieser Entwicklung gibt. Die USA betrieben mit dem Fordney-McCumber Tarif von 1922 und dem Smoot-Hawley-Tarif von 1930 eine Politik des „America first“, die schließlich auch für andere Staaten eine protektionistische Signalwirkung hatten. Ähnlich verhielt sich Großbritannien seit der Rezession der Jahre 1920/21 - getreu dem Motto „Britain first, Empire second, foreigners last“ – und das nach acht Jahrzehnten des Freihandels. Wie sich dann die Wirtschaftspolitik und die wirtschaftliche Entwicklung der USA nach dem Crash am amerikanischen Aktienmarkt weltweit und bis in die entferntesten Winkel Asiens ausbreitete, zeigt Dietmar Rothermund am Beispiel der Bauern in British Indien, Burma, Indonesien, China, Indochina, den Philippinen und Japan. Denn auch wenn der Crash am amerikanischen Aktienmarkt die Bauern nicht direkt berührte, so waren sie doch über fallende Preise, etwa bei Baumwolle und Weizen, und über Kreditrestriktionen davon betroffen.

Vor einer alleinigen Verantwortungszuschreibung der Krisenursachen in Richtung USA warnt jedoch Albrecht Ritschl in seinem Beitrag über die internationalen Kapitalbewegungen 2. Anhand des Beispiels der deutschen Maschinenbauindustrie kann er zeigen, dass die internationale Rezession nicht in den USA, sondern bereits 1927 mit dem Rückgang der Inlandsaufträge einsetzte. Dagegen konnte man noch im Jahr 1928 in den USA und Großbritannien ein gutes Investitionsklima und wachsende Dividenden beobachten. Vor 1929 gab es dort keine Signale einer Depression. Ritschl sieht hier also autonome deutsche Ursachen einer Depression und bestätigt damit nach eigenen Aussagen weitgehend die Forschungsergebnisse Peter Temins aus dem Jahr 1971 3.

Nicht nur gegen eine Überbetonung der Verantwortung der Rolle der USA, sondern auch der ausschließlich negativen Bewertung protektionistischer Politik wendet sich Salomos Salomou in seinem Beitrag über den Handelsprotektionismus der dreißiger Jahre. Seiner Meinung nach wäre es sogar ahistorisch, zu behaupten, Staaten oder Regionen müssten aus der Weltwirtschaftskrise dahingehend lernen, in jedem Falle Protektionismus zu vermeiden. Ein Urteil darüber falle von Staat zu Staat anders aus. Je nach den spezifisch historischen Umständen seien handelsprotektionistische Maßnahmen durchaus eine angemessene nationale Antwort auf externe Schocks. Während allerdings die deutsche Entwicklung Ausdruck eines kriegsvorbereitenden Ziels der Autarkiepolitik gewesen sei, brachte der britische Handelsprotektionismus ab 1932 eine stimulierende Wirkung für die Wirtschaftsentwicklung nicht nur durch bilaterale Übereinkünfte, sondern schließlich auch im Rahmen umfangreicherer Wirtschaftsblöcke. Diese unterschiedlichen Einschätzungen über die Rolle und Bedeutung des Protektionismus könnten in der Tat Zündstoff für eine neue Debatte über die Weltwirtschaftskrise liefern.

Dass es nicht erst in der Folge der Weltwirtschaftskrise im Sinne historischer Lernprozesse entsprechende Reaktionen auf die Krise gab, zeigen diejenigen Beiträge des Sammelbandes, die sich mit Krisenbewältigungsstrategien und der Rolle nationaler und internationaler Organisationen und Institutionen auseinandersetzen. Harold James zeigt am Beispiel der Bank for International Settlements das vergebliche Bemühen, sich von einer Reparationenbank mit beschränktem Aufgabenbereich zu einer Welt-Zentral-Bank mit international kooperativen Aufgaben zu entwickeln. Am Ende stand eine Institution, die sich nicht mit der Lösung praktischer Wirtschaftsfragen, sondern nur noch mit der ökonomischen Analyse beschäftigte. Monika Rosengarten und Carl-Ludwig Holtfrerich analysieren die Politik der Internationalen Handelskammer, die sich für einen Abbau von Handelsbarrieren, für Freihandel, für die Expansion von Kapitalexporten etwa aus den USA und für die Schaffung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einsetze. Der Einfluss dieser Politik ist laut Rosengarten/Holtfrerich nur schwer messbar, er zeigte sich beispielsweise beim Hoover-Moratorium, doch auch im Falle der Internationalen Handelskammer fielen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Die Regierungen zu Beginn der 30er Jahre setzten in erster Linie auf kurzfristige nationale Interessen, die ein Abgleiten in die Weltwirtschaftskrise nicht nur nicht verhinderten, sondern zudem noch verstärkten. Am Beispiel der Londoner Weltwirtschaftskonferenz des Jahres 1933 zeigt Patricia Clavin den Mangel an Willen zur politischen und wirtschaftlichen Kooperation in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Entgegen älteren Forschungsergebnissen von Charles Kindleberger sieht sie darin nicht in erster Linie Versäumnisse der US-Führungspolitik, sondern vor allem der europäischen Staaten. Versäumnisse, besser Versagen, sieht Gerald D. Feldman als wichtigste Ursachen der Versicherungszusammenbrüche der Frankfurter Allgemeine Versicherungs AG und der österreichischen Phönix-Versicherung. Er verweist damit auf die Bedeutung der Versicherungen in der Weltwirtschaftskrise, die seiner Meinung nach bislang zu Unrecht gegenüber der Darstellung der Bankenkrise unterbelichtet blieb 4. Feldman kann zeigen, dass riskantes unternehmerisches Engagement, die Vermischung persönlicher und unternehmerischer Interessen bis hin zu kriminellen Handlungen, diese Zusammenbrüche maßgeblich beeinflusst haben.

