Cover
Titel
Deutsche Fragen. Von der Teilung zur Einheit


Herausgeber
Timmermann, Heiner
Reihe
Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen 97
Erschienen
Anzahl Seiten
685 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fred Oldenburg

Seit Beginn der 90er Jahre füllen die interdisziplinären Konferenzen des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts der Europäischen Akademie in Otzenhausen immer mehr die Leerstelle aus, die das Ende der Jahrestagungen der DDR-Forschergemeinschaft von Tutzing, Lerbach und Röttgen hinterlassen hatte. Im Mittelpunkt der zumeist international besetzten Veranstaltungen der im Saarland beheimateten Akademie standen in den letzten Jahren u. a. die Aufarbeitung der großen Weltkrisen (Kubakrise, Mauerbau, 17. Juni 1953 u.a.) sowie deren Konsequenzen für die beiden im internationalen System verankerten deutschen Staaten.

Otzenhausener Veröffentlichungen finden seit langem die Aufmerksamkeit in der Politischen Bildung und in den Sozialwissenschaften, die ihnen zukommt. Derzeit ist die magische Zahl 100 der dort herausgegebenen Publikationen bereits überschritten. Auch ein neuer Verlag für die Edition der „Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen“ wurde gefunden: Den Platz von Duncker und Humblot, Berlin, nimmt seit dem Jahre 2002 der LIT Verlag Münster – Hamburg ein.

Die im vergangenen Jahr vorgelegte Publikation, „Deutsche Fragen: von der Teilung zur Wiedervereinigung“, gibt die im Jahre 2000 in Otzenhausen gehaltenen Vorträge wieder. An der Tagung hatte übrigens auch der ehemalige Innenminister Wolfgang Schäuble teilgenommen. Für die vorgesehenen zwei Plenarsitzungen waren 68 Referate angeboten worden, von denen nicht einmal die Hälfte ausgewählt und in dem hier zu besprechenden Buch publiziert werden konnte.

In der Einführung (Kapitel I) berichtet Heiner Timmermann, der Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts, über die wechselvolle Geschichte der Forschertagungen in Otzenhausen. Seine überaus nützliche Zusammenfassung bietet dem Leser (und dem Rezensenten) eine wertvolle Navigation. Die vorgelegten Beiträge decken in den Kapiteln II bis V die Felder Außenbeziehungen, Herrschaft, Gesellschaft und Aspekte der deutschen Einigung ab: Unmöglich, sie alle auch nur zusammenfassend zu würdigen. Schließlich reichen sie von der Thematik, „Die DDR und der Schumanplan 1950-1952 (U. Pfeil), den „Instanzen der Diktaturdurchsetzung in Sachsen 1945-1952“ (M. Schmitzer) über die Hintergründe des DEFA-Films „Die Glatzkopfbande“ (I. Bennewitz), die „Gedächtnisbildung durch museale Arbeit“ (A. Ludwig) und der Verwandlung der „Ostdeutschen politischen und Alltagskultur vom realexistierenden Sozialismus zur postmodernen kapitalistischen Konsumkultur“ (L. McFalls) bis zur Bilanzierung „Deutscher Außenpolitik ein Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung“ (S. Schwarz) sowie der Abwehr von Mythen und der Verteidigung der These: „ Wir haben die innere Einheit schon“ (H.-J Veen). Wer nach einem Haltepunkt in dieser Publikation sucht, kann diesen in dem von mehreren Beiträgen herausgearbeiteten Verhältnis von Sowjetunion und DDR festmachen. Doch wäre auch eine andere Schwerpunktsetzung möglich gewesen. Denn wie wir sahen, enthält das Buch die verschiedensten Themenkomplexe, und der Rezensent ist sich seiner einseitigen Auswahl bewusst.

Im ersten Beitrag beschreibt G. Barkleit den „Spagat der SED zwischen ökonomischen Zwängen und ideologischer Gefolgschaft“ am Beispiel der Produktion moderner Waffensysteme für die UdSSR. Diesem Aufsatz folgt der von M. Ploetz über „Breshnews Langzeitstrategie im Spiegel von SED-Dokumenten“. Anhand von Befragungen wichtiger Zeitzeugen und der Analyse seinerzeit nicht veröffentlichter multilateraler, bilateraler und SED-eigener Papiere kommt Ploetz zu der Auffassung, der Entspannungspolitik Breshnews habe unmissverständlich die langfristige Strategie zugrunde gelegen, die in westlichen Demokratien organisierten Staaten niederzuwerfen, wobei die Aktionen der Friedensbewegung als strategischer Durchbruch bewertet wurden.

Da es aber letztlich nicht gelang, das Militärpotential der NATO mit Hilfe, so der Autor, „betrügerischer Rüstungskontrollofferten“ oder Abrüstungskampagnen auf eine „Residualgröße zu reduzieren“, wäre das „überlegene Militärpotential des Warschauer Vertrages nicht als Trumpfkarte im politischen Ringen um Westeuropa“ ausspielbar gewesen. Als Konsequenz dessen sei das aufgehäufte Waffenarsenal des Ostens zu einer „ökonomischen Bleiweste“ denaturiert, die das Sowjetimperium „absaufen“ ließ. Solche Analyse ist so einseitig, wie sie, diesen Faktor beschreibend, auf den ersten Blick richtig zu sein scheint. Andererseits wird dabei unterschlagen, dass die sowjetischen Führer sich stets einer aggressiven Selbstversicherung bedienten, die die reale Schwäche nur mühsam verdecken konnte. Die Sowjetunion und erst recht der Warschauer Pakt waren vermutlich stets der westlichen Allianz unterlegen. Doch stellte die sowjetische Hochrüstung zweifellos nur ein, wenn auch wesentliches, Moment des Zusammenbruchs des Sowjetimperiums dar.

Andere Gründe, wie die der Modernität zuwiderlaufende Rolle einer wirklichkeitsfremden Ideologie, die ungelöste nationale Frage des sowjetischen Imperiums, das Verhältnis von Macht (Partei, Staat sowie Staatssicherheit) und Gesellschaft, die Bedeutung des überragenden westlichen Wirtschaftsmodells, die Folgen galoppierender Modernisierung und Globalisierung müssen meiner Meinung zusätzlich zur Erklärung herangezogen werden. Tatsächlich war das sowjetische System spätestens Anfang der achtziger Jahre an sein Ende gelangt, was durch bramarbasierende Strategeme und ideologische wie auch propagandistische Luftnummern nur mühsam überdeckt werden konnte. Das bedeutet nicht, dass Moskaus Expansion nach Afghanistan und die eingeforderte Selbstintervention in Polen nicht Ausdruck der systemimmanenten Unfriedlichkeit des Sowjetsystems war. Gerade ein angeschlagener, im Umbau befindlicher totalitärer Staat mit Atomwaffen musste als unberechenbar gelten. Der lange Frieden konnte nur durch die kollektiven Anstrengungen der freien Völker und durch atomare Abschreckung gesichert werden.

Gleichfalls im II. Kapitel gibt A. Volze einen Überblick über die aufgelaufenen DDR-Westschulden und weist in einem Zwischenbericht auf die Diskrepanzen zwischen auch von SED-Politbüromitgliedern perzepierter und realer Verschuldung hin. Demnach hätte die DDR aus rein ökonomischen Gründen noch einige Jahre weiterexistieren können, da frühere Angaben überhöht erscheinen. Bereits der Beitrag von J. Raschka im Kapitel III über „1981 als Zäsur in der Entwicklung der DDR – Innenpolitischer Wandel als Folge außenpolitischer Veränderungen“ weist auf den Zusammenhang von wirtschaftlicher Schwäche der UdSSR Anfang der achtziger Jahre und der verstärkten Anbindung der DDR an die Bundesrepublik, auf anwachsende Desillusionierung und Entfremdung sowie auf ansteigende Ausreisebegehren hin.

H. Jenkins stellt im Kapitel IV die von Volze dargelegte These ebenfalls infrage. In der Auseinandersetzung mit der Wirtschaftsministerin der Regierung Modrow, Christa Luft, weist Jenkins aber auch auf weitere Gründe hin, die der DDR die Lebensader abschnitten. Seiner Meinung nach hatte die SED-Herrschaft unter den obwaltenden Rahmenbedingungen, besonders aber wegen ihrer genetischen Fehler, jede wirtschaftliche Überlebenschance aufgebraucht. Dem würde wohl auch der ehemalige Ministerialrat im BMB, Volze, zustimmen.

Für die Analyse manifester Repression in der DDR ist der Beitrag von S. Korzilius über die Rehabilitierung von Opfern der SED-Unrechtsjustiz ebenso wie der von T. Wunschik, „Die Strafvollzugspolitik des SED-Regimes und die Behandlung der Häftlinge in den Gefängnissen der DDR“, hervorzuheben. Nach der Beschreibung des entsetzlichen Alltags politischer Gefangener, die als Folge einer durchgängigen Willkürherrschaft ihrer Menschenrechte und –würde beraubt und im besten Fall als menschliche „Sonderangebote“ an die Bundesrepublik verkauft wurden, beklagt Korzilius das nachlassende Interesse für die Leiden der Opfer des im sowjetischen Machtinteresse errichteten und von ihren inländischen Helfershelfern über 40 Jahre aufrechterhaltenen Systems. Dabei plädiert der Autor keineswegs für Rache, aber ebenso wenig für eine politische Kultur des Vergessens und Verzeihens. Leider greift diese Haltung angesichts einer sich ausbreitenden Hinnahme, wenn nicht gar retrospektiver stillschweigender Billigung dieser zweiten Form totalitärer deutscher Diktatur, angesichts der internationalen Rahmenbedingungen der Jahre nach 1989 und der zyklischen Weltwirtschaftskrise immer mehr um sich. Die Täter sind ohnehin noch unter uns.

Doch auch auf weitere, zum Teil spannende Beiträge, wie die von J. Hecht über die Unterlagen der HVA und ihren Verbleib, über Städtegeschichtliches und Stadtgegenwart bei P. Springer und bei A. Sterling ist hinzuweisen: Ebenso auf die Studie von A. Schüle „Die gesellschaftliche und lebensgeschichtliche Bedeutung weiblicher Industriearbeiter in der DDR". Auf das kulturelle und politische Erbe der DDR machen D. Winkler, „ Schubladentexte aus der DDR“ und H. Schäfer, „Laboratorium Deutsche Einheit – Aufbau Ost: Erfahrungen der Stiftung der Geschichte der Bundesrepublik“, am Beispiel des Zentrums für deutsche Einheit und des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig aufmerksam.

G. Wettig eröffnet das Schlusskapitel, das „Einigungsaspekte“ überschrieben ist. Er geht in seinem Aufsatz, unter dem etwas sperrigen Titel, „Wege des Bemühens um die nationale Einheit in der Zeit des Kalten Krieges“, allen wesentlichen deutschlandpolitischen Strategien der Jahre 1945 bis 1990 nach. Dabei wird seine Kritik besonders an der Linie des Chefplaners der deutschen Ostpolitik seit 1969, Egon Bahr, verständlich. Bahr hatte einige Zeit erfolgreich den beiden Hauptkräften des weltpolitischen Ringens zu widerstehen versucht. Der ehemalige Chefkommentator des US-amerikanischen Senders RIAS Berlin war immer wieder gegen die Hochrüstung der Vereinigten Staaten angerannt, der die Sowjets freilich wenig, zuletzt praktisch nur noch die Drohung mit dem Weltuntergang, entgegenzusetzen hatten. Und Bahr hatte gegen die Oppositionellen und Dissidenten im sowjetischen Imperium argumentiert, die die objektiven Tendenzen der Geschichte am Ende des 2o. Jahrhunderts in die Welt der erlebbaren Realität hoben, damit die protokoloniale Vorherrschaft Moskaus brachen und der Kooperation der herrschenden politischen Klassen ein verdientes Ende bereiteten. Wettig ist fair genug, die Leistung Brandt und Bahrs ausgiebig zu würdigen, die in der Aushandlung eines wertvollen Modus vivendi bestanden. Daß der Ostblock in einem so kurzen Zeitraum zusammenbrechen würde, haben wohl auch die meisten Politikberater nicht voraussehen können.

A. von Plato wertet in einem besonders lesenswerten Beitrag ca 60 Interviews aus, die vom ZDF für die Dokumentation des Fernsehfilms „Deutschlandspiel“ verwendet wurden. Dabei belegt er die These, es gebe bezüglich der Fragen der „Beendigung des Kalten Krieges und staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands einen Kampf um die Interpretation der Geschichte, die im Rückblick die Geschichte selbst und die Protagonisten dieses Prozesses verändert“. Angesichts der meiner Meinung tendenziell unvermeidlichen, für lange Zeit unipolaren Sonderstellung der USA und des daraus abgeleiteten verschämten, wenn nicht gar unverschämten Weltherrschaftsanspruches wird sich meines Erachtens eine Koalition von Staaten bilden, die diesen einzudämmen oder gar zurückzurollen suchen. Dabei werden die Mythen der Geschichte in der Auseinandersetzung um die Gewinnung der geistigen Hegemonie über die Retrospektive ihre Rolle spielen. Von Plato hebt dies in unser Bewusstsein und rechnet mit offensichtlichen nachträglichen Einsichten und Verkürzungen einiger Akteure ab.

Abschließend setzen Faulenbach und Veen unterschiedliche Akzente hinsichtlich des Standes der inneren Wiedervereinigung, wobei der Beitrag von J. Hofmann, „Identifikation und Distanz“ im Spiegel der Untersuchungsreihe „ident“, nicht zuletzt in Hinblick auf die zunehmend von Demokratie und Sozialer Marktwirtschaft enttäuschten ehemaligen DDR-Bewohner, eher die skeptische Bewertung Faulenbachs unterfüttert. Veen dagegen arbeitet heraus, dass die innere Einheit besonders deshalb so schwer hergestellt werden könne, weil der Maßstab des Erreichbaren und Erreichten aus parteipolitischen Motiven immer wieder manipuliert werde. Seiner Meinung sei zwischen Ost und West das Grundsätzliche der Werteordnung längst nicht mehr strittig. Das Ergebnis der Bundestagswahlen vom September scheint ihm recht zu geben. Die Parteigänger der PDS sind in großen Scharen zur Sozialdemokratie abgewandert.

Wer die von Heiner Timmermann edierte Publikation mit Interesse zur Kenntnis nimmt, wird sich der Themenpluralität nicht entziehen können. Besonders, weil nahezu alle Beiträge auf hohem sozialwissenschaftlichem Niveau verfasst und flüssig zu lesen sind. Gleichzeitig mag auch der Fachmann vor den fast 700 Seiten des Buches etwas zurückschrecken. Wer von dem Untertitel, „Von der Teilung zur Einheit“, eine Wegbeschreibung des Buches erhofft, wird möglicherweise enttäuscht sein. Insofern wäre „Deutsche Fragen – Deutsche Antworten“ oder „Miszellen zur deutschen Frage“ zutreffender gewesen. Auch die Zuordnung der einzelnen Beiträge zu den jeweiligen Kapiteln ist oftmals willkürlich. Zur politischen Bildung wie auch für historische und sozialwissenschaftliche Seminare ist die Veröffentlichung durchaus empfehlenswert.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension