L. Luks (Hg.): Das Christentum und die totalitären Herausforderungen des 20. Jh.

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Titel
Das Christentum und die totalitären Herausforderungen des 20. Jahrhunderts. Russland, Deutschland, Italien und Polen im Vergleich


Herausgeber
Luks, Leonid
Reihe
Schriften des Zentralinstituts für Mittel- und Osteuropastudien 5
Erschienen
Köln u.a. 2002: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
323 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Besier, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Es handelt sich um die Wiedergabe überarbeiteter Vorträge einer von der Volkswagen-Stiftung geförderten Tagung des Zentralinstituts für Mittel- und Osteuropastudien; die Tagung fand im Oktober 2000 in Eichstätt statt. Wiewohl mit unterschiedlichem methodologischen Zugriff kreisen alle Beiträge um die Frage des Verhältnisses zwischen katholischen oder orthodoxen Kirchen und den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Dabei werden auch die Unterschiede zwischen kommunistischen und nationalsozialistisch/faschistischen Diktaturen hinsichtlich ihres Verhaltens gegenüber dem Christentum erörtert. Ein weiteres Schwergewicht liegt auf den Entstehungsbedingungen totalitärer Regime. In der Einführung ist von einer „beispiellosen Identitätskrise der europäischen Kultur“ (S. 12) an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Rede. Die Beiträge sind in drei Blöcke gegliedert: I. Ideengeschichtliche Dimension der Problematik „Christentum und Totalitarismus“, II. Kirchenpolitik der totalitären Regime linker und rechter Provenienz und III. Nach der Katastrophe.

Den ideengeschichtlichen Diskurs beginnt Vladimir Kantor mit seinem Beitrag „Der Antichrist als Problem des totalitären Zivilisationsbruchs (am Beispiel der russischen Kultur des 20. Jahrhunderts)“. Kantor benutzt das Paradigma des „Antichristen“ als einer „zeitlosen Figur von großer heuristischer und explikativer Potenz“ (S. 14) zur Interpretation der kommunistischen Diktatur in der UdSSR. Die religionsphilosophischen und literarischen Gedanken zum Antichristen in Gestalt der erfolgreichen Bösen, Lenin und Stalin, kontrastieren deren nationalistische und imperialistische Diktatur mit den angeblich gegenläufigen Impulsen des Christentums. Dessen Werte werden als konstitutiv für die westliche Demokratie und ihr übernationales Freiheitsverständnis herausgestellt.

Ljudmila Dymerskaja-Tsigelmann vergleicht die Arbeiten von Thomas Mann und Nikolaj Berdjaev hinsichtlich deren totalitaristischer Analysen der geistigen und historischen Ursprünge des Nationalsozialismus und des russischen Kommunismus. Sie betont, dass beide „die russische als die primäre Variante“ (S. 33) begriffen hätten, aber im Unterschied zu Ernst Nolte auch erklären wollten, „warum gerade Deutschland und nur Deutschland auf die ‚Herausforderung des Bolschewismus’ mit dem Nationalsozialismus reagierte“ und „warum gerade Russland und nur Russland zur Heimat des Bolschewismus wurde“ (S. 35).

Sergio Belardinelli sieht als eine Ursache für eine „’italienische’ Spezifität des Faschismus dessen philosophischen Wegbereiter Giovanni Gentile. Dieser habe mit seiner Philosophie der Praxis („Aktualismus“) das Risorgimento in Gestalt einer „laizistischen Theokratie“ (S. 70) vollenden, aber auch nicht auf die mystische „Kraft“ der katholischen Religion verzichten wollen. Als Kultusminister führte Gentile den Religionsunterricht an Volksschulen ein, widersetzte sich aber Mussolinis Politik der Aussöhnung, weil er den politischen Katholizismus ein retardierendes Moment für sein faschistisches Staatsmodell begriff.

Nikolaus Lobkowicz fragt, ob der Staatswissenschaftler und Rechtsphilosoph Carl Schmitt ein „katholischer Faschist“ gewesen sei und gelangt zu dem Ergebnis, dass er Nationalsozialist wurde, „obwohl er Katholik war“ (S. 85). Nicht die katholische Naturrechtslehre, sondern sein Hang zum Dezisionismus hätten ihn zum Bewunderer Hitlers gemacht.

Erich Solov’ev will in seinem Beitrag zeigen, dass schon lange vor Poppers Kritik an dem Historizismus als Pseudowissenschaft und Karl Barths Kritik am historizistischen Pseudoglauben, russische Philosophen wie Alexander Herzen und Sergej Bulgakov ähnliche Einwände vorbrachten.