Stand bei der Borchardt-Kontroverse, auch im Sinne einer Stellvertreter-Debatte über die damals aktuelle Wirtschaftspolitik, die Frage nach einer alternativen keynesianischen Wirtschaftspolitik im Hintergrund, so spielt diese im vorliegenden Sammelband kaum eine Rolle. Einzig Robert Skidelsky widmet sich dem Thema Keynes und Keynesianismus in der Weltwirtschaftskrise. Da Keynes sich nie historisch mit der Weltwirtschaftskrise auseinanderstezte, leitet Skidelsky „Keynes`s Perspective“ aus der „General Theory“ und der „Treatise on money“ ab und verweist auf unterschiedliche Situationen wie etwa einen Symposiumsbesuch in Chicago 1931 oder Kontakte zu Präsident Roosevelt 1934, bei denen Keynes für eine Politik des deficit-spending bzw. für massive monetäre Expansionsstrategien plädierte. Wenn man mit Keynes` Augen die Weltwirtschaftskrise betrachte, so Skidelsky, fallen zudem zahlreiche Ähnlichkeiten zur Gegenwart auf. Diesen Zusammenhang thematisieren mehrere Autoren, denn er ist, und darin schließt die Fragestellung des vorliegenden Bandes an die Borchardt-Kontroverse an, nicht nur von wirtschaftshistorischer, sondern auch von aktueller Bedeutung.

In einem abschließenden Beitrag bilanziert Barry Eichengreen Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Weltwirtschaftskrise gestern und heute. Parallelen ergeben sich etwa hinsichtlich des Kapitalflusses nach Asien und Lateinamerika, mit Blick auf die Zahlungsbilanzprobleme von Gläubigerländerländern nach dem Abzug von US-Kapital oder auch, wenn man den Glauben in beiden Zeitphasen an eine „neue Ära“ des unbeschränkten Wirtschaftswachstums betrachtet. Trotz zahlreicher Gemeinsamkeiten liegen deutliche Unterschiede vor allem in der größeren Stabilität und dem Wachstum vor allem der gegenwärtigen US-Wirtschaft, in der Politik der G-7-Staaten, die auf eine größere Liquidität der internationalen Finanzmärkte abzielte und damit auf eine gewisse Lernfähigkeit der verantwortlichen Akteure hinweist. Dies gilt auch für eine verstärkte Bankenregulierung und das internationale Handelssystem. Trotzdem, so Eichengreen, garantieren auch diese Lerneffekte nicht das Ausbleiben einer vergleichbaren Krise. Er plädiert deshalb für eine weitere Stärkung monetärer und fiskalischer Institutionen sowie für eine weitergehende Banken-Regulierung.

Es bleibt festzuhalten, dass die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes die Frage nach Zwangslagen und Handlungsspielräumen der Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit über die binnenwirtschaftliche Perspektive hinaus im Zeitalter der Globalisierung in Richtung des internationalen Kontextes erweitern. Ob dies genug Zündstoff für eine der Borchardt-Kontroverse vergleichbare Wirtschaftshistoriker-Debatte bietet oder gar zur „Revision des überlieferten Geschichtsbildes“ beiträgt, werden die Reaktionen auf diesen Band sowie zukünftige Forschungen zeigen.

Anmerkungen:
1 Hier in der Version von Knut Borchardt, Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre: Zur Revision des überlieferten Geschichtsbildes, in: Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik, Göttingen 1982, S. 165-182.
2 Soeben erschienen: Albrecht Ritschl, Deutschlands Krise und Konjunktur 1924-1943. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre (=Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 2), Berlin 2002.
3 Peter Temin, The Beginning of the Great Depression in Germany, in: Economic History Review 24, 1971, S. 240-248.
4 Dazu trägt sicherlich auch Feldmans jüngste Darstellung bei. Gerald D. Feldman, Die Allianz und die deutsche Versicherungswirtschaft 1933-1945, München 2001.

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