Á. Tóth: Önszervezö polgárok (Sich organisierende Bürger)

Titel
Önszervezö polgárok. A pesti egyesületek története a reformkorban (Sich organisierende Bürger. Die Geschichte der Pester Vereine im Vormärz).


Autor(en)
Tóth, Árpád
Erschienen
Budapest 2005: L'Harmattan
Anzahl Seiten
295 S.
Preis
HUF 2.250,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Juliane Brandt, Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, München

Im Mittelpunkt der Monographie steht der Prozess des Bürgerlich-Werdens der ungarischen Gesellschaft eingebettet in die Geschichte der Urbanisierung. Es handelt sich um die erweiterte Fassung einer Dissertation, die bei Vera Bácskai und somit bei einer der besten Kennerinnen der ungarischen Stadtgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden ist. 1 Mit Blick auf Pest wird gefragt, welche Rolle Vereine in der Stadt – sei es als städtische oder auch als hauptstädtische Vereine – im Verbürgerlichungsprozess spielten, und wer, die Vertreter welcher Schichten und Gruppierungen, sich in ihnen engagierten. Tóth rekonstruiert ein Netz verschiedener Vereine, untersucht, unter welchen Umständen und angesichts welcher Herausforderungen sie entstanden, was sie anstrebten, was sie tatsächlich verrichteten, wie sie verfasst waren, wie sie praktisch funktionierten. Ihn interessiert, wie sich das Vereinsnetz in den breiteren Rahmen städtischer und sozialstruktureller Entwicklung einordnete und wie es sich im Laufe des Untersuchungszeitraums zum Aktionsfeld von Staat und Behörden oder auch der Wirtschaft verhielt.

Nach dem Entstehen von Vorformen des Vereinswesens wie z.B. den Freimaurerlogen war der Vormärz in Ungarn eine Zeit, in der Vereine im Sinne von freiwilligen Zusammenschlüssen gleichberechtigter Mitglieder zur Verfolgung selbst bestimmter gemeinnütziger Zwecke in größerer Zahl entstanden. Was ein „Verein“ (in der Sprache der Zeitgenossen meist „egylet“, „egyesület“ genannt) war oder sein konnte, verfolgt der Autor ebenfalls. Er führt damit vor Augen, wie neu das eben entstehende Vereinsleben war, inwieweit es sich aus autochthonen praktischen Impulsen oder theoretischen Überlegungen, aus Erfahrungen zugewanderter Stadtbewohner anderer europäischer Länder speiste. Was die Pester Bürger (und vereinsbewegte Adlige und Hochadlige) taten und wie sich ihre Vereine entwickelten, wird kenntnisreich mit Forschungsergebnissen zu Ländern im Westen, insbesondere zu Österreich einschließlich Norditaliens, zu Deutschland und zu England verglichen.

Ausgehend vom Spektrum der in seinem Untersuchungszeitraum zu beobachtenden Zusammenschlüsse unterscheidet der Autor sechs Gruppen: 1. Vereine zur Unterstützung von Armen und in Not geratenen, 2. Vereine zur gegenseitigen Unterstützung, 3. Vereine zur Beförderung des gesellschaftlichen Umgangs, 4. Vereine zur Hebung der Kultur des Gemeinwesens und zur Verbreitung von Wissen, 5. Vereine im Dienste irgendeines Wirtschaftszweigs und 6. Vereine zur Organisation einer Gemeinschaft von Menschen gleichen Berufs oder gleicher Ausbildung (S. 47). Gewinnorientierte Zusammenschlüsse wie die von den Zeitgenossen ebenfalls als „Vereine“ betrachteten Sparkassen oder Aktiengesellschaften bleiben dabei in den letztgenannten Typen ausgespart.

