Titel
Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis


Autor(en)
Evans, Richard J.
Erschienen
Frankfurt am Main 1998: Campus Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Thomas Etzemüller, Seminar für Zeitgeschichte, Universität Tübingen

1935 entwarf Ludwik Fleck in seinem Klassiker "Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache" die Theorie des "Denkkollektivs" und des "Denkstils": Das Denkkollektiv ist eine Gemeinschaft von Wissenschaftlern, die in gedanklicher und sozialer Wechselwirkung stehen und die Träger eines spezifischen Denkstiles sind. Der Denkstil disponiert das Denkkollektiv, die Welt auf eine bestimmte Art zu sehen. Die Angehörigen zweier unterschiedlicher Denkkollektive können sich deshalb nicht verstehen, sie sehen, wenn sie auf dasselbe blicken, zwei vollständig verschiedene Dinge. 1 Richard J. Evans Buch über die "Grundlagen historischer Erkenntnis" bestätigt diese Theorie.

Evans zieht gegen die "Postmoderne" zu Felde, genauer gesagt gegen ein unvollständiges Sample postmoderner Denker, die er aber "die" Postmodernen nennt. Sein Ziel ist es, deren "Auffassung, alle Perspektiven auf die Vergangenheit seien gleichermassen voreingenommen, weil die Historiker nicht viel mehr machten, als den Quellen ihre eigenen Überzeugungen und Vorurteile aufzuzwingen" (S. 7), zu widerlegen. Es gibt eine Realität jenseits der Texte, so Evans, und man kann sich ihr durch methodengeleitete, kritische Forschung annähern. Wissenschaftliche Objektivität ist kein Mythos, sie ermöglicht die Rekonstruktion eines wahren Bildes von der Vergangenheit. Nicht alles ist beliebig, man kann entscheiden, welche geschichtswissenschaftlichen Texte der Realität näher kommen als andere - selbst wenn eine "höhere, letztlich unangreifbare Stufe von Objektivität und Gewissheit" nicht erreichbar ist (S. 48).

In acht Kapiteln, u.a. zur Frage der Moral, der Fakten, der Quellen und Diskurse, der Kausalität oder der Objektivität und ihrer Grenzen, mustert Evans postmoderne Ansätze und setzt die seinen dagegen. Dabei spiesst er zurecht manchen Exzess postmoderner Theoretiker auf, auch gelingen ihm klar formulierte, knappe und treffende Charakterisierungen ihrer Positionen. Doch wenn er dann versucht, sich argumentativ mit ihnen auseinanderzusetzen, so zielt er meist an ihnen vorbei. Hayden White etwa geht es darum, wie narrative Modelle, rhetorische Figuren und Metaphern wissenschaftliche Texte in der Tiefe strukturieren, wie mit ihrer Hilfe bruchstückhafte Quellenpartikel erst zu einer Geschichte zusammengefügt werden und Lesern wie Forschern ein kohärentes Bild von der Vergangenheit suggerieren. Evans begnügt sich mit der Oberfläche und spricht von den "literarische[n] Qualitäten" der Historiker (S. 76), die einen Text sicherlich lesbarer machen können, die aber "die Klarheit und Präzision der Beweisführungen und Interpretationen des Historikers eher ergänzen als beeinträchtigen" sollten (S. 73f.).

Gabrielle Spiegel ist der Auffassung, daß uns die Geschichte nur in textlicher Form gegenwärtig ist, Evans erwidert, daß eine historische Quelle nicht dasselbe wie ein literarischer Text sei, weil sie nicht notwendig eine Geschichte erzähle (S. 110f.).

Daß Michel Foucaults Diskurse "frei durch die Geschichte" schweben (S. 86) ist schlicht falsch; daß bestimmte Wahrheitsinsignien in wissenschaftlichen Texten: Fussnoten, wörtliche Zitate, Sprachregelungen etc., Leser davon überzeugen sollen, "daß die nicht beweisbaren Darstellungen der Historiker über die Vergangenheit wahrhaftige Berichte seien" (S. 96), referiert Evans als Position Roland Barthes', aber er setzt diesen "Wirklichkeitseffekt" mit einem bewußten "Schwindel" (ebd.) am Leser gleich und diskreditiert dadurch leichthändig erkenntnistheoretische Ansätze, die lange vor Barthes entwickelt wurden und heute intensiv diskutiert werden.

Die Klage, daß sich die postmodernen Denker der "Verantwortung gegenüber den Quellen" entzögen (S. 86) wiederum wirft die Frage auf, was Evans unter einer Quelle versteht: offenbar keine gedruckten Texte, sondern allein ungedruckte Archivalien. Damit kann er Untersuchungen, die die Werke von Historikern zu dekonstruieren versuchen, mühelos als sekundär abqualifizieren. Seine Unterscheidung von Quellen, Fakten und Belegen bleibt widersprüchlich (vgl. S. 79-87), und die gegen den "linguistic turn" gewandte These, daß die Bedeutung vergangener Begriffe sehr wohl isoliert und eindeutig rekonstruiert werden kann, hat der hochkonservative Otto Brunner seit dem Historikertag von 1937 immer wieder sehr scharf und scharfsinnig kritisiert - mit eindeutigen politischen Hintergedanken, die zeigen, wie sehr nicht nur die Geschichtsschreibung, sondern auch - trotzdem als gültig akzeptierte - erkenntnistheoretische Positionen durch den Gegenwartsbezug des Wissenschaftlers geprägt werden.

Evans kann an seiner Vorstellung, daß (relative) wissenschaftliche Objektivität möglich ist, festhalten, weil er ein Schreckbild postmodernen Denkens erzeugt und zerstört, und weil er zugleich die gesamte wissens- und wissenschaftssoziologische Diskussion von Mannheim über Merton, Fleck, Luhmann bis Knorr-Cetina, die die soziale Bedingtheit des Erkennens, verborgene Dispositionen der Rezeption oder gar den fiktionalen Charakter selbst naturwissenschaftlicher Fakten verhandeln, ignoriert - obwohl diese Autoren nach seinem Verständnis durchaus als postmodern einzuschätzen sind. Hätte er sie wahrgenommen, statt sich auf "die" Postmodernen einzuschiessen, so hätte er zur Kenntnis nehmen können, daß man zwei Seiten derselben Medaille sehen sollte: Einerseits die radikale, grundsätzliche Behauptung, es gebe keine objektive Bedeutung der Dinge an sich - weshalb theoretisch alles möglich ist -, andererseits die alltägliche Lebenspraxis von Menschen, in der Diskurse (Foucault), Denkstile (Fleck), Habitus (Bourdieu) und Kommunikation (Luhmann) soziale wie geistige Strukturen bilden, die aus dem theoretisch unendlichen Spiel von Bedeutungen sehr wohl eine Auswahl treffen, Bedeutungen zuweisen und nicht jede Interpretation und alles zulassen. Nicht jedoch die Bedeutung autonomer Fakten und das "Veto der Quellen" regulieren die wissenschaftliche Interpretation, sondern die komplexe Konstellation sozialer wie geistiger Dispositionen. Deshalb sind Interpretationen stets prinzipiell gleichmöglich, trotzdem aber faktisch nie gleichwertig.

Evans ist dieses Denken sichtbar fremd. Er spricht immer wieder von der Intention der Historiker bzw. der Verfasser von Quellen, davon, daß sich "explizite moralische Urteile nicht in Theorie und Methodologie der Forschung einlagern" sollen (S. 57), von Willkür, Manipulation, tendenziöser Interpretation und Ideologie - all das sind Begriffe, die unlösbar mit dem Glauben an das autonom handelnde und denkende Individuum verbunden sind. Die "Fakten existieren vollkommen unabhängig von den Historikern" (S. 79), korrespondierend liegt die Fähigkeit, sie zu erkennen, in den Individuen. So bleibt ihm von dieser Warte aus wohl keine andere Strategie, als abweichende erkenntnistheoretische Positionen mit einem moralischen Argument zu erschlagen. Er verweist auf Auschwitz. "Auschwitz war kein Diskurs. Massenmord als Text anzusehen bedeutet, ihn zu verharmlosen. Die Gaskammern waren keine rhetorische Figur. Auschwitz läßt sich weder als Komödie noch als Posse ansehen. Wenn dies für Auschwitz gilt, dann muss es aber auch für andere Aspekte der Vergangenheit gelten" (S. 123). Dagegen läßt sich auf den ersten Blick nichts mehr einwenden, die "totalen Relativierer" werden den "Revisionisten" und Auschwitzleugnern beigesellt und sind in Evans Augen entscheidend geschlagen. Doch er übersieht, daß nicht Auschwitz als Diskurs angesehen wird, sondern die Geschichtsschreibung über Auschwitz, daß Auschwitz nicht als Komödie gesehen wird, wohl aber als Komödie dargestellt werden kann, wie es Robert Begnini mit seinem Film "Das Leben ist schön" (1998) versucht hat. Darüber kann man durchaus geteilter Meinung sein, doch das entbindet nicht davon, sauber zu argumentieren.

Eine Auseinandersetzung kann man Evans Buch nicht nennen. Nur an drei, vier Stellen seiner Kampfschrift geht er auf den Nutzen postmodernen Denkens ein: Es habe das Bewusstsein für die Quellenproblematik geschärft, und vor allem - Historiker bemühten sich wieder, lesbarer zu schreiben! Ansonsten lehnt Evans "die" Postmoderne einfach ab, ohne die eigenen Vorannahmen zu reflektieren. Zu den Grundlagen historischer Erkenntnis ist er deshalb nicht vorgedrungen, sondern hat - in der Theoriesprache Flecks - ein Glaubensbekenntnis abgelegt. Er glaubt, daß "die" Postmoderne die totale Beliebigkeit predigt und setzt dagegen immer wieder seine "Überzeugung" und seine "Zuversicht", "daß objektives historisches Wissen sowohl wünschenswert als auch erreichbar bleibt." (S. 243)

Im Grunde ist Evans wie ein Kapitän, der auf der Schiffsbrücke steht, in die Ferne sieht und sein Ziel ansteuert. Er erkennt unklar die Berge am Horizont, aber er erkennt sie als Berge, verläßt sich darauf, daß wirklich Berge sind, was er sieht, und peilt sie an. Wenn er dann das Land betritt, kann er entscheiden, ob er dort ist, wo er hinwollte oder nicht. Für die Kapitäne unter den Historikern ist Geschichtsschreibung nur dann für die Gegenwart relevant, wenn sie die Berge (die vergangene Realität) möglichst genau abbilden.

Ein "postmoderner" Historiker dagegen ist wie ein U-Boot-Komandant. Er sieht nichts ausserhalb seines Bootes, empfängt aber Reize in Form von Lichtpunkten auf dem Monitor und Lautsignalen, die er als Daten ("Fakten") interpretiert. Nach ihnen bestimmt er seinen Kurs und ist zuversichtlich, bei korrekter Berechnung erfolgreich auf Fahrt zu bleiben. 2 Die Kommandanten unter den Historikern setzen Bruchstücke, die sie als Überreste der Vergangenheit deuten, zu Bildern der Vergangenheit zusammen. Sie fühlen sich von der Vergangenheit restlos abgeschnitten, sie können keine beweiskräftige Aussage wagen, ob sie jemals stattgefunden hat. Sie tun aber, um miteinander reden zu können, so, als ob. Relevant ist für sie eine Geschichtsschreibung, die sich zur Orientierung der Gesellschaft in der Gegenwart als tauglich erweist. Dabei sind durchaus nicht alle Interpretationen der Überreste gleichwertig, sondern sie müssen - zumindest in den Augen der Fachkollegen - plausibel sein und sich in der gesellschaftlichen Kommunikation bewähren. 3

Die Kapitäne und die Kommandanten leben in zwei verschiedenen Denkwelten. Wie schwer eine Verständigung zwischen ihnen fällt, zeigt Evans Buch.

Anmerkungen:
1 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a.M., 2. Aufl. 1993.
2 Das Bild ist natürlich etwas schief. Erstens navigieren auch Schiffskapitäne meist nicht auf Sicht, sondern mit Hilfe der Schiffsinstrumente, zweitens steigt irgendwann auch die U-Boot-Besatzung an Land und erkennt, wo sie gelandet ist.
3 Dazu demnächst ausführlich: Thomas Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945. München 2001 (Dr. in Vorb.).

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