Es gibt auch antiwestliche Elemente in der orthodox geprägten Kultur Russlands wie Naftalij Prat am Beispiel des mystisch-orthodoxen Philosophen der 20er Jahre, Aleksej Losev, zeigt. Die archaisch-objektivistischen Züge der russischen Orthodoxie, ihre Abgrenzung von der „rationalistisch-subjektivistischen“ Lehrbildung des lateinischen Christentums, führten zu einer ambivalenten Haltung gegenüber totalitären Strukturen.

Zu den in Russland heimischen Ideenkonglomeraten wie Slawophilentum, slawischer Einheit und „Drittem Rom“ gehört auch das Eurasiertum. Aber im Unterschied zu den vorgenannten Ideen, denen Valerij Senderov nur noch kulturhistorische Bedeutung beimisst, ist nach dem Urteil des Autors, jedenfalls in rechtsradikalen Intellektuellenkreisen, das Eurasiertum „zum Codewort der postkommunistischen Sowjetmentalität“ (S. 117) geworden. Seit 1930 spielte die antieuropäische Eurasierbewegung keine politische Rolle mehr. Erst Anfang der 90er Jahre wurde sie als „nationale Weltanschauung“, als „nichtchristliche Orthodoxie“ mit totalitären Zügen, von der radikalen Rechten wieder entdeckt und wissenschaftsideologisch benutzt.

Zeev Bar-Sella beschreibt die Gestalt des Marxismus in seiner Adaptation auf volkstümlicher Ebene, in seiner Funktion als „Volksreligion“. Während des sog. „Silbernen Zeitalters“ betrachtete man den Marxismus als „eine Lehre mystischen Typs“ (S. 135). Das Interesse konzentrierte sich auf die „Annahme einer Teleologie des historischen Geschehens“, auf den „Glaube an die Möglichkeit, die Welt vermittels des Willens zu verändern, [...] indem man sich auf die Macht stützt, die in der Ordnung der Dinge selbst liegt“ (ebd.). Auch in sowjetischen Militärtheoretiker-Kreisen habe es eine sakrale Seite des Marxismus (meist in Engelsscher Interpretation) gegeben, ein Geheimwissen, das ihren Glauben bestärkte, aufgrund dieser Lehre die Welt erobern zu können. Der fünfzackige rote Stern und andere Symbole weisen ebenfalls darauf hin, dass der Marxismus der 20er und 30er Jahre in hohem Grad eine „okkulte Weltanschauung“ (S. 139) war. Den europäisch-christlichen Zivilisationshintergrund sieht Bar-Sella als einen wesentlichen Grund für die religiöse Aufladung des Marxismus. Durch die Abschaffung des Eigentums wie durch die Beseitigung der „Ursünde“, der „Arbeitsteilung“ (S. 141), wurde die Materie von ihrem satanisch-erniedrigenden Charakter befreit und erfuhr in der Vergemeinschaftung des revolutionären Proletariats kollektive Vergeistigung.

Assen Ignatow stellt die Doppelgesichtigkeit des Marxismus-Leninismus heraus: Einerseits bekämpft er das Christentum fanatisch, weil es angeblich das durch die Ausbeutung entstandene Trostbedürfnis befriedige. Andererseits habe der Kommunismus das Christentum selektiv imitiert und die aggressivste Spielart des Atheismus geradezu in eine „Gegen-Religion“, eine „kommunistische Ersatzreligion“ (S. 150) verwandelt.

Manfred Spieker widerspricht der These, dass der freiheitliche Verfassungsstaat gegen die christlichen Kirchen hätte durchgesetzt werden müssen. Vielmehr zeige die politische Ideengeschichte, dass das Christentum auch „der Geburtshelfer des freiheitlichen Verfassungsstaates war“ (S. 157). Es ist der geschickte Wechsel der Begrifflichkeit zwischen „Kirche“ und „Christentum“, bzw. politischer Geschichte einerseits und Ideengeschichte andererseits, der Spieker solche Thesen ermöglicht. Denn die modernen Entwicklungen mussten realgeschichtlich in der Tat erst gegen den Antiliberalismus des Römischen Katholizismus wie des landeskirchlichen Luthertums durchgesetzt werden. Auch bei der Entstehung des modernen Sozialstaates sieht Spieker maßgeblich die Einflüsse des Christentums am Werk. Lediglich im Falle der sozialen Marktwirtschaft konzediert Spieker bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts Schwierigkeiten. Für die Kirchen hätten „Markt und Wettbewerb [...] zu schnell als Feld des menschlichen Egoismus und der Rücksichtslosigkeit gegenüber jenen [gegolten], die sich am Wettbewerb nicht beteiligen können“ (S. 170).

Den II. Block „Kirchenpolitik der totalitären Regime linker und rechter Provenienz“ beginnt Nikolaj Cimbaev mit dem Thema „Die Russische Orthodoxe Kirche in den Jahren schwerer Prüfungen (1900-1941)“. Der Darstellung zufolge hatte die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) bereits lange vor der Revolution kaum mehr Einfluss auf die Bevölkerung. An ihrer Stelle agierten verschiedene religiös-philosophische Zirkel, Gesellschaften und Bruderschaften in der Gesellschaft. Erst mit der Revolution von 1905 kam auch in die Kirche wieder Bewegung. Diese bat den Zaren vergeblich um die Einberufung eines allrussischen Konzils und die Wiederherstellung des seit 1721 vakanten Patriarchats. Dazu kam es erst 1917/18. Die Wahl Tichons zum Patriarchen am 5.11. 1917 und das Dekret der Sowjetmacht über die Trennung der Kirche vom Staat erschienen den Gläubigen als hoffnungsvoller Neuanfang.

Andererseits gab es 1917/18 auch einen reformistischen „Kirchenbolschewismus“, der an die kirchenfeindliche Kommissarregierung appellierte, innerkirchliche Streitigkeiten zu regeln. Es entstanden kirchliche Erneuerer-Bünde, die gegenüber der Sowjetmacht loyal waren und gegen die verfasste Kirche opponierten. „Von vornherein wählte die Kirche „in ihrem Verhältnis zu den Bolschewiki den Weg des Duldens und Leidens, keinesfalls des Widerstands“ (S. 179). Dennoch kam es während der 20er Jahre im Zuge antikirchlicher sowjetischer Kampagnen zu blutigen Konfrontationen. Erst die kirchliche „Loyalitätserklärung“ von 1927 (Metroplit Sergij) beendete diese Periode der Verfolgung. „Die Kirche blieb bestehen und ordnete sich von neuem [...] dem Staat unter“ (S. 189).

Georg Seide nimmt den historischen Faden 1953 mit dem Tod Stalins wieder auf. Für den erklärten Atheisten wurde kirchenrechtswidrig ein Totengottesdienst (Panichida) zelebriert und des „teuren Führers“ gedacht. Aufgrund ihrer Unterstützung im „Großen Vaterländischen Krieg“ erreichte die Kirche eine Reihe von Zugeständnissen, die ihr bis 1959/60 ein ruhiges Leben ermöglichten – auf niedrigem Niveau und in „völliger Loyalität [...] bis zur Selbstverleugnung“ (S. 193) dem Staat gegenüber. Wie Stalin 1943, so empfing auch Gorbatschow 1988 die Kirchenführung, um sie mit Zugeständnissen für seine Politik von Perestrojka und Glasnost einzuspannen. An den „Runden Tischen“ zur Aufarbeitung der Vergangenheit beteiligte sich die höhere Geistlichkeit nicht, völlig staatsloyale Bischöfe konnten weiter reüssieren (z.B. Patriarch Aleksij II). Auf Drängen des Patriarchen wurde nach 1991 das Thema „Kirche-KGB“ rasch wieder fallengelassen und die Arbeit der Archivkommission beendet. Unter den neuen politischen Verhältnissen nimmt die ROK die Funktion einer Art Staatskirche ein, die „das kulturelle, vor allem aber sittlich-moralische Vakuum“ (S. 203) ausfüllen soll, das die zusammengebrochene kommunistische Ideologie hinterlassen hat.

Rudolf Lill vertritt, zum Teil gegen Wolfgang Altgeld und Emilio Gentile, die These, dass Mussolini nicht an der Aufrichtung einer totalitären Diktatur mit einer neuen Weltanschauung gelegen war, sondern an einem Ausgleich und an Kompromissen mit den alten Eliten, zu denen auch der Römische Katholizismus gehörte. Der Kirche wurden, anders als im Nationalsozialismus und Kommunismus, in den Lateranverträgen autonome Freiräume zugestanden. Ohne in die kirchlichen Rechte einzugreifen, habe dann seit 1936 eine weitergehende Ideologisierung (Faschisierung) und Gleichschaltung die italienische Innenpolitik bestimmt. Mussolini habe seither einen kämpferischen, antibürgerlichen Menschentyp angestrebt. 1930/31 hatte man den Jüdischen Gemeinden den Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts gewährt, 1938 wurde – mit national-kultureller, nicht rassischer Begründung – der Antisemitismus verordnet. Dieser neue Kurs führte zu scharfen Auseinandersetzungen mit Pius XI. Dessen Nachfolger, Pius XII., verhielt sich konzilianter, weil er für seine diplomatische Neutralitäts- und Vermittlungspolitik gute Beziehungen zur faschistischen Regierung brauchte. Die guten Kontakte dauerten bis zum Sturz Mussolinis an.

Im Unterschied zu den italienischen Verhältnissen war das nationalsozialistische Deutschland, nach anfänglich gezeigter Kirchenfreundlichkeit, auf eine fortschreitende Zurückdrängung und schließlich die Vernichtung der christlichen Kirchen aus, wie Heinz Hürten darlegt. Dabei bestand im „Dritten Reich“ durchaus kein einheitlicher Herrschaftsorganismus, sondern es gab verschiedene politische Kraftfelder, als deren Grobstruktur der Antagonismus zwischen Staat und Partei ausgemacht werden kann. Eine zweite Besonderheit lag in dem bikonfessionellen Charakter des Landes. Die unterschiedlichen historischen, strukturellen und theologischen Voraussetzungen beider Kirchen beeinflussten auch die Auseinandersetzungen mit dem Staat: „[...] aufs Ganze gesehen [ist] die evangelische Kirche weitaus weniger diffamiert worden als die katholische“ (S. 223).

Zygmunt Zielinski äußert sich zum Katholizismus in Polen vor und nach 1989. Die Polnische Arbeiterpartei habe die katholische Kirche aus dem öffentlichen Leben verdrängen wollen. Dank des treuen Kirchenvolkes habe sie sich aber behaupten und bis 1975 als einzige organisierte Widerstandskraft wirken können. Anfang der 80er Jahre sei die Widerstandsbewegung vielgestaltiger geworden und habe auch reformsozialistische Abspaltungen umfasst. Diese Kreise, aus denen auch die Nach-Wende-Regierungen hervorgegangen seien, wollten die Kirchen ebenfalls aus dem öffentlichen Leben verdrängen. Zielinski zieht mehrfach Parallelen zwischen der kommunistischen Herrschaft und frei gewählten, linksliberalen Regierungen danach. Viele polnische Katholiken hätten auch Bedenken, „inwieweit die von der Europäischen Union geforderte Gleichschaltung der Gesetzgebung das Aufrechterhalten der christlichen Grundprinzipien gewährleisten kann“ (S. 233). Auch die katholische Kirche sieht Zielinski ebenfalls durch die liberale Weltanschauung zerfressen. Den Vorwurf der Klerikalisierung weist er zurück. Dieser Beitrag scheint ganz von der Sorge eines zugrunde gehenden polnischen Katholizismus unter dem Einfluss des Westens bestimmt zu sein.

Hans-Jürgen Karp nimmt einen Vergleich zwischen dem Verhalten des deutschen und polnischen Episkopats während der NS-Diktatur bzw. der kommunistischen Diktatur (1945-1950) vor. Im Unterschied zu den deutschen Bischöfen vermochten die polnischen eine einheitliche Linie zu verfolgen. Trotz seines erklärten Willens, selbst in Zeiten schärfster Repression das Gespräch mit den polnischen Machthabern nicht abreißen zu lassen, markierte Wyszynski eine Verteidigungslinie der Kirche – die dem Staat weit entgegenkommende, problematische Verständigung zwischen Regierung und Episkopat vom 14. April 1950. Als das Regime 1953 auch diese Linie überschritt, protestierten die Bischöfe in einer Denkschrift; Wyszynski ging dafür ins Gefängnis. Diesen Punkt, so legt Karp nahe, erreichte der deutsche Episkopat nicht.

Leonid Luks skizziert die Unterwerfung der ROK unter das sowjetische System. Das hat man oft mit dem cäsaropapistischen Staats-Kirche-Verhältnis erklärt. Doch warum, stellt Luks die entscheidende Frage, verhielten sich auch andere christliche Konfessionen im kommunistischen Machtbereich, mit Ausnahme des polnischen Katholizismus, ganz ähnlich? In Polen besaß die Kirche im Volk einen weitaus größeren Rückhalt als die Kommunisten. Trotz des Konflikts 1953 gelang es drei Jahre später, einen Kompromiss zwischen Staat und Kirche zu schließen, der im Ostblock einmalig war. Die Kirche stützte im nationalen Interesse das marode, moralisch diskreditierte kommunistische Regime und erhielt dafür einen hohen Grad an Autonomie, die Erlaubnis zur Bildung katholischer Netzwerke und die Möglichkeit, eine unabhängige katholische Presse aufzubauen.