Ein besonders gelungenes Kapitel ist das zu den wohltätigen Vereinen. Der am besten dokumentierbare, der „Pester wohltätige Frauenverein“ (Pesti Jótékony Nöegylet), wollte nicht nur helfen, sondern durch Arbeitsbeschaffung und Organisation von Beschäftigung das zugrunde liegende Problem selbst lösen – und damit auch das Betteln endgültig abschaffen. Eine groß angelegte Kooperation mit den Behörden der Stadt in diesem Sinne blieb jedoch ohne dauerhaften Erfolg. Allerdings wurden einige der von diesem Verein gegründeten Einrichtungen von der Stadt bzw. vom Staat übernommen und weitergeführt. Während im Frauenverein adlige Frauen und solche der wohlhabenden bürgerlichen Schichten zusammenwirkten, rekrutierten sich die Mitglieder der Unterstützungsvereine und Sterbekassen – einem Phänomen im Grenzfeld von urbanem Zusammenschluss und Versicherungswesen – vorwiegend aus den ärmeren Schichten. Fraglich war vielfach die tatsächliche demokratische Mitwirkung der Mitglieder an der Bestimmung von Vorsitzendem und Vorstand; ein Ergebnis der Tätigkeit der Vereine aber bestand zweifellos die der Einübung des Zusammenschlusses in Verfolgung gemeinsamer wie öffentlicher Interessen.

Von geselligen und Sportvereinen als weiterer Gruppe in dem von Tóth vorgestellten Feld sind leider nur außerordentlich wenige Quellen überliefert. Auch hier war der Zusammenschluss der Beigetretenen (Männer) teilweise sozial außerordentlich breit. Das Pester Casino und somit jener Verein, dessen Gründung man in der älteren Literatur als quasi Urknall im ungarischen Vereinswesen betrachtete, erfüllte nach Tóths Untersuchungen in kleinen Schritten jene Aufgabe, die ihm u.a. István Széchenyi, der hochadelige Vordenker des Bürgerlich-Werdens der Ungarn, zugedacht hatte: die schichtenübergreifende Kommunikation. Dies wird in der Studie belegbar anhand der zunehmenden Ausdehnung der Mitgliedschaft auf Bürgerliche, auf Pester Unternehmer, und zwar verschiedener Konfession und Religion. Wohl hatten einzelne Aktivisten des Vereins Vorbehalte gegenüber Juden, die sich auch in ihren seit langem bekannten Aufzeichnungen niederschlugen, doch zeigen von Tóth erschlossene Mitgliederlisten, dass 1840 de facto auch 38 Israeliten (und keineswegs nur Konvertiten) Mitglieder des illusteren Vereins waren (S. 157). Alle sozialen und kulturellen Schranken in der zudem rasant wachsenden Stadt überbrückte freilich auch das Casino nicht. Eine Anzahl von Gründungen nach seinem Vorbild wie auch weitere gesellige und Sportvereine (Schützen- und Fechtvereine etc.) zielten später darauf ab, Menschen verschiedener Niveaus der Hierarchie der Stadtgesellschaft in Kontakt zu bringen.

Bereits relativ gut bearbeitet sind gerade gegenüber den ersten beiden Gruppen von Vereinen diejenigen zur Verbreitung von Kultur und Wissenschaft. Hier stellt sich unter anderem das Problem, das manche, namentlich die „Ungarische Wissenschaftliche Gesellschaft“ (Magyar Tudós Társaság, so der alte Name der Akademie) formal nicht als Verein mit beliebigem Zutritt für jeden an ihren Zielen Interessierten zu betrachten sind, sondern ihre Mitgliedschaft kooptierend bestimmten. Unter dem Aspekt des Spektrums zivilgesellschaftlichen Engagements im Dienste von Gemeinwohl und „Fortschritt“ können sie jedoch nicht aus der Betrachtung ausgenommen werden. Als Vereine zur Bündelung beruflicher und fachlicher Interessen lassen sich der „Ungarische Wirtschaftsverein“ (Magyar Gazdasági Egyesület, de facto ein Landwirtschaftsverein, 1835) und der „Ungarische Gewerbeverein“ (Magyar Iparegyesület, 1841) bis in den Vormärz zurückverfolgen. Beide waren zugleich hauptstädtische Vereine. Als weitere Gruppe neben diesen von einer implizit christlichen Mehrheitsgesellschaft initiierten Vereinen untersucht Tóth auch die Parallelstruktur jüdischer Vereine. Deren Entwicklung reflektiert die Spannung zwischen den Optionen einer Integration in eine entstehende bürgerliche Gesellschaft oder aber des Aufbaus eines eigenen Netzwerks, des Ausbaus informeller Strukturen und tradierter Institutionen. Auch hier liegen wichtige Anfänge im Vormärz.

