Cover
Titel
Sowjetische Schriftpolitik zwischen 1917 und 1941. Eine handlungstheoretische Analyse


Autor(en)
Frings, Andreas
Reihe
Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 73
Erschienen
Stuttgart 2007: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
455 S.
Preis
€ 72,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörn Happel, Universität Basel

„Wir sollten nicht von einem Alphabet zum anderen hüpfen. Wir müssen daran denken, dass bei jedem Alphabetwechsel ein gewisser Teil der Bevölkerung zu Analphabeten wird.“ (S. 348) Andreas Frings zitiert hier den Vorsitzenden des Nationalitätenrates Chazkewitsch, dessen Kritik aber ungehört blieb: Nach einer Latinisierung vieler Alphabete in der Sowjetunion erfolgte 1938 deren Kyrillisierung. So beschäftigt sich Frings in seiner Mainzer Dissertation mit einer der rätselhaftesten und wichtigsten politischen Entscheidungen der Sowjetunion im kulturellen Bereich (S. 376). Warum nahmen rund 40 Völkerschaften in den 1920er-Jahren das lateinische Alphabet an (die meisten schrieben vorher auf arabisch, aber auch auf kyrillisch und hebräisch; viele waren vorher schriftlos), um nur wenige Jahre später zum kyrillischen Alphabet überzugehen? Frings Antwort ist beeindruckend scharf, vermeidet Redundanzen und räumt mit zahlreichen alten Hypothesen auf, die sich hartnäckig in der Wissenschaftslandschaft gehalten und das Zentrum alleine für die wirre Schriftpolitik verantwortlich gemacht haben.

Ausgehend vom Modell des Soziologen James S. Coleman1 (S. 42f.) untersucht Frings seine klar definierten Ausgangsfragen – wieso wechselten Völker in der Sowjetunion von einer etablierten zur lateinischen Schrift und dann zur Kirillica (S. 53) – mit der „Rational Choice-Methodologie“.2 Schlüssig beschreibt Frings deshalb in seinen Kapiteln stets die vorgefundene historische Situation, dann die Logik der Segregation (vom Akteur zur Handlung), schließlich die Logik der Aggregation (von der Handlung zur Erklärung der sozialen Situation). Indem Frings in teilweise langen Zitaten seine Akteure für sich selbst sprechen lässt, erzählt er konsequent Geschichten, was er als ein Ziel seiner Arbeit definiert (S. 39). Dabei steht für Frings fest, dass es der Akteur ist – die Tataren in Kasan und die Aserbaidschaner in Baku agieren als Kollektivakteure –, der stets rationale Entscheidungen trifft, die historisch gekennzeichnet werden können.

Seine Dissertation hat Andreas Frings inhaltlich in zwei große Blöcke unterteilt: in die Latinisierung und die Kyrillisierung der einzelnen Alphabete. Seine Archivstudien haben ihn nach Moskau, Baku und Kasan geführt. Die Wahl der Archive außerhalb Moskaus sollte den Blick über das Zentrum hinaus ausweiten, um Interaktionen verschiedener Akteure präzise zu beschreiben (S. 33). Hierdurch gelingt es Frings, die von vielen Autoren zugrunde gelegte Dichotomie von Zentrum und Peripherie aufzubrechen. Es ist ein Genuss zu lesen, wie die Akteure in Baku und in Kasan bei der Diskussion um eine Neuverschriftung ihrer arabischen Alphabete, deren Vokalzeichen für die Türksprachen ungenügend erschienen, interagierten; wie sie um Moskaus Gunst buhlten; wie sich die Bakuer letztlich mit der Hinwendung zum lateinischen Alphabet gegen die von Kasan befürwortete Modifizierung des arabischen durchsetzten (zusammenfassend: S. 402f.).

Andreas Frings veranschaulicht mittels der Rekonstruktion der Diskussionen an der Peripherie, zwischen den Peripherien und im Kontakt mit dem Zentrum in Moskau, dass die Umstellung der Alphabete zum Lateinischen und dann zum Kyrillischen keineswegs zentrale Forderungen oder gar ein zentraler Zwang gewesen sind. Im Streit zwischen den beiden für die Diskussion wichtigsten Akteuren, Baku und Kasan, griff Moskau nicht ein, um die Latinisierung durchzusetzen, sondern damit nicht jede Republik ihren eigenen Weg ging (S. 234f.). Die Entscheidung für Aserbaidschan und gegen Tatarstan ließ dann offensichtlich andere Sprachgruppen glauben, es handle sich bei der Bevorzugung des Lateinischen um einen Grundsatzbeschluss (ebenda). Außerdem wurden die Befürworter eines modifizierten Arabisch plötzlich massiv bedroht (S. 203; hier vor allem die Tataren und die sich ebenfalls dem Lateinischen verweigernden Kasachen), so dass diese Diskussion letztlich mit Gewalt zugunsten des Lateinischen beendet wurde. Und Parteimitglieder, die das lateinische Alphabet nicht beherrschten, wurden später sogar ausgeschlossen (S. 302, Anm. 302).

