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Titel
Die deutsche Bewegung. Der Mythos von der ästhetischen Erfindung der Nation


Autor(en)
Gretz, Daniela
Erschienen
München 2007: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
350 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dorit Müller, Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin

Ganz gleich ob mit positiver oder negativer Konnotation – der seit gut hundert Jahren von Historikern, Germanisten und Philosophen tradierte Mythos vom ‚deutschen Sonderweg’ wird seit längerem von historiographischer Seite problematisiert. Bestritten wird nicht nur die reale Existenz eines Sonderwegs der Modernisierung, sondern auch die Annahme, es gäbe einen europäischen Normalweg der geglückten Modernisierung.1 Die Zurückweisung der These erklärt aber noch nicht, warum sich ein genuin deutsches Sonderbewusstsein ausbilden und über einen längeren Zeitraum in unterschiedlichen Ausprägungen wirksam bleiben konnte.

Die Literaturwissenschaftlerin Daniela Gretz möchte dieses Phänomen für den Zeitraum um 1900 rekonstruieren und nach seinen jeweiligen Funktionen fragen. In ihrer Dissertation geht sie davon aus, dass es sich bei der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommenden „Rede von der deutschen Bewegung“ um eine „Manifestation positiven deutschen Sonderbewußtseins“ handelt, die nach 1945 als „invertierter Mythos vom deutschen Sonderweg“ weitertradiert wurde (S. 15). Denn während der Topos vom deutschen Sonderweg in kulturkritischen Diskursen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine vermeintliche Überlegenheit bezeichnet, mit der die Deutschen in die Moderne eintraten, dominiert in der Nachkriegszeit die Rede vom Weg in die ‚deutsche Katastrophe’.

Gegenstand der Untersuchung sind „Redeformen“, die sich innerhalb kulturkritischer und ästhetischer Diskurse der Zeit um 1900 herausbilden und eine wichtige Bedeutung für die Identitätsfindung einer sich rasant wandelnden Gesellschaft übernehmen. Um den kulturellen und historischen Ort dieser Redeweisen von der ‚deutschen Bewegung’ zu präzisieren, geht Gretz in drei Schritten vor: Im ersten Kapitel verfolgt sie die Genese der Redeweise von der „deutschen Bewegung“ im geisteswissenschaftlichen Diskurs. Betrachtet werden Wilhelm Diltheys Baseler Antrittsvorlesung, Schriften von Herman Nohl und Friedrich Meinecke sowie von den Germanisten Heinz Kindermann, Paul Kluckhohn und Hermann August Korff. Im zweiten Kapitel untersucht sie „nationalpädagogische“ Texte von Künstlern wie Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt. Hier will sie zeigen, wie sich das Modell eines deutschen Sonderbewusstseins in ästhetischen Diskursen der Zeit nach 1900 entfaltet. Im dritten Teil arbeitet sie Strukturprinzipien in „National-Anthologien“ – Textsammlungen mit spezifischer Wirkungsabsicht und Auswahlkriterien – heraus und belegt anhand dieser Textsorte die Wirkmächtigkeit des Modells ‚deutsche Bewegung’.

Auf nachvollziehbare Weise kann Gretz belegen, dass die Reden von der ‚deutschen Bewegung’ in unterschiedlichen Kontexten – sei es in Lebensphilosophie, Reformpädagogik, historistischer Geschichtsschreibung oder in einer sich deutschkundlich ausrichtenden Germanistik – eine zentrale Funktion besitzen: Sie dienen der „Wiedererfindung der nationalen Tradition“ (S. 15), die angesichts der als krisenhaft wahrgenommenen intensivierten Modernisierungserfahrungen um 1900 Kompensations- und Orientierungsaufgaben übernimmt.

Diese Funktionsbestimmung ist nicht neu. Ungewohnt und vielversprechend ist allerdings die literaturwissenschaftliche Untersuchungsperspektive. Gretz konzentriert sich auf die rhetorischen Verfahren, mit denen die (Re-)Konstruktion nationaler Identität in den unterschiedlichen Textsorten vollzogen wird. Gestützt auf Überlegungen von Jürgen Fohrmann2 entwirft sie ein Untersuchungsdesign, das nicht nur eine Beschreibungssprache zur Analyse der „Redeformen“ von der ‚deutschen Bewegung’ ermöglicht, sondern auch Kriterien für den Vergleich der Textsorten hinsichtlich ihrer Figurationen und performativen Gestik bereitstellt. Im Zentrum dieses Ansatzes steht die Frage, „wie der Umgang mit einer Differenz als rhetorische Form die Bewegung des Textes“ bestimmt. 3 Gretz demonstriert, dass die sprachliche Ausgangsbasis dieser Rhetorik „eine potentiell erweiterbare Begriffsmatrix“ bildet, in der Dichotomien postuliert und zugleich Nationalcharakteren zugerechnet werden (S. 137). Spezifisch für die ‚deutsche Bewegung’ sind neben Zentralbegriffen wie Kultur, Gefühl und Idealismus auch metaphorisch ausgeweitete Begriffe wie Organismus, Gesundheit und Transzendenz. Mittels Analogiebildung werden so philosophische, ästhetische, biologische und religiöse Begriffe amalgamiert und die Konzeption eines eigentümlichen Deutschen in den allgemeingesellschaftlichen Kontext eingebunden. Typisch für die ‚Rede’ von der ‚deutschen Bewegung’ ist fernerhin eine „quasi-tautologische Begriffssteigerung“ in Form von Superlativen (z.B. ‚tiefste’, innerste’ oder ‚letzte’), die die „Sakralisierung einer genuin ‚deutschen Gesinnung’ befördern sollen (S. 139).

Die Leistung der Dissertation besteht aber nicht nur in der detaillierten Analyse der Begriffsverwendungen, sondern auch in der Beschreibung ihrer historischen Genese und Verlaufsformen. So dokumentiert Gretz, dass die ‚deutsche Bewegung’ in den untersuchten Diskursen als ein „dynamisches Wellenmodell“ erscheint, in dem rationalistische Phasen mit irrationalistischen und realistische mit idealistischen Abschnitten wechseln (S. 140): Bereits in ihrer Ausprägungsphase um 1800 durchläuft sie – gemäß der retrospektiven Zuschreibungen – Phasen des Irrationalen (Sturm und Drang, Romantik) und Rationalen (Kants Einfluss auf die Klassik). Inszeniert wird dieses Modell als „potentiell unabgeschlossene Reihe von in Generationen lose organisierten monumentalisierten ‚Dichtern und Denkern’“ (S. 20), in deren Abfolge sich – so die nationalpädagogische Intention – die Enthüllung des „deutschen Geistes“ vollzieht. Nach 1933 wird diese Traditionslinie verlängert: in die Vergangenheit von den Grimms über Herder bis zu Möser (Paul Kluckhohn) und in die Gegenwart bis zu Richard Wagner, Chamberlain und Lagarde (Heinz Kindermann). Die bei Dilthey noch primär historisch begründete nationale Identität wird hier zunehmend biologisch fundiert. Der Typus des ‚Deutschen’ erscheint nunmehr als „Rassetypus, der schließlich durch biopolitische Homogenisierung zum einheitlichen National- bzw. Volkskörper ausgeweitet werden soll“ (S. 144). Trotz solcher Auswüchse kann das Modell nach 1945 weiter wirken. Der Begriff selbst gerät zwar in Misskredit, doch bleibt der fundierende Modus der Kontinuitätsstiftung erhalten. Eine genuin deutsche Kultur der Goethezeit dient als Anschlussoption auch für die Zeit nach der ‚nationalen Katastrophe’, bis sich der „negative Mythos“ vom „deutschen Sonderweg“ durchsetzt.

Diesem Zeitraum wendet sich die Untersuchung allerdings nicht mehr zu, obwohl der Übergang nach 1945 durchaus einer Darstellung wert wäre und zweifellos Einsichten in die Beharrlichkeit eingeübter Verarbeitungsmuster bringen dürfte. Stattdessen beschäftigt sich Gretz mit der Frage, inwieweit die Argumentationsstrukturen in den nationalpädagogischen Schriften von George, Hofmannsthal und Borchardt mit ‚Redeformen’ über die ‚deutsche Bewegung’ korrespondieren. Im Ergebnis stellt Gretz eine Reihe von Parallelen heraus: Wie auch die zeitgenössischen Kulturwissenschaften formuliert der literarische Ästhetizismus kulturkritische Zeitdiagnosen und beansprucht eine ‚höhere Form des Lebens und der Wirklichkeit’ zu schaffen. Der dazu in verschiedenen Varianten postulierte und praktizierte Rückzug in eine ‚reine’ bzw. ‚absolute’ Kunst behauptet, ein Refugium gegen die konstatierte ‚Krankheit der Moderne’ zu sein. Unter Rekurs auf religiöse, apokalyptische und messianische Redeformen wird so eine Sakralisierung der Kunst vollzogen und dieser Erlösungsfunktionen zugeschrieben. Wie im wissenschaftlichen Diskurs der Zeit ermöglicht so die ästhetisch gewandete These von der „Erfindung der Nation durch die Dichter und Denker um 1800“ die Integration in einen vorgängig konstruierten Traditionszusammenhang: Sie legitimiert die „Einsetzung des Dichters in seine angestammte Funktion als Kulturheros“ (S. 323).

Damit schließt Gretz einerseits an die durch Stefan Breuer in Erinnerung gerufene Fassung des „ästhetischen Fundamentalismus“ an 4; auch wenn sie selbst den Begriff des „absoluten Ästhetizismus“ bevorzugt. Andererseits kann sie entgegen gängiger Forschungsmeinungen zeigen, dass zwischen frühen ästhetizistischen Poetologien und späteren nationalpädagogischen Ambitionen der genannten Autoren durchaus Kontinuitäten bestehen. Denn „die poetologisch präfigurierten und propagierten Formvorstellungen werden auf ‚das Soziale’ übertragen und die ursprünglich ästhetizistische Poetologie damit zu einem national-pädagogisch legitimierten ‚ästhetischen Absolutismus’ ausgeweitet (S. 18f.). Mehr als jede andere Textsorte manifestieren die im George-Kreis, von Hofmannsthal und Borchardt herausgegebenen National-Anthologien diese Praxis. Angesichts der rigiden Selektion und Ausgrenzung, des Personenkults und der Wiederholungen und Kopplungen, mit denen hier eine Entzeitlichung und Monumentalisierung des Dichterischen und des Deutschen verfolgt wird, spricht Gretz von einem „Akt der ästhetischen Selbstermächtigung im Namen der Nation“ (S. 325). In dieser „Art von narzißtischer Instrumentalisierung“ erblickt sie eine „Reaktion auf die relativierenden, fragmentarisierenden und verunsichernden Momente der Modernisierung“ (S. 325).

Die ansprechend formulierte und auf umfangreichem Quellenstudium beruhende Arbeit zeigt einmal mehr, welche Gewinne durch eine von philologischen Kompetenzen getragene Beobachtung des heterogenen diskursiven Spektrums zwischen 1860 und 1950 ermöglicht werden. Sie demonstriert eindrucksvoll die Muster historischer Analogisierungen, in und mit denen eine sich selbst als unzulänglich erfahrene Gegenwart die Verarbeitung ihrer Problemlagen im Modus der geschichtlichen Vergewisserung vollzieht. Dass diese stets eine Konstruktion bleibt und politische Implikationen aufweist, kann nicht oft genug betont werden. So trägt die Studie von Daniela Gretz nicht nur zur Entmystifizierung des Redens vom deutschen Sonderweg bei, sondern sensibilisiert auch für einen historisch aufgeklärten Umgang mit Rekursen, die der Bestimmung nationaler Identität dienen. Den Ertrag der Publikation hätte freilich ein Personenregister noch steigern können.

Anmerkungen:
1 Faulenbach, Bernd: Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980; Eley, Geoff; Blackbourn, David: Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution, Frankfurt am Main 1980.
2 Fohrmann, Jürgen, Textzugänge. Über Text und Kontext, in: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 1 (1997), S. 207-223.
3 Ebd., S. 216.
4 Breuer, Stefan. Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995.