Das Bild, das Tóth von den Pester Vereinen des Vormärz zeichnet, ist weitaus detaillierter und auch vielfältiger als es die bisherige Literatur vermittelte. Außerordentlich interessant sind die in den einzelnen Kapiteln zu findenden Hinweise auf das Aufnehmen und Adaptieren von Vorbildern aus anderen Städten und zumal aus anderen Staaten Europas, die den Aktivisten oft aus persönlicher Anschauung bekannt waren. Diesen Ansatzpunkten wäre weiter nachzugehen denn grundsätzlich erschlossen Zuwanderung, Verwandtschaftsbeziehungen, Geschäftsreisen sowie die Wanderung von Gesellen Wege der Verbreitung von Vorbildern, und dies neben Zeitschriften oder Kleinpublizistik.

In Zielsetzungen, Organisationsweise und Tätigkeit wiesen die untersuchten Vereine große Ähnlichkeiten zu westeuropäischen Entwicklungen auf. Allerdings fallen Phasenverschiebungen um einige Jahre bis Jahrzehnte auf. Wie in Westeuropa auch ist im Falle der Pester Vereine ein Kreis von Aktivisten zu beobachten, der die Projekte initiierte und deren gesellschaftsgestaltendes Wirken oftmals bewusst persönlich gestaltete, während viele andere das Vorhaben zwar mit trugen, sich aber weitgehend auf das Mitglied-Sein beschränkten. Die Pester Vereine reflektierten diese Entwicklung auch in der Unterscheidung zwischen „beitragenden“ und „wirkenden“ Mitgliedern. Wie die detaillierte Untersuchung der einzelnen Fälle im Verlauf teilweise mehrerer Jahrzehnte zeigt, waren die Aktivisten vielfach Mitglieder bzw. Vorstandsmitglieder mehrerer Vereine und zugleich oftmals auch in neuartigen wirtschaftlichen Unternehmungen, in Wahlfunktionen der Stadt bzw. im politischen Leben präsent.

Sprachlich gesehen waren die Vereine des Vormärz ein heterogenes Phänomen - ein beträchtlicher Teil der Pester Bürger sprach deutsch, und ihre Vereine traten mit deutschen und magyarischen Publikationen an die Öffentlichkeit. Gerade Vereine „hauptstädtischen“ Zuschnitts bevorzugten von vornherein das Ungarische bzw. verstanden sich als Institutionen einer ungarischen Nationalkultur. Protokolle sowie die Art und Weise der Unterschriftsleistung (in welcher Reihenfolge – Name, Vorname oder Vorname Name, und/oder mit oder ohne magyarischer oder deutscher Variante eines christlichen Vornamens) verweisen aber darauf, dass Sprachlichkeit in diesem Kontext kein Moment des Konflikts, sondern praktischer Aspekt des Zusammenlebens war. Gegenüber den zentralen Fragen der Untersuchung wird dies jedoch nur am Rande behandelt. Wie der in den Statuten beschriebene Demokratismus der Entscheidungsfindung und des Zusammenwirkens tatsächlich funktionierte, ist aufgrund der Quellenlage nicht immer befriedigend zu klären. Ebenso wie im Falle der westlichen Muster bleibt zu fragen, inwieweit hier neue bürgerliche Verhaltensmuster eingeübt und verbreitet wurden oder auch Verhaltensweisen aufgegriffen wurden, die auf andere Traditionen der Teilnehmer und der Aktivisten (von der Komitatsversammlung bis zum Presbyterium) zurückgingen. Um zu verstehen, welche befördernde Wirkung den Vereinen im Prozess der Formierung einer bürgerlichen Gesellschaft tatsächlich zukam oder wieweit sie kausal betrachtet eher deren für Mitteleuropa charakteristisches Begleitphänomen waren, wieweit sie daher auch unter späteren historischen Bedingungen eine ähnliche Wirkung entfalten könnten – in dieser Richtung gilt weiter historisch zu forschen. Tóths Ausführungen verdeutlichen freilich auch, welche Schwierigkeiten eine derartige Rekonstruktion historischer „Laborbedingungen“, nämlich die Untersuchung ostmitteleuropäischer und Pester Bedingungen und Entwicklungsverläufe, angesichts der bislang höchst lückenhaften Quellenlage macht. