M. Pally: Die neuen Evangelikalen

Cover
Titel
Die Neuen Evangelikalen in den USA. Freiheitsgewinne durch fromme Politik


Autor(en)
Pally, Marcia
Erschienen
Anzahl Seiten
353 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Krämer, Exzellenzcluster: Religion and Politics, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Hatte Mark Noll noch Mitte der 1990er-Jahre mit Seitenblick auf die Christliche Rechte subsumiert, „the scandal of the evangelical mind is that there is not much of an evangelical mind“, sieht Marcia Pally nun seit wenigen Jahren „Freiheitsgewinne durch fromme Politik“ – wie sie im Untertitel der deutschsprachigen Ausgabe ihres Buches über „Die Neuen Evangelikalen in den USA“ verspricht.1 Im Mai 2008 hatte sich eine beachtliche Gruppe religiöser Vertreter/innen mit einem „Evangelical Manifesto“ zu Wort gemeldet, wodurch sie versuchten, ihre Rolle in der US-Gesellschaft auf ein neues Fundament zu stellen (S. 14). Mit dem Begriff „Neue Evangelikale“ verbindet sich bei Pally nun vor allem die Hoffnung, dass der politische Evangelikalismus (wieder) sozial werden und von links kommen möge, nach langen Jahrzehnten, in denen eine „Christliche Rechte“ die US-Politik auf unterschiedlichen Ebenen mitprägte.2 Sicher hat der Säkularismus in der US-Geschichte eine spezifische Spannung zwischen Religion und Politik hervorgebracht und Evangelikale wirkten darin während der meisten Perioden auf gesellschaftspolitischem Terrain. Das betont auch Pally immer wieder und macht grob zwei Strömungen des Evangelikalismus in der Geschichte der Vereinigten Staaten aus. So unterscheidet Pally in eine „sozialistische und etatistische“, zum anderen in eine „kapitalistische und unternehmerische“ Tradition. Beide Richtungen verortet sie im amerikanischen Antiautoritarismus, der gewissermaßen beidfüßig die Sorge um Individuum und Freiheit vor sich her getrieben hatte (S. 303f.).3 Seit 2008 hat Pally nun also Interviews mit Funktionären, Pastoren und Laien aus dem Spektrum der „Neuen Evangelikalen“ geführt und ihre qualitative Auswertung mit einer kleinen Geschichte der USA sowie mit differenzierten Gegenwartsbetrachtungen versehen. Samt Gesprächsniederschrift und unterteilt in drei Hauptkapitel hat „Berlin University Press“ den Band als Hardcover gedruckt.

Der erste Teil beginnt mit einer sehr lesenswerten Einleitung, in der die Autorin ihr Erkenntnisinteresse darlegt. Es gehe um das Nachdenken über die Verknüpfung von „dynamischem religiösen Leben“ und „liberaler Demokratie“, die nichts weniger leisten solle, als dass sie „allen Bürgern gerecht“ werden möge (S. 17). Zur Beförderung dieser Idee hätten die „Neuen Evangelikalen“ ihre Rolle insbesondere aus der Reflexion des eigenen Standpunktes, der Toleranz gegenüber Andersgläubigen und der Abgrenzung zum Fanatismus rechter Evangelikaler bezogen (S. 20). Pally geht es nicht um eine quantitative Erhebung eines empirischen Meinungsbildes in der US-Politiklandschaft der Gegenwart, wie sie klar macht (S. 37). Allerdings gelingt es ihr, mit historischen Erklärungen, auch mit manch kurzem Blick über den Tellerrand der US-Politik hinaus, die Relevanz des Zusammenhangs von Säkularismus und Religion für das Selbstverständnis moderner Staaten abzustecken (S. 18, 38).

Im folgenden Part galoppiert Pally ein wenig breitläufig durch die verschiedenen Ecken des früh-neuzeitlichen Europa, führt die Leser/innen von Debatten um Glaubensfreiheit im 16. Jahrhundert über den Westfälischen Frieden bis zur Französischen Revolution. Eher lexikalisch ist die Einordnung der komplexen Historie in Entwicklungsstufen geraten (S. 41, 44f.). Doch sie landet in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts, wo sie durch die Linse ihrer Fragestellung nach dem Beitrag Evangelikaler zur Gesellschaftordnung in Nordamerika eine Historisierung der fraglichen Politikgeschichte leistet (S. 50f.). Armenfürsorge und Kampf gegen Rassismus werden bis ins frühe 20. Jahrhundert als entscheidende Themen des sozial-religiösen Engagements markiert. Dann beschreibt Pally die konservative Wende des Evangelikalismus in den 1960er- und 1970er-Jahren. Wie die meisten Autor/inn/en, die eine Herleitung der Christlichen Rechten im letzten Drittel des 20. Jahrhundert versucht haben, beginnt sie zunächst mit dem ersten Drittel des Jahrhunderts und skizziert eine Szenerie, in der anti-moderne Fundamentalisten das Gesicht des Evangelikalismus wurden, die soziale Fraktion der Evangelikalen dagegen in protestantische Mainline-Kirchen flüchtete. Der Kampf gegen den Darwinismus avancierte zum Markenzeichen der Religion in den 1920er-Jahren. Pally differenziert im Rückgriff auf die historischen Zusammenhänge die theologische, letztlich wissensgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Darwinismus und macht klar, dass auch politische Gründe, wie der Wegfall des Alkohol-Themas durch die Prohibition, den Anti-Darwin-Boom im frühen US-Fundamentalismus befördert hätten (S. 62). Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts bewirkten Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs – so 1947 zur Trennung von Religion und Politik in den einzelnen Bundesstaaten – eine erste Mobilisierung unter evangelikalen Christen (S. 64). Doch erst das Bündnis mit der Republikanischen Partei Mitte der 1960er-Jahre brachte Religion endgültig auf die politische Bühne zurück. Verschiedene Themen, wie die Entscheidung über das Abtreibungsrecht 1973 oder die Frage nach öffentlichen Geldern für religiöse Privatschulen, gerieten zu Triebfedern des politischen Aktivismus seitens fundamentalistischer Kreise (S. 66). Neben schlüssigen Erklärungen bevölkern viele Zahlen über religiöse Anhängerschaft Pallys Erwägungen zur politischen Entwicklung der vergangenen dreißig Jahre (S. 70-91). Sie skizziert „ungelöste Probleme“ zwischen Kirche und Staat und bereitet an verschiedenen Themen wie Arbeitsverhältnissen oder religiösen Symbolen in öffentlichen Räumen die Problemlagen auf, die aus den historischen Auseinandersetzungen erwachsen sind (S. 76, 80f.).

Im zweiten Hauptkapitel wendet sich Pally den „Neuen Evangelikalen“ zu. Sie synthetisiert die Ergebnisse ihrer Erhebung zu den politischen Potenzialen aus dem religiösen Feld der Gegenwart. Auf 12-13 Prozent der Bevölkerung seien die Anhänger der Religiösen Rechten 2009 geschrumpft, nachdem ihr Anteil 2004 noch bei 25 Prozent gelegen habe (S. 102). Das ist gewissermaßen ein empirischer Ausgangspunkt der Überlegung zur Trendwende. Aber Pally führt auch strukturelle Beispiele an, in denen sich evangelikale Kirchen und Organisationen bereits zwischen 2005 und 2008 in Richtung sozialem Engagement bewegt haben (S. 103-115). Theologische Motive werden beschrieben, durch welche die „Neuen Evangelikalen“ ihren Antrieb bezogen sich gegen soziale Ungleichheiten einzusetzen. Unter Rückgriff auf Entwicklungen der vergangenen dreißig Jahre differenziert Pally anschaulich die Trends im religiösen Spektrum der letzten Jahre (S. 130-165). Dabei hält sie durchaus fest, dass die Probleme zwischen Religionsanhänger/inne/n und anderen gesellschaftlichen Kräften sich keineswegs aufgelöst haben (vgl. insbesondere Tabelle S. 160). Im letzten Part des zweiten Kapitels zeigt die Autorin, welche Kernthemen die neue evangelikale Bewegung – wenn sie auch immer wieder hervorhebt, dass die religiöse Bewegung nun eine grundsätzlich tolerantere Grundhaltung einnehme – von der Christlichen Rechten geerbt hat. Es geht um Abtreibung, Homosexualität und Umweltschutz. In wesentlich geringerem Maße als die beiden erstgenannten Felder ist Umweltschutz unter evangelikalen US-Bürger/inne/n der Gegenwart umstritten (S. 166); genau dieses Thema scheint konsensfähig zu sein (vgl. Tabelle S. 183).

Die Interviews, Blogbeiträge und Textausschnitte des dritten und letzten Teils des Buches sind spannend zu lesen. Man wird dabei von mancher Perspektive überrascht, häufig wird die politische Bedeutung, die Pally zuvor in ihrem Text herausgearbeitet hat, deutlich erkennbar (beispielsweise S. 188ff.). Aufgrund der Vielschichtigkeit des erhobenen Materials kann an dieser Stelle nicht im Einzelnen auf Aussagen oder das im Zuge der Untersuchung erhobene Meinungsbild im Detail eingegangen werden. Zusammenfassend ist jedoch zu sagen, dass im Interview-Part des Buches eine sehr lesenswerte Zusammenstellung von Texten abgedruckt ist. Die zuvor geleistete historische Hinführung der Autorin ist ebenfalls weitestgehend gelungen. Die Botschaft des zweiten Hauptteils lautet: Evangelikale Christen sind bereit, ihre Standpunkte zu diskutieren und sich markant von fundamentalistischen Politiken abzugrenzen. Pallys Arbeit kann den Leser/inne/n über die jüngste Entwicklung der US-Version des Spannungsverhältnisses zwischen Religion und Politik Anregung bieten. Sie eröffnet neue Blickwinkel auf die Rolle des US-Evangelikalismus in der Gegenwart. Dabei fragt Pally mehr, was die Religion für die Gesellschaft tun könne, als etwa umgekehrt. Und es wird sich zeigen, ob Hoffnungen sich erfüllen, die Marcia Pally in den Evangelikalismus bezüglich „dynamischem religiösen Leben“ und „liberaler Demokratie“ zugleich setzt. Eine lesenswerte Studie.

Anmerkungen:
1 Mark A. Noll, The Scandal of the Evangelical Mind, Grand Rapids 1995, S. 3.
2 Den Begriff „New Evangelicals“ hatte Richard Cizek geprägt, vormaliger Vizepräsident in der „National Association of Evangelicals“ (S. 331). Doch der Terminus umreißt die Gruppe und die mit ihr verknüpften Auseinandersetzung kaum trennschärfer als der Begriff „New Christian Right“, der eine medial-politische Bewegung beschreibt, die seit der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre mobilisierte und in der Verquickung von sozialer Agenda und moralistischer Politik die Kultur der USA auf christliche Fundamente zu bannen versucht war. Allerdings sind gerade die Einschätzungen über die Tragweite der Bewegung insbesondere in Hinblick auf die mediengeschichtliche Dimension und die körperpolitische Bedeutung umstritten – vgl. Felix Krämer: Rezension zu: Shields, Jon A.: Democratic Virtues of the Christian Right. Princeton 2009, in: H-Soz-u-Kult, 22.06.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-2-216> (11.07.2011).
3 Vgl. insbesondere im Hinblick auf die von Pally skizzierten zwei Traditionslinien: Robert Jewett / Ole Wangerin, Mission und Verführung. Amerikas religiöser Weg in vier Jahrhunderten, Göttingen 2008.

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