V. Ebert: Korporatismus zwischen Bonn und Brüssel

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Titel
Korporatismus zwischen Bonn und Brüssel. Die Beteiligung deutscher Unternehmensverbände an der Güterverkehrspolitik (1957–1972)


Autor(en)
Ebert, Volker
Reihe
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 212
Erschienen
Stuttgart 2010: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
452 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Obermüller, Bonn

Trotz zahlreicher Forschungen zu Einzelaspekten der frühen Bundesrepublik stellt die Verbandsgeschichte immer noch einen weißen Fleck dar. Zu den drei großen Wirtschaftsverbänden – dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) sowie dem Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT) – liegen bis heute keine Monographien vor. Volker Ebert hat mit seiner Dissertation diese Lücke partiell geschlossen. Am Beispiel von BDI und DIHT legt er die Grundstrukturen der Güterverkehrspolitik frei und leistet mit seiner Arbeit einen wertvollen Beitrag zur Erforschung des Korporatismus. In welcher Form, Intensität und Reichweite sich "korporatistische Strukturen der Interessenvermittlung auf der nationalen und supranationalen Ebene" herausbildeten, überprüft Ebert für die "Gründungs- und Festigungsphase" 1957-1972 (S. 14f.).

Da der Verkehrssektor bis in die 1990er-Jahre als der am stärksten regulierte Sektor der sozialen Markwirtschaft galt, eignet er sich auch am besten für eine Analyse des Korporatismus. Mit diesem Modell soll das Interaktionsverhältnis zwischen den politischen Instanzen und den beteiligten Verbänden analysiert werden. Das Hauptaugenmerk legt Ebert dabei auf die Prozesse und Institutionen der Interessenvermittlung. Während Institutionen den Rahmen von Interessenvermittlung bilden, gibt die Analyse der Interaktionsprozesse Aufschluss über die Belastbarkeit der Institutionen. Diese Zweiteilung zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Untersuchung, deren erster Teil den Zeitraum bis zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft umfasst. Im zweiten Teil wird die „supranationale Phase“ ab 1957 mit all ihren strukturellen Neuerungen in den Blick genommen.

Nach der grundlegenden Strukturentwicklung der gemeinwirtschaftlichen Verkehrsordnung im 19. Jahrhundert und dem Beginn des "Schiene-Straßen-Konflikts" in der Zwischenkriegszeit stellt Ebert ausführlicher die Verbände BDI und DIHT als Interessenvertreter vor. In der historischen Rückschau fällt besonders auf, wie sehr auch die frisch gegründete Bundesrepublik an verkehrspolitischen Traditionen festhielt. Weniger Markt und mehr Staat bzw. mehr Regulierung waren das Gebot der Stunde. Nur ein kleiner Kreis um den CDU-Abgeordneten Müller-Hermann sowie das Bundeswirtschaftsministerium trat für eine liberale Position ein und forderte Reformen für mehr Wettbewerb. Sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite gab es zahlreiche Stimmen, die für den Erhalt des starren Systems plädierten, weil es einerseits den "Schutz vor allzu intensivem intramodalem Wettbewerb und ein festes Preisniveau garantierte" (S. 108), andererseits für die Nachfrageseite die Absatzchancen steigerte und Standortnachteile kompensierte. Ebert stellt gerade in der Phase von Anfang der 1950er-Jahre bis zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) einen hohen Druck auf das korporatistisch geprägte Gefüge in der Güterverkehrspolitik fest. Die politischen Akteure setzten mehr auf Konfrontation als auf Kooperation und sorgten dadurch, wenn auch nur kurzzeitig, für einen Verbandspluralismus. BDI und DIHT setzten in der Folgezeit ihren progressiven Kurs fort und forderten mehr Wettbewerb. Die von beiden Verbänden 1957 verabschiedeten "Leitsätze zur Verkehrs- und Tarifreform" zementierten die diametralen Positionen von Staat und Verbänden.

Mit der Gründung der EWG 1957 änderten sich die Rahmenbedingungen politischer Entscheidungsprozesse grundlegend. Auf supranationaler Ebene mussten die unterschiedlichen Konzepte der nationalen Verkehrspolitik in Einklang gebracht werden. Während die Bundesrepublik im europäischen Staatengefüge für ein reguliertes und staatlich-dirigistisches System stand, forderten die Niederlande das genaue Gegenteil, hier standen marktwirtschaftliche Prinzipien im Vordergrund. Für den BDI und den DIHT bot die Erweiterung des Interessenvermittlungssystems Chancen und Risiken gleichermaßen. Auf der einen Seite konnte die neue Entscheidungsebene die Tür zur nationalen Deregulierung weit aufstoßen, andererseits hätte auch ein zunehmender innerverbandlicher Konflikt zwischen dem liberal-marktwirtschaftlichen und dem gemeinwirtschaftlich-protektionistischem Flügel die Folge sein können.

DIHT und BDI intervenierten in den 1960er-Jahren vermehrt in Bonn und Brüssel für eine Deregulierung des Verkehrssektors. Die "Kleine Verkehrsreform" sollte die Beziehungen des Staates zu den Verbänden allerdings erheblich belasten und zeigte die Grenzen der korporatistischen Interessenvermittlung auf. Zwar hielten durch die Reform marktwirtschaftliche Prinzipien in die Verkehrsmarktordnung Einzug. Eine große Wende in der Verkehrspolitik bedeutete das allerdings nicht. Die mächtige Koalition aus dem Bundesministerium für Verkehr und dem Verkehrsgewerbe erwies sich als zu dominant, um den Wünschen der Verladeverbände entgegenzukommen und grundlegende Reformen zuzulassen. Auf europäischer Ebene zeigte sich ebenfalls die Wirkungslosigkeit der verbandspolitischen Aktivitäten. Auch wenn die Deregulierung das verkehrspolitische Leitthema in Brüssel war, gelang es weder dem BDI noch dem DIHT wirksam einzugreifen. Vielmehr bildeten sich Ad-hoc-Allianzen aus verschiedenen Interessenlagern, die dann wiederum die nationalen Positionen noch verfestigten. Die Konsequenz dieser Entwicklung war die Einstellung jeglicher verkehrspolitischen Offensiven von DIHT und BDI auf dieser Ebene.

Der Zeitraum von 1967 bis 1972 war gekennzeichnet durch eine zunehmend dirigistische Verkehrspolitik und eine konflikthafte Phase im Staat-Verbände-Gefüge. Ebert verbindet diese kritische Phase sehr eindeutig mit dem neuen Verkehrsminister Georg Leber und den Diskussionen um den "Leber-Plan". Das Vorgehen des Ministers war, im Vergleich zu Aushandlungsprozessen seiner Vorgänger, "konspirativ" (S. 417) und nicht durch konsensuale Einbindung der Interessengruppen geprägt. Dies zog sich bis in die höchsten politischen Entscheidungsebenen hinein – auch einzelne Abgeordnete waren nicht in die Pläne des Verkehrsministers eingeweiht. Dieses mitunter aggressive Vorgehen hatte gravierende Auswirkungen auf die "verkehrspolitische Verbandssystematik" (S. 417). Innere Konflikte machten den DIHT nahezu handlungsunfähig. Im gesamten Zeitraum bis 1972 beobachtet Ebert zudem eine Renationalisierung der Verbandspolitik, während die europäische Verbandshierarchie "an der Spitze verkümmert[e]" (S. 419). Den nationalen Verbänden fehlte ein verbindendes Element, um sich auch auf supranationaler Ebene stärker zu engagieren.

Insgesamt sieht Ebert das Verhältnis von Staat und Verbänden differenziert. Zwar fiel das korporatistische Gefüge im Untersuchungszeitraum nicht zusammen, bekam aber durch die zahlreichen Reformdiskussionen Risse. Allerdings stellt der Autor auch klar, dass dies kein ununterbrochener Erosionsprozess war, der sich seit 1958 vollzog. Auch die Gründe für diese Entwicklung sind mehrschichtig: Einerseits leistete der Staat durch seine "ordnungspolitischen Eigeninteressen" (S. 422) dieser Entwicklung Vorschub. Andererseits war gerade der DIHT aufgrund seiner heterogenen Binnenstruktur nicht in der Lage, als Einheit aufzutreten. Dennoch war es den Verbänden auf nationaler Ebene in unterschiedlicher Intensität möglich, die Güterverkehrspolitik mitzugestalten. Hingegen blieb ihnen dies auf supranationaler Ebene verwehrt. Auch hinsichtlich des wirtschaftlichen Einflusses auf politische Entscheidungen kommt Ebert am Beispiel der Güterverkehrspolitik zu neuen Erkenntnissen. Erstens stieg der Einfluss der Verbände nicht mit dem Anwachsen der Mitgliederzahl und zweitens richteten private Gruppen ihre Forderungen nicht immer an die Exekutive, um ihre Interessen durchzusetzen: Während sich die Verbände des Transportgewerbes direkt an das Bundesministerium für Verkehr wandten, standen der CDU-Abgeordnete und verkehrspolitische Sprecher der Union Müller-Hermann und sein Umfeld in engem Austausch mit den Verladeverbänden.

Volker Ebert gelingt es, auf breiter Quellen- und Literaturbasis einen tiefen Einblick in die Staat-Verbände-Beziehungen in der Bundesrepublik zu geben. Wer sich künftig mit den Aushandlungsprozessen in Politik und Wirtschaft beschäftigt und zudem Details über die Struktur von BDI und DIHT wissen möchte, wird an dieser Dissertation nicht vorbeikommen. Auch wenn am Beispiel der Güterverkehrspolitik nur ein Ausschnitt der Beziehungen zwischen Staat und Verbänden untersucht werden konnte, haben die Ergebnisse Eberts eine hohe Relevanz auch für andere Wirtschaftsbereiche. Kommende Forschungen zum BDI und DIHT sowie zu anderen bundesdeutschen Branchen werden sich daran messen lassen müssen.

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