K. Seidel: Process of Politics in Europe

Titel
The Process of Politics in Europe. The Rise of European Elites and Supranational Institutions


Autor(en)
Seidel, Katja
Reihe
Library of European Studies
Erschienen
Basingstoke 2010: I.B. Tauris
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
€ 70,14
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sibylle Hambloch, Historisches Seminar, Universität Siegen

Die europäische Wettbewerbspolitik und die Gemeinsame Agrarpolitik sind zwei herausragende Felder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), in denen bereits in der Frühphase der europäischen Integration wichtige Grundlagen für die politische Arbeit der nachfolgenden Jahrzehnte gelegt wurden. Obwohl die europäische Agrarpolitik in den 1960er-Jahren relativ gut aufgearbeitet ist und mittlerweile eine ganze Reihe von Arbeiten zur frühen europäischen Wettbewerbspolitik vorliegen, bietet die Studie von Katja Seidel einen neuen Zugang zu beiden Politikfeldern.

Das aus einer Dissertation an der University of Portsmouth hervorgegangene Buch untersucht die Herausbildung einer europäischen Verwaltungselite der Hohen Kommission in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zur Zeit der Präsidentschaft von Jean Monnet (1952-55) und der Europäischen Kommission in der EWG zur Zeit der Präsidentschaft von Walter Hallstein (1958-67). Katja Seidel hat dazu Akten der Archive der Europäischen Kommission und der Europäischen Union, der Fondation Jean Monnet pour l'Europe sowie nationaler Archive ausgewertet. Eine wichtige Quellenbasis stellen vor allem zahlreiche, größtenteils selbst geführte Zeitzeugeninterviews mit Beamten der Hohen Behörde der EGKS und der EWG-Kommission dar. In fünf Kapiteln behandelt die Studie den Prozess der Europäisierung, der sowohl die Entstehung von Institutionen auf europäischer Ebene mit eigenen Regeln und Normen als auch Sozialisierungsprozesse der Akteure darin umfasst. Europäisierung wird dabei als dreiteiliger Prozess des Aufbaus, der Diffusion und der Institutionalisierung bzw. Internalisierung formaler und informaler Regeln, politischer Paradigma, gemeinsamer Normen usw. verstanden.

Der erste Teil der Arbeit widmet sich der Hohen Behörde der EGKS. Es war der Wunsch ihres ersten Präsidenten, Jean Monnets, die Organisation schlank und flexibel zu halten und damit Bürokratisierungstendenzen entgegen zu wirken. Überlappende Verantwortlichkeiten, ein Mangel an Koordination zwischen den Abteilungen und das große Arbeitsaufkommen hatten jedoch einen starken Anstieg der Mitarbeiterzahlen zur Folge und führten zu einer von den Mitarbeitern anfänglich als chaotisch empfundenen Arbeitsweise. Trotz des Einflusses der nationalstaatlichen Regierungen auf die Organisation der Hohen Behörde bildete sich unter deren Mitarbeitern ein Teamgeist heraus und beeinflusste auch die kooperierenden Vertreter aus den Nationalstaaten.

Im nächsten Kapitel werden Einzelbiographien und -karrieren von leitenden Beamten der Hohen Behörde vorgestellt. Seidel macht ein Bündel aus internen und externen Faktoren aus, das zum individuellen Sozialisierungsprozess in der EGKS beigetragen hat. Als interne Faktoren werden solche untersucht, die aus der Biographie des jeweiligen Beamten resultierten wie etwa Geburtsjahrgang, Bildungsgrad, Kriegserfahrung, internationale Erfahrung, Motivation der Arbeit für "Europa". Externe Faktoren hingegen sind auf die Lebensumstände in einem europäischen Kontext zurückzuführen wie Karrieremöglichkeiten in der EGKS, Leben in Luxemburg sowie die Beeinflussung durch die Arbeitsweise des jeweiligen Präsidenten. Am Beispiel dreier hoher Beamter der Hohen Behörde – Pierre Uri, Tony Rollman und Max Kohnstamm – werden drei Typenkategorien der Hohen Behörde identifiziert, die einen überdurchschnittlich starken Einfluss auf die Arbeit der EGKS hatten und unterschiedlich schnell die europäischen Werte adaptierten.

Der zweite Hauptteil der Arbeit befasst sich mit den Mechanismen der Sozialisierung in der Europäischen Kommission während der Hallstein-Präsidentschaft. Kapitel drei beschreibt zunächst den Aufbau der institutionellen Strukturen und Prozesse der jungen Europäischen Kommission. Das Bemühen des ersten Kommissionspräsidenten um einen Ausgleich supranationaler und nationaler Interessen prägte maßgeblich den Aufbau der Kommission zu einer großen Verwaltungsbehörde sowie ihre Arbeitsweise nach dem Kollegialitätsprinzip und mit einem Exekutivsekretariat nach französischem Muster. Jeder EWG-Kommissar war für eine Generaldirektion (GD) verantwortlich und besaß ein persönliches Kabinett nach dem Vorbild der Hohen Behörde der EGKS. Dies begünstigte die Ausprägung eigener Identitäten und Kulturen innerhalb der jeweiligen Generaldirektion.

Analog zum Kapitel über die Hohe Behörde der EGKS werden in Kapitel 4 interne und externe Faktoren der Sozialisierung innerhalb der EWG-Kommission analysiert. Wichtige Aspekte von Sozialisierungsmechanismen sieht Seidel in allgemeinen wie der Dauer der Beschäftigung, Jobzufriedenheit und der Arbeitsumgebung sowie in Aspekten, die typisch für die erste Generation von hohen EWG-Beamten waren. Dazu zählen eine Expertenkultur, geteilte Erfahrungen derselben Generation insbesondere die Erfahrung im Zweiten Weltkrieg, Rollenmodelle und Arbeitsmethoden innerhalb einer Generaldirektion. Die Persönlichkeiten Hans von der Groeben als Wettbewerbskommissar und Sicco Mansholt als Kommissar für Landwirtschaft prägten maßgeblich den individuellen Arbeitsstil in der Generaldirektion IV bzw. VI, eine nicht zu unterschätzende Voraussetzung für kreative Politiklösungen in der EWG-Landwirtschafts- und Wettbewerbspolitik.

Um eine Klassifizierung von Beamten der EWG-Kommission vornehmen zu können, ordnet Seidel sechs Beamte aus der Hallstein-Kommission soziologischen Typenkategorien zu. Sie unterscheidet die Beamten nach der Art, wie europäische Integration vorangetrieben werden soll, in 'Expert' oder 'Political', nach ihrer biographischen Vorgeschichte, bevor sie zur Kommission kamen, in 'Novice' oder 'Veteran' sowie nach dem Grad der Identifikation mit der europäischen Integration in 'Realistic Idealist' oder 'Pragmatist'.

Das abschließende Kapitel 5 analysiert, inwieweit eine Pfadabhängigkeit zwischen der Europäisierung in den Generaldirektionen VI und IV sowie den politischen Resultaten in der Frühphase der EWG erkennbar ist. Die Vorprägungen der zuständigen Kommissare, der historische Kontext, die Entstehung europäischer Verwaltungskulturen und Sozialisierungsprozesse innerhalb der beiden Generaldirektionen können erklären, warum die Verordnung 17/1962 sowie die Gemeinsame Agrarpolitik trotz nationaler Widerstände realisiert bzw. vom Ministerrat verabschiedet wurden. Bei einem Vergleich beider Politikfelder fällt insbesondere die unterschiedliche Bedeutung von Lobbygruppen auf, die auf dem Gebiet der Landwirtschaftspolitik einen deutlich stärkeren Einfluss ausübten als in der Wettbewerbspolitik. Die Akteure in der GD VI hatten meist einen hohen Grad der Präsozialisierung, so dass sie sich rasch mit dem Ziel Mansholts einer Gemeinsamen Agrarpolitik identifizierten. Demgegenüber gab es im Nachkriegseuropa so gut wie kein Netzwerk von Wettbewerbsexperten und die Sozialisierung innerhalb der GD IV vollzog sich erst allmählich. Auch die fallbezogene Rechtsprechung des EUGH trug zu einer erst in den 1980er-Jahren aktiver werdenden GD Wettbewerb bei. Gemeinsam ist beiden, dass die in der Frühphase getroffenen Entscheidungen lange Bestand hatten: die VO17/1962 bis zur neuen Durchführungsverordnung im Jahre 2003 und die 1962 in Kraft getretene Gemeinsame Agrarpolitik bis Ende 1992.

Das Buch belegt die Bedeutung, die den Faktoren der Prägung und Sozialisierung der beteiligten Akteure zukommt, die als Determinanten (europäischer) Politik häufig vernachlässigt werden. Die europäische Wettbewerbspolitik und die Gemeinsame Agrarpolitik wurden nicht durch eine Top-Down-Politik des jeweils zuständigen EWG-Kommissars gestaltet, sondern müssen im Kontext sich europäisierender Verwaltungen mit supranationalem Anspruch und individuellen Sozialisierungen ihrer Mitglieder gesehen werden. Erst durch die Schaffung einer gemeinsamen "Corporate Identity" und der Identifikation der EGKS- und EWG-Beamten mit der Sinnhaftigkeit einer europäischen Lösung waren die politischen Entscheidungen in der Wettbewerbs- und Landwirtschaftspolitik in der Frühphase der europäischen Integration möglich.

Der Vorteil der Studie, auf der Grundlage von Biographien individuelle Faktoren für die Europäisierung von Organisationen und ihren Mitgliedern zu identifizieren, ist auch zugleich der Ansatzpunkt für kritische Bemerkungen zur Methodik. Es ist fraglich, inwieweit auf der Grundlage dieses induktiven Vorgehens verallgemeinernde Aussagen wie Typenbildungen möglich sind. Vor dem Hintergrund recht kleiner Kohorten bleiben viele Aussagen vage und die Auswahl biographischer Fallstudien erscheint zuweilen willkürlich bzw. vorwiegend durch die Verfügbarkeit von Quellenmaterial begründet. Eine ausführlichere Reflexion der Vor- und Nachteile, die sich aus der Verwendung der Methode der qualitativen Sozialforschung ergeben, wäre wünschenswert gewesen. Die Arbeit belegt einmal mehr, wie schwer die Begriffe und Prozesse der "Europäisierung" oder der Entstehung einer "europäischen Identität" zu fassen und als Ergebnis messbar sind.

Insgesamt liegt eine Arbeit vor, die auf der Basis solider Quellenarbeit die vorhandenen Arbeiten zur EWG-Landwirtschafts- und Wettbewerbspolitik sinnvoll ergänzt. Als eine innovative Studie, die die historisch-hermeneutische Methode mit Methoden der qualitativen Sozialforschung verbindet, setzt sie somit einen neuen Akzent und stellt einen wichtigen Beitrag zur europäischen Integrationsgeschichte dar.

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