Titel
Jugendkulturen. Recherchen in Frankfurt am Main und London


Herausgeber
Moser, Johannes; unter Mitarbeit von Anne Claire Groffmann
Reihe
Kulturanthropologische Notizen 66
Erschienen
Frankfurt am Main 2000: informedia
Anzahl Seiten
281 S.
Preis
€ 18,50
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Tatjana Eggeling Email:

Das Buch präsentiert die studentischen Beiträge eines Studienprojekts, das unter den Titel „Jugendkulturen“ von 1997 bis 1999 am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie in Frankfurt/M. durchgeführt wurde. Schon der Titel mach deutlich, daß es dem Projekt nicht um „die Jugend“ an sich ging, sondern um verschiedene Jugendgruppen und -szenen, die sich über ihre jeweiligen Freizeitaktivitäten definieren: Sprayer, Skater, BesucherInnen eines Treffpunkts für junge Schwule und Lesben, Technofans, eine Gruppe junger charismatischer ChristInnen, Fußballfans. Alle ProjektteilnehmerInnen forschten sowohl über einen längeren Zeitraum in Frankfurt/M. wie auch während einer gemeinsamen Exkursion für zwei Wochen in London, wo sie entsprechende Szenen aufsuchten wie in Frankfurt, um diese dann mit den heimischen zu vergleichen.

Gemeinsam sind allen Beiträgen des Bandes die theoretische Richtung und die methodologische Herangehensweise. Die Beiträge firmieren unter dem Oberbegriff „kulturanthropologische Jugendforschung“ und nutzen verschiedene Forschungsansätze insbesondere der Cultural Studies, der Soziologie und der Psychologie. Wie Johannes Moser in der Einleitung zu diesem Band ausführt, müssen sie sogar verschiedene Ansätze nutzen, da es keine eigenständige ethnologische Tradition der Jugendkulturforschung gäbe. Er stellt zunächst die verschiedenen Ansätze vor, um daran anschließend Ziele für eine anthropologische Jugendkulturforschung zu formulieren.

Den wichtigsten theoretischen und methodologischen Ansatz stellen die britischen Cultural Studies dar, insbesondere die am 1964 in Birmingham gegründeten Centre for Contemporary Cultural Studies durchgeführten Jugendstudien. Laut Moser hat das CCCS „weit über die Bedeutung ihrer Jugend-Subkultur-Studien hinaus“ die Kulturwissenschaften „zu Recht massiv geprägt“ (S. 31). Dies begründet er mit drei Punkten: Erstens habe es auf der Grundlage seines weiten Kulturbegriffs den Blick immer auch auf gesellschaftliche Machtverhältnisse gelenkt, sei somit explizit ein politisches Projekt gewesen, das die Intellektuellen gesellschaftlich in die Pflicht genommen habe. Zweitens liege das Verdienst des CCCS in der „Überwindung der Kulturindustriethese“ (S. 32), der widersprechend es zeigen konnte, dass kreativ, eigensinnig und widerständig mit populären Kulturwaren aller Art umgegangen wird. Schließlich liege seine Stärke darin, dass es den Blick auf die Praxis der Menschen lenke und anhand der Beobachtung alltäglichen Handelns ihnen somit auch aktive Mitgestaltung an kulturellem und gesellschaftlichem Wandel zugestand und nachzuweisen versuchte. Darin, dass sich die britischen Cultural Studies sehr stark auf männliche und auffällige Jugendkulturen sowie auf den Aspekt der Widerständigkeit konzentriert hätten, sieht Moser, wie viele andere RezipientInnen auch, eine Schwäche.
Moser bescheinigt im Vergleich zu den Cultural Studies der deutschen Jugendkulturforschung seit 1970 weniger theoretische Ambitionen. Die Stärken der soziologischen und pädagogischen Arbeiten lägen vielmehr in ihrem akteurszentrierten Ansatz und darin, dass sie beeinflusst vom Individualisierungstheorem neue Herangehensweisen an die unübersichtlich gewordenen Formen von Jugendkulturen gefunden hatten, die als Freizeitszenen ihre Bindungen an Herkunftsmilieus zunehmend verloren haben. Dennoch bleibt laut Moser zu fragen, welche Erkenntnisse die dadurch rasterhaft getroffenen Einteilungen von Szenen und Individuen tatsächlich bieten können. Die Forschungen des CCCS, die einen ethnographischen Blick mit einer anspruchsvollen theoretischen Perspektive verbunden hätten, lieferten hier tiefere Einsichten.

Damit ist die theoretische und methodologische Perspektive umrissen, die dem Projekt zugrunde liegt. Allein oder zu zweit haben die ProjektteilnehmerInnen eine Jugendkultur oder -szene gewählt und mittels teilnehmender Beobachtung und Interviews deren Spezifik erforscht, das Agieren der Jugendlichen innerhalb der Gruppe beobachtet und die Bedeutung der Gruppe für einzelne Mitglieder erfragt. Sehr erhellend und interessant vor allem für Studierende dürfte sein, daß in den Aufsätzen immer auch der je nach Szene oder Gruppe sehr unterschiedliche Feldzugang und Einstieg ins Feld beschrieben wird. Hier reflektieren die AutorInnen jeweils auch eigene Positionen, Motivationen für die Auswahl des Feldes und biographische Anknüpfungspunkte, die ihnen diesen Zugang teilweise sehr erleichterten oder aber auch erschwerten. Benjamin Blinten beispielsweise kamen seine eigenen Erfahrungen als aktives Mitglied in einer kirchlichen Jugendgruppe zugute, durch die ihm theologische Zusammenhänge und Vorgänge innerhalb seines Feldes vertraut waren. Zugleich fehlte im dadurch die notwendige Distanz zur Beobachtung, war ihm manches allzu vertraut, um es als besonders erkennen und analysieren zu können. Jana Binder hingegen hatte sich, ohne auf eigene praktische Erfahrungen zurückgreifen zu können, monatelang bei Wind und Wetter als Beobachterin der Skateboarder an der Frankfurter Hauptwache gedulden müssen, bis die sich nach außen stark abgrenzende Gruppe sie zumindest als temporäres Mitglied akzeptierte und zu Interviews bereit war. Da sie selbst nicht skatet, konnte sie sich den Zugang nicht über aktives Mitmachen verschaffen, sondern nur durch permanente aufgeschlossene Anwesenheit.

Alle ForscherInnen wählten im Feld dieselbe Herangehensweise. Vorbereitet und den Blick geschärft durch gemeinsame Lektüre und Diskussion der Forschungsansätze versuchten sie das Spezifische an der jeweils beobachteten Gruppe zu erkennen und entwickelten am erhaltenen Material die Kriterien für die Interpretation auf Grundlage der Theorien und Ansätze. In diesem gemeinsamen Vorgehen liegt ein Gutteil der Geschlossenheit des Bandes begründet. Er macht zum einen Ähnlichkeiten von Jugendszenen deutlich und stellt zum anderen die Eigentümlichkeiten der verschiedenen Gruppen und Szenen ethnographisch reflektiert und schön beschrieben dar. Insgesamt ist es also eine gelungene Projektveröffentlichung. Gefehlt hat mir allerdings, dass gerade bei einem so deutlichen selbstreflexiven Anspruch eigene Genderpositionen und Genderaspekte im Feld kaum diskutiert und untersucht wurden.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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