U. Hasenöhrl: Zivilgesellschaft und Protest

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Titel
Zivilgesellschaft und Protest. Eine Geschichte der Naturschutz- und Umweltbewegung in Bayern 1945-1980


Autor(en)
Hasenöhrl, Ute
Reihe
Umwelt und Gesellschaft 2
Erschienen
Göttingen 2011: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
632 S., 28 Abb., 11 Tabellen
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cord Arendes, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Obwohl die mediale Berichterstattung gerade in den letzten Jahren ein anderes Bild gezeichnet hat, bilden die Aktivitäten von Natur- und Umweltschützern, ihre Beziehungsnetzwerke und Strategien, bis heute eine bemerkenswerte Leerstelle in der umwelthistorischen Forschung. Ute Hasenöhrl liefert jetzt mit ausgewählten regionalen Fallstudien eine Geschichte der Naturschutz- und Umweltbewegung in Bayern zwischen der unmittelbaren Nachkriegszeit und den 1980er-Jahren. Im Mittelpunkt ihrer Dissertation steht die „Bedeutung zivilgesellschaftlichen Protestes bei der Etablierung von Themen in der öffentlichen Diskussion und bei deren politischer Umsetzung“ (S. 12). Die sowohl synchron wie diachron angelegte Untersuchung zeichnet anhand der Themenfelder Wasserkraft, Tourismus und Atomenergie Konfliktlösungsmechanismen bürgerlicher Akteure bzw. zivilgesellschaftliches Protestverhalten in Bayern nach. Die Autorin hat hierfür umfangreiche Archivalien aus staatlichen und privaten Archiven, Zeitschriften und andere gedruckte Quellen wie offizielle Statements oder „graue Literatur“ ausgewertet sowie Interviews mit Zeitzeugen geführt.

Die Arbeit basiert auf einem umfassenden historisch-sozialwissenschaftlichen Theorierahmen: Die Zivilgesellschaft – „sowohl als empirisches Untersuchungsobjekt wie auch als wissenschaftliches Analyseinstrument“ verstanden (S. 27) – markiere den für den Protest entscheidenden „Aktionsraum“, der durch die Akteure und ihre Handlungsformen bzw. -praxen bestimmt werde. „Gemeinwohl“ sei damit weniger Ergebnis eines vernünftigen Interessenausgleichs denn eine normative Konzeption – ein zentraler Bestandteil des Selbstbildes und der Legitimation der beteiligten Konfliktparteien. Nach einem kurzen Überblick zur Naturschutzbewegung in Deutschland zwischen der Industrialisierung und dem Ende des Zweiten Weltkriegs folgt in zwei großen Kapiteln eine detaillierte und durchweg spannende Analyse der Naturschutz- und Umweltbewegung in Bayern. Die Jahre 1945 bis 1970 standen auch hier unter dem Motto „Wiederaufbau und Konsolidierung“; die Zeit zwischen 1970 und 1980 war charakterisiert durch ein „wachsendes Unbehagen an der Wohlstandsgesellschaft und Neuansätze in der Wahrnehmung von Natur und Umwelt“. Die frühen 1970er-Jahre markierten somit einen Paradigmenwechsel bzw. die „Entdeckung des Natur- und Umweltschutzes als relevantes politisches Handlungsfeld“ (S. 24f.).1

Hasenöhrl konzentriert ihre Darstellung auf drei Themenfelder: den Ausbau der bayerischen Wasserkraft, den Tourismus und die zivile Nutzung der Atomenergie. Durch die Wahl der Fallbeispiele gelingt es ihr überzeugend, die jeweiligen Diskurs- und Handlungspraxen und Trägergruppen zu analysieren sowie das Gesamtspektrum des zivilgesellschaftlichen Protests aufzuzeigen. Die Identifikation des historischen Kontextes vielgestaltiger und unzähliger politischer Gelegenheitsstrukturen ist eine der großen Stärken der Darstellung. Schon beim Thema Wasserkraft – dem ersten Versuch in Bayern, der Energienot der Nachkriegszeit zu begegnen – lässt sich festhalten, dass die Erfolgsaussichten der Umwelt- und Naturschützer dort größer waren, wo „die betroffenen Gewässer mit romantischen Naturvorstellungen in Einklang standen und auf diese Weise eine wirtschaftliche Bedeutung für Fremdenverkehr und Naherholung besaßen“ (S. 162). Auf der anderen Seite ließ sich ein bewahrender Naturschutz, der vor allem die Schönheit der Landschaft betonte, nur selten mit einer massentouristischen Infrastruktur (Berg- und Seilbahnen, Skilifte) in empfindlichen Lebensräumen in Einklang bringen. Diese Unvereinbarkeit wog umso schwerer, da der bayerische Alpenraum als „Klischeevorstellung einer idealen (Erholungs-)Landschaft“ galt und gilt (S. 165). Die Glaubwürdigkeit des Naturschutzes stieg in den ersten Nachkriegsjahrzehnten allgemein an, konzentrierte sich aber auf wenige, erfolgversprechende Projekte. Kundgebungen und Demonstrationen waren in Bayern während dieser frühen Phase kaum denkbar, widersprachen sie doch dem gängigen Weltbild der Bevölkerung. Stattdessen setzte man im kompromissbereiten behördlichen Naturschutz auf Lobbyarbeit, Behördenschreiben, Eingaben, Denkschriften und Resolutionen. Vor allem die staatliche „Landesstelle für Naturschutz“ unter Leitung Otto Krauses nahm anfangs eine wichtige Vermittlungsfunktion zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein. Weitere entscheidende Akteure waren der „Bund Naturschutz“ (BN) und der bayerische Landesverband des Vereins „Die Naturfreunde“.

Die Atomkraft galt in den ersten Nachkriegsjahrzehnten als energiepolitischer Hoffnungsträger, und Bayern verfolgte eine eigenständige Atompolitik. Welche heute unverständlichen Blüten dies treiben konnte, zeigt die Autorin eindringlich in ihrer Beschreibung des Forschungsreaktors in München-Garching: „Beispielsweise wurde das Richtfest am 12. Januar 1957 mit einem Staatsakt inklusive ‚Atommenü’ aus Uranstäben (Weißwürsten), Vorfluterbrühe (Leberknödelsuppe), Neutronenschlegel (Kalbfleisch), Fettisotopen (Nachspeise), Garchinger Gammadunst (Käse) und radioaktivem Kühlwasser (Bier) begangen.“ (S. 204) Es bestand noch eine Art Grundvertrauen in die Sicherheit der atomaren Anlagen; selbst der Naturschutz meldete keine Bedenken an und beließ es bei der Empfehlung, „einen anerkannten Landschaftsgestalter heranzuziehen, um die Anlage durch Pflanzen-, Busch- und Baumbewuchs landschaftlich schön einzubinden“ (S. 210). Insgesamt nahmen das Mobilisierungspotenzial des Naturschutzes und die Mobilisierungsbereitschaft der Bevölkerung zwischen Kriegsende und 1970 jedoch stark zu. Auch die Vorstellung eines „statisch-fragilen ökologischen Gleichgewichts“ gewann an Popularität (S. 281). Vom gestaltenden und bewahrenden Naturschutz kam es zu einem dynamischen Naturverständnis (S. 369). Der bisherige Naturschutz wurde vor allem auch durch die entstehende Bürgerinitiativbewegung herausgefordert. Die Folge war unter anderem ein Gesinnungswandel gegenüber der Atomkraft, was fundamentale Auswirkungen auf die Handlungsstrategien der Akteure hatte: Neue Trägergruppen traten hinzu, die Verhaltensstile änderten sich, und eine informierend-warnende Öffentlichkeitsarbeit bestimmte das Alltagsgeschäft. Der Widerstand wurde erfolgreicher, die Akteure vor Ort wurden stärker. Ihre Handlungspraxis blieb aber im bürgerlich „erwartbaren“ Spektrum.

Die Auseinandersetzung um die Atomkraft war das stilbildende umweltpolitische Konfliktfeld der 1970er-Jahre, da sich hier auch die Diskussion um die „Gewaltfrage“ zuspitzte. Insgesamt verlief der Weg von der Ablehnung einzelner Standorte zur prinzipiellen Ablehnung von Atomkraft. Hasenöhrl unterscheidet dabei vier markante Phasen: eine unbedingte Zustimmung vor 1972, ein bedingtes Ja (1972-75), ein bedingtes Nein (1975-79) und eine fundamentale Gegnerschaft nach 1980.2 Insgesamt lässt sich auch für die 1970er-Jahre eine regionale Prägung der zivilgesellschaftlichen Akteure feststellen. Der Anteil von Frauen stieg an, die maßgeblichen Trägergruppen stammten aus dem bürgerlichen Milieu und der städtischen Mittelschicht, linke Initiativen befanden sich in der Minderheit. Die zivilgesellschaftlichen Gruppen vor Ort arbeiteten Hand in Hand mit kommunalen und regionalen politischen Eliten. Ihr Protest verlief gemäßigt und gewaltlos und war weiterhin durch die Hoffnung auf juristische Entscheidungen geprägt. Sachlichkeit und der Verweis auf den Rechtsstaat bestimmten die Diskussion. Proteststrategien und Erfolgsaussichten ergaben sich von Fall zu Fall bzw. vor Ort – auch in diesem Zusammenhang spielte die öffentliche Legitimität der Akteure eine wichtige Rolle. Die frühen 1970er-Jahre bildeten insgesamt die Scheidelinie zwischen Konsens und Konfrontation bzw. staats- und öffentlichkeitszentrierter Phase.

Am Ende der Untersuchung schließt sich die Klammer des theoretischen Rahmens: Die Abwägung unterschiedlicher Kollektivgüter und Gemeinwohlinteressen wirkt nach Hasenöhrl in die Zivilgesellschaft zurück. Bei Naturschutz- und Umweltkonflikten sei „ökonomischen Gemeinwohlbelangen bzw. Kollektivgütern meist Vorrang gegenüber ideellen Anliegen wie dem Naturschutz“ eingeräumt worden (S. 484f.). Hieraus folgert die Autorin, dass es keine spezifisch zivilgesellschaftliche Variante des allgemeinen Wohls gebe, dass dieses aber durchgängig von beiden Seiten als rhetorischer Kampfbegriff zur Stärkung der Legitimität nach innen (Selbstbestätigung eines positiven Eigenbilds und Immunisierung gegen Kritik) wie nach außen (Identifikation des Gemeinwohls mit eigenen Partikularinteressen und damit dessen Monopolisierung und Entpolitisierung) benutzt worden sei. Sie schlägt deshalb vor, zukünftig einen wertneutralen und weniger normativ aufgeladenen Begriff des Gemeinwohls zu nutzen und jeweils nach historischen Konstellationen und Faktoren zu fragen, die ein bestimmtes Gut zu einem Allgemeingut werden lassen. Der Vorschlag, normative Komponenten zivilgesellschaftlichen Handelns durch Historisierung und Kontextualisierung zu entschärfen wie auch die Forderung, die konkrete Handlungspraxis der Natur- und Umweltschützer vollständig in den Blick zu nehmen und ein erweitertes Verständnis zivilgesellschaftlichen Handelns zu entwickeln, machen die Studie zu einem Werk, das sowohl für die Zeitgeschichte wie auch für die sozialwissenschaftliche Bewegungsforschung eine Vielzahl an Impulsen bereithält.

Anmerkungen:
1 Hasenöhrl folgt hier Patrick Kupper, Die „1970er Diagnose“. Grundsätzliche Überlegungen zu einem Wendepunkt der Umweltgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 325-348; auch online unter <http://library.fes.de/jportal/servlets/MCRFileNodeServlet/jportal_derivate_00023144/afs-2003-325.pdf> (26.05.2011).
2 Wie im Buch auch angegeben, stammt diese Einteilung von Ernst Hoplitschek, Der Bund Naturschutz in Bayern. Traditioneller Naturschutzverband oder Teil der Neuen Sozialen Bewegungen?, Berlin 1984, S. 103-112.