Den III. Block, überschrieben mit „Nach der Katastrophe“, beginnt Karl-Joseph Hummel mit einer Analyse der „Vergangenheitsbewältigung“ des deutschen Nachkriegskatholizismus. Er hebt hervor, dass schon in der ersten Phase bis 1949 die Einsicht für Fehler und Schuld der Kirche größer war als in den öffentlichen Äußerungen zum Ausdruck kam. Vieles blieb unveröffentlicht, weil man unerwünschte Konsequenzen für die Deutschen befürchtete. Der kirchliche Protest gegen die alliierte Kollektivschuldthese und die Praxis der Entnazifizierung, schließlich die Sorge des Episkopats um die hungernde Bevölkerung, die Krieggefangenen und Vertriebenen, ließ überdies die Schuld-Reflexion in den Hintergrund treten. „Die stillen fünfziger Jahre“ (S. 281) waren von kirchen- und staatsoffiziellen Verlautbarungen der Abscheu gegenüber dem Nationalsozialismus erfüllt, während große Teile der Nachkriegsbevölkerung solche Worte und Sühneleistungen wie Wiedergutmachungszahlungen ablehnten. Die gesellschaftlichen Umbrüche der 60er Jahre, innerkirchlich durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) geprägt, waren durch erinnerndes Gedenken an die katholischen Märtyrer und die jüdischen Opfer bestimmt, was auch theologische Selbstkorrekturen und Versöhnungsinitiativen einschloss. Anfang der 60er Jahre begannen dann die eigentlichen wissenschaftlichen und feuilletonistischen Auseinandersetzungen (Hochuths Stellvertreter) über den Weg der Katholischen Kirche im „Dritten Reich“.

Vladislav Lektorskij geht davon aus, dass das europäische Ideal des weltlichen Humanismus auf christlichen Traditionen basiert, wenngleich sich die westliche Zivilisation immer weiter von den christlichen Werten entferne. Auch die totalitären Regime, namentlich der Sozialismus, hätten sich auf das europäische Ideal des weltlichen Humanismus berufen, die Postmoderne dagegen vollzöge einen offenen Bruch mit den humanistischen Werten. Um ein Abgleiten des Humanismus in totalitäre Strukturen abzuwehren, plädiert Lektorskij für einen „christlichen Realismus“, zu dessen Verwirklichung er aufruft.

Peter Ehlen versteht Auschwitz als „Symbol für die menschenmörderischen Folgen der [...] totalitären Anmaßung“ (S. 309) schlechthin. Damit relativiert er nicht nur die Singularität des durch den Begriff symbolisierten Genozids an den Juden, sondern auch die darauf gründende Theologisierung der Shoah als fundamentales jüdisches „Identifikationsprinzip“ einerseits und den „Tod des Christentums“ andererseits. Als aktuelles Beispiel für „Ausschwitz“ nennt Ehlen das Klonieren von Embryos und löste damit während der Tagung eine kontroverse Diskussion aus. Wie Lektorskij rekurriert auch Ehlen auf den jüdischen Philosophen russischer Herkunft, Simon Frank, und fordert von den Theologen kein soziologisches oder politologisches, sondern theologisches Reden. Das bedeutet für ihn, im Anschluss an Frank, die Selbstmitteilung Gottes, wonach das Menschsein als unverfügbares Heiligtum zu achten ist.

Der Band erhält seinen hohen Wert durch die ungewöhnliche Konzentration realhistorischer wie ideengeschichtlicher Informationen und Gedanken. Freilich besitzt das Buch in einigen Beiträgen eine leicht apologetische Tendenz in Bezug auf „Das Christentum“ – eine Formulierung aus dem Titel, die nicht ganz zutrifft. Denn das Christentum ist mehr als die hier dominant präsentierten institutionalisierten Christentümer Römisch-Katholische und Russische Orthodoxe Kirche. Überdies ist verwunderlich, dass die scharfen Auseinandersetzungen zwischen beiden machtbewussten Kirchen in der jüngsten Zeit nicht mit einem Wort erwähnt werden, obwohl einige Aufsätze zeitlich bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts reichen. Dass auch christliche Utopien und kirchliche Heilsrivalitäten zu totalitären Bedrohungen werden können, hat, an allerdings weit zurückliegenden Beispielen, allein Lektorskij kurz gestreift (S. 300). Insofern stehen in der Totalitarismusdebatte auch die ideologischen Gehalte christlicher Kirchentümer mit auf der Agenda.

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