I. de Keghel: Die Staatssymbolik des neuen Russland

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Titel
Die Staatssymbolik des neuen Russland. Traditionen - Integrationsstrategien - Identitätsdiskurse


Autor(en)
de Keghel, Isabelle
Reihe
Analysen zur Kultur und Gesellschaft im östlichen Europa 21
Erschienen
Münster 2009: LIT Verlag
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elisa Ruiz Velasco Garcia, Institut for Historie og Omradestudier, Aarhus Universitet

Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Gründung der Russischen Föderation Anfang der 1990er-Jahre kam es zu einer Reform der staatlichen Symbole Russlands. Wie in anderen Transformationsländern des ehemaligen Ostblocks erregte diese Veränderung die Aufmerksamkeit vieler Forscher. Isabelle de Keghel hat nun einen chronologischen Überblick der Veränderung der Staatssymbole Russlands über einen längeren Zeitraum – von 1990/91 bis 2007 – vorgelegt. Er stellt eine „erweiterte und aktualisierte Version“ (S.15) eines bereits 2003 veröffentlichten Arbeitspapiers zu dieser Thematik dar.1

De Keghel wählt einen engen Begriff der Staatsymbolik und versteht darunter Flagge, Hymne und Wappen (S. 21f.), die sie als „lieux de mémoire“ (Pierre Nora) interpretieren möchte – als Orte, „die helfen, das historische Gedächtnis und die kollektive Identität im öffentlichen Raum aufrechtzuerhalten“ (S. 25). Die Änderung der Staatssymbole während der Transformation versteht de Keghel als „Übergangsritual“ im Sinne von Arnold van Gennep (S. 26). Ein damit einhergehendes Kommunikationsdefizit definiert sie mit Serguei Oushakines Begriff der „symbolischen Aphasie“: Nach de Keghel ist der Übergang der Symbole mit einer Phase der Sprachlosigkeit verbunden, in der „auf alte symbolische Formen zurückgegriffen wird, um diesem Defizit an Ausdrucksmöglichkeiten nach dem Zusammenbruch der alten symbolischen Ordnung entgegenzuwirken“ (S. 26).

In dieser Perspektive widmet sie sich zunächst den Strategien Jelzins, eine neue Staatssymbolik zu begründen. In den 1990er-Jahren wurden neue Wappen und Flaggen sowie eine neue Hymne bestimmt; de Keghel präsentiert dem Leser die verschiedenen Symbole, die zur Wahl standen. Sie kommt zu dem Fazit, dass Jelzin seine Chance nicht nutzte, „die Einführung der neuen Staatsymbolik als ‚Ritual des Übergangs’, als Sinnbild des unwiderruflichen Systemwechsels aufwendig zu inszenieren“ (S. 68). Es sei jedoch verständlich, dass im Zusammenhang der damaligen schwerwiegenden wirtschaftlichen und politischen Probleme dieses Thema nicht die höchste Priorität genoss (S. 69).

Anschließend erklärt die Autorin die Strategie Putins nach ähnlichem Muster. Hier wird den politischen und publizistischen Auseinandersetzungen um die Reform der Staatsymbole viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei lässt De Keghel sehr verschiedene Stimmen zu Wort kommen, von der Duma bis hin zu dem Satiriker Wladimir Woinowitsch.

Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der Rezeption der Staatssymbolik anhand von Umfrageergebnissen. Zunächst werden die Umfragen des Fonds „Obschtschestwennoje Mnenije“ („FOM“, das heißt Fond „Gesellschaftliche Meinung“) aus den Jahren 1999-2004 präsentiert.2 Der FOM hat mehrere Umfragen zu den Staatssymbolen in der Russischen Föderation durchgeführt. Dabei wurden Bürger beispielsweise nach ihren Kenntnissen von und ihrer Zufriedenheit mit den neuen Staatssymbolen befragt. Die im Buch präsentierten Ergebnisse der FOM-Umfragen sind jedoch mit einer gewissen Vorsicht zu interpretieren – de Keghel weist mehrmals darauf hin, dass der FOM dem Präsidenten nahe stehe (S. 157, 171) und seine „Aufgabe darin besteht, die offizielle Politik mit entsprechenden Umfragen zu unterfüttern“ (S. 171). Die Ergebnisse des FOM fasst de Keghel in der Aussage zusammen, dass die „Programme zur Popularisierung der Staatssymbolik bisher kaum zu einem Aneignungsprozess geführt haben“ (S. 172).

Nach der Darlegung der Ergebnisse des FOM präsentiert de Keghel die Bilanz ihrer eigenen Umfrage. Hierbei handelt es sich um eine qualitative Studie, die sie im Rahmen eines größeren Projektes von September bis Dezember 2004 in Moskau durchführte. Diese nimmt einen Großteil des Buches ein (S. 173-236) und ist die wichtigste Ergänzung gegenüber dem Arbeitspapier de Keghels aus dem Jahr 2003. Insbesondere Historiker und andere Mitglieder der Intelligenz wurden zu ihrem Verhältnis zu den neuen Staatssymbolen befragt. Im Allgemeinen decken sich die Schlussfolgerungen der Studie de Keghels mit denen des FOM (S. 235).

Das Buch endet mit einem Schlusswort zur Strategie Putins. De Keghel kritisiert dessen Strategie als „nicht innovativ“ (S. 237), da sie Symbole aus verschiedenen Epochen der russischen Vergangenheit beinhalte. Dies interpretiert sie als ein Verbleib in der „symbolischen Aphasie“ der Jelzin-Ära (S. 237). Sie deutet Putins Strategie als „ein Wiederaufbau vertrauter Symbolwelten, […] die den Menschen Geborgenheit und Sicherheit vermitteln sollen“ (S. 239). Dabei lehnt sie Christiane Uhligs Interpretation ab, die Putins Symbolik als Vermittlung von imperialen Werten auffasst (S. 239).

De Keghels Themenwahl ist durchaus relevant und spannend. Ihre Zusammenfassung einer so langen Zeitspanne der Reformen der russländischen Staatsymbolik ist eine arbeitsaufwendige Leistung, die vielen Lesern von Nutzen sein wird. Problematisch sind allerdings mehrere unschlüssige Verweise, etwa in Bezug auf die Entstehung von Nationalflaggen und ihrer – von de Keghel selbst als Erinnerungsort identifizierten – Rolle. Dem scheint de Keghel selbst zu widersprechen, wenn sie mit Verweis auf den Symbolwandel in Kroatien schreibt: „Meist wissen die Durchschnittsbürger/innen sehr wenig über die Ursprünge und diffizilen Deutungsmöglichkeiten der in ihrem Land verwendeten Staatssymbolik“ (S.25). Auch genauere Belege, Formulierungen und Kontextualisierungen hätten erhellender gewirkt.

So fehlt etwa in den Ausführungen zu den Auseinandersetzungen um die neuen Symbole unter Jelzin ganz besonders häufig die Auskunft darüber, wer welche Argumente vorbringt. Verweise auf Zeitungsartikel lassen manchmal offen, ob die zu belegenden Aussagen die Meinungen des Journalisten oder die Meinung eines Dritten wiedergeben, hin und wieder ist der Zusammenhang der wiedergegebenen Äußerungen unklar. Der Abschnitt über die Putin-Ära ist tendenziell besser belegt.

Aus den im Buch präsentierten Umfragen kann nicht verallgemeinernd auf die Rezeption der neuen Staatssymbole in Russland geschlossen werden. Beide Umfragen sind nicht repräsentativ. Die qualitative Studie de Keghels ist es nicht, weil alle Befragten Moskauer und dabei fast alle Akademiker sind. Ein Vergleich beider Studien ist nur schwer möglich, weil sie einen unterschiedlichen Typus haben – die eine ist eine quantitative, die andere eine qualitative Studie. Aus diesen Gründen können die Thesen de Keghels mit den von ihr dargelegten Studien nur begrenzt untermauert werden.

Alles in allem erschließt sich nicht, warum de Keghels Kernthese – dass Russland an einer „symbolischen Aphasie“ leide – die anders lautende These, nach der die alte-neue Staatsymbolik der Wiederbelebung von imperialen Bestrebungen dient, widerlegen würde (S. 237-240) – zumal sich beide Positionen keineswegs ausschließen.

Anmerkungen:
1 Isabelle de Keghel, Die Staatssymbolik des neuen Russland im Wandel. Vom antisowjetischen Impetus zur russländisch-sowjetischen Mischidentität, in: Arbeitspapiere und Materialien der Forschungsstelle Osteuropa, Nr. 53, Bremen 2003.
2 Die Bezeichnung wird im Buch fälschlicherweise als „Fond obščestvennogo mnenija“ (S. 157) statt als Fond „Obščestvennoe Mnenie“ wiedergegeben, vgl. http://www.fom.ru/.

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