H.-J. Rupieper (Hg.): "Es gibt keinen Ausweg für Brandt zum Krieg"

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Titel
"Es gibt keinen Ausweg für Brandt zum Krieg". August 1961 an der Martin-Luther-Universität


Herausgeber
Rupieper, Hermann-J.
Erschienen
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
€ 20,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Schwarz

Die vom Hallenser Historiker Hermann-J. Rupieper herausgegebene Publikation enthält 52 Dokumente, die das politische Klima im Lehrkörper und in der Studentenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg kurz vor dem 13. August 1961 und in der Folgezeit beleuchten. Es handelt sich hauptsächlich um Briefwechsel zwischen Angehörigen des Lehrkörpers und Vertretern des Staatssekretariats für das Hoch- und Fachschulwesen sowie um Berichte über die Stimmung und die Stellungnahmen von Professoren, Dozenten und Studenten zum Bau der Mauer in Berlin wie auch zu Folgemaßnahmen der Regierung der DDR. Die Veröffentlichung ist deshalb verdienstvoll, weil sie erstmals in zusammengefasster Form die Debatten im und um den August 1961 an der (nach der Humboldt-Universität Berlin und der Karl-Marx-Universität Leipzig) drittgrößten Hochschule der DDR anschaulich illustriert und die Atmosphäre jener Monate treffend einfängt.

Eingangs gewähren Berichte und Aktennotizen über die „Republikflucht“ von Hochschullehrern aus Halle nach Westdeutschland Einblicke in die politische Situation am Vorabend des 13.August 1961. Es wird die Aberkennung der akademischen Grade des Dr. phil. und des Dr. habil. bei denjenigen Universitätsangehörigen dokumentiert, die die DDR vor dem 13. August verlassen hatten.

Sodann werden zahlreiche Berichte über die Reaktionen von Instituten, Fachrichtungen, auch einzelner Angehöriger der Universität abgedruckt, die partiellen Widerstand gegen den Bau der Mauer und den damit verbundenen Kurs der SED/DDR erkennen ließen. Davon zeugen umfangreiche Berichte über die mit Hochschulangehörigen geführten Aussprachen zur „Klärung“ der nach den Maßnahmen des 13. August 1961 eingetretenen neuen Lage in Deutschland und über die Situation der Universität in Halle. Schließlich schenkt der Herausgeber den Dokumenten über Skepsis und Zweifel am Wehrpflichtgesetz der DDR vom Januar 1962 die gebührende Aufmerksamkeit.

Man liest Dokumente über kritische Stellungnahmen an einigen „Problemfakultäten“, besonders an denjenigen der Medizin, der Naturwissenschaften, der Theologie und der Landwirtschaft, zum Bau der Mauer und zu der damit verbundenen einseitigen Agitation. Sie enthalten Sorgen und Befürchtungen über die Zukunft Deutschlands und den zu erwartenden Kurs der SED/DDR an den Hochschulen des Landes. Einige Berichte verweisen auf Gewissenskonflikte, beispielsweise an der Pädagogischen Fakultät, an der Studenten „noch mit pazifistischen Anschauungen behaftet“ seien, wie es hieß.

Viele Dokumente befassen sich mit der pessimistischen Erwartung von Universitätsangehörigen, die Maßnahmen des 13. August könnten die Einheit der deutschen Wissenschaft zerstören. Ohne einen Austausch von wissenschaftlichen Informationen, ohne die Beschaffung notwendiger Geräte und ohne Kontakt mit westdeutschen Kollegen werde die Wissenschaft in der DDR nicht lebensfähig bleiben können, lautete ein Einwand der Hallenser Akademiker (S. 19).

Rupieper stellt fest, dass die vollständige Schließung der Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik der SED die Möglichkeit bot, die Bevölkerung zur Akzeptanz ihrer Herrschaft zu zwingen und zumindest Loyalität von jenen einzufordern, die ihre privaten und beruflichen Hoffnungen in der DDR zu verwirklichen trachteten. Unmittelbar nach dem Mauerbau habe die SED ihre Agitation zur Gewinnung der Universitätsmitarbeiter verstärkt. Dies sei auf zwei Ebenen erfolgt: zum einen durch Diskussionen, Foren und Gruppengespräche im Rahmen von Partei- und Gewerkschaftsversammlungen, zum anderen durch Einzelgespräche, um diejenigen zu erreichen, die in den Instituten meinungsbildend waren. Aus den Dokumenten geht hervor, dass ein Schweigen zu den von der DDR getroffenen Maßnahmen als Ablehnung der Politik der Partei gewertet worden war.

Im Band wird belegt, dass sich die meisten Hochschullehrer in den ersten Wochen nach dem Mauerbau zunächst ruhig verhalten und in die Arbeit geflüchtet hätten. Damit seien jedoch nicht ihre Probleme gelöst worden. Der 13. August 1961 sei als tiefer Einschnitt in ihrer Lebensplanung, als ein Schock empfunden worden. Es habe einige Zeit gedauert, bevor sich kritische Stimmen unter ihnen vernehmlich gemeldet hätten (S. 21). Ein anderes Ergebnis der massiven Propaganda der SED nach dem 13. August wären Ergebenheitsadressen der Institute gewesen, die im Oktober und November 1961 zuhauf abgegeben worden seien. Sie enthielten zugleich selbstkritische Stellungnahmen und hätten auf eigene ideologische Schwächen verwiesen, die inzwischen beseitigt worden seien (S. 23).

Rupieper hebt den Fall des Direktors der Universitätsklinik für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten, Professor Erwin Reichenbach, besonders hervor. Dieser, 64 Jahre alt, seit 1955 Mitglied der Leopoldina, Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften und Nationalpreisträger der DDR, sei am 31. Oktober 1961 zu einer Aussprache in das Staatssekretariat für Hochschulwesen nach Berlin bestellt worden, wo er wegen politischen Fehlverhaltens gerügt wurde. Reichenbach habe sich dabei über Vorschriften von staatlicher Seite für eine Tagung der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten empört geäußert, an der sich westdeutsche Kollegen beteiligten.

Insbesondere beschwerte er sich über einen nächtlichen Telefonanruf des Rektors Gerhard Bondi, der ihn auf seine Pflichten als „Staatsfunktionär“ hinweisen zu müssen glaubte, sowie auf die unübliche Anwesenheit von drei Prorektoren und zwei Parteisekretären auf der Tagung. Das Verhalten der Staats- und Parteifunktionäre habe Reichenbach so sehr erregt, dass er am 4. November 1961 an den Minister für Gesundheitswesen, Max Sefrin (CDU), geschrieben und seinen Rücktritt von allen Funktionen im staatlichen Gesundheitswesen der DDR erklärt habe. Schließlich sei Reichenbach einen Monat später vorzeitig emeritiert worden. Diese und andere Maßnahmen sollten exponierte Kritiker des politischen Kurses nach dem 13. August einschüchtern (S. 23 ff.).

Der Bannstrahl der Parteibürokratie habe auch den prominenten Historiker Professor Leo Stern, von 1953-1959 Rektor der Martin-Luther-Universität, Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften, getroffen, dem mangelnde Aktivität in der SED-Grundorganisation vorgeworfen wurde, und der sogar die obligatorische Teilnahme am Parteilehrjahr abgelehnt habe. Rupieper kommentiert, dass damit Stern und andere Hallenser Hochschullehrer indirekt für die – aus Ostberliner Sicht – „ungenügende politisch-ideologische Ausrichtung“ der Universität mitverantwortlich gemacht worden seien (S. 25).

Die von Hermann-J. Rupieper und Melanie Steiner gesammelten Dokumente gewähren einen informativen Einblick in die teilweise ablehnende oder skeptische Bewertung der Vorgänge im und um den August 1961 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Man geht aber sicher nicht fehl in der Annahme, dass es analoge Erscheinungen der politischen Opposition auch an anderen Hochschulen der DDR gegeben haben dürfte. Aus dem vorliegenden Dokumentenband wird allerdings nicht ersichtlich, wie hoch in etwa der Anteil der Universitätsangehörigen gewesen sein mag, die seinerzeit aus „bewusster“ innerer Überzeugung den Maßnahmen im August 1961 zugestimmt haben mögen. Natürlich ist eine solche Schätzung aufgrund der vorhandenen Dokumente außerordentlich schwer vorzunehmen.

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