In der Folgezeit wurde die Latinisierung zum Selbstläufer: Auch Überlegungen, das Russische in Zukunft in lateinischen Buchstaben zu schreiben, wurden zunächst offen diskutiert, bis diese 1931 offiziell verboten wurden (S. 320; auch für das Weißrussische galt diese Diskussion, S. 307, Anm. 324). Der „Siegeszug des Lateinischen“ (S. 324) schien nicht mehr aufzuhalten. Doch wieder war es nicht das Zentrum, das sich plötzlich für eine Kyrillisierung aussprach. Die Diskussion stieß die Peripherie in Person des Sekretärs des Ostsibirischen Gebietskomitees Rasumow an, der das Lateinische als Unterjochungsschrift der ehemals herrschenden Klasse ablehnte und betonte, Russisch sei die Sprache der Revolution. Somit machte er die Rekyrillisierung zur Angelegenheit der gesamten Union (S. 335-342; 399f.). Auch in Tatarstan mehrten sich schließlich Stimmen, die im Kyrillischen die Zukunft sahen, da es den jungen Menschen die „reichsten Schätze der sozialistischen Kultur des russischen Volkes“ eröffnete (S. 355). Doch nüchtern betrachtet, scheiterte die Latinisierung vor allem an ihrer technischen Undurchführbarkeit (S. 380f.). Trotzdem, so Frings, war erneut die Furcht vor der Zentrale entscheidend für die Kyrillisierung der Sprachen. Diese war zwar keine konzertierte Aktion (S. 349), aber eine „self-fulfilling-prophecy“ (S. 396). Moskau hatte einigen Völkern die Rückkehr zum Kyrillischen erlaubt. Erneut sahen darin andere Republiken ein politisches Ziel des Zentrums, das sie im vorauseilenden Gehorsam umsetzten. Die Furcht vor der Gewalt und das Ringen um Anerkennung trieben die Völker in einen erneuten Schriftwechsel.

Keineswegs geht es Frings aber nur um Diskussionen über Schrift- und Sprachpolitik, sondern immer wieder macht er technische Erläuterungen, so vor allem zur Frage der Schreibmaschinen, die zur Umsetzung der Schriftreformen benötigt wurden, aber überall Mangelware waren (S. 114, 269, 289f.). Zudem erlauben zum einen Frings Erläuterungen zu den schlechten Alphabetisierungsquoten, zum anderen aber auch die von ihm angeführten Quellen über die tatsächliche Durchsetzung der Schriftwechsel, einen Einblick in die dem Wandel unterworfene Sowjetgesellschaft. So schrieb man in den 1930er-Jahren in verschiedenen Behörden noch immer im arabischen Alphabet, um dann im lateinischen zu drucken (S. 302). Viele Schriften bestanden weiterhin parallel.

Andreas Frings hat mit seinem Buch eine spannend zu lesende Studie vorgelegt. Sie besticht durch einen erfrischenden theoretisch-methodischen Ansatz, der die Akteure in das Zentrum rückt, somit menschliches Handeln nachvollziehbar macht. Frings Buch trägt ferner zur Modernisierungsdebatte und zur Alltagsgeschichte in der Sowjetunion bei. Es zeigt, dass bei der Beschreibung der Geschichte Russlands und der Sowjetunion die Rolle der Peripherie mitbehandelt werden sollte: Peripheriebezogene Detailstudien lassen die Handlungen des Zentrums in einem anderen Licht erscheinen.

Anmerkungen:
1 Coleman, James S., Grundlagen der Sozialtheorie, 3 Bände, München 1995.
2 Hier beruft sich Frings vor allem auf die Arbeiten von Esser, Hartmut, Rational Choice, in: Berliner Jahrbücher für Soziologie 2 (1991), S. 231-243; ders., Soziologie, Allgemeine Grundlagen, 2. Auflage, Frankfurt/Main 1999; u.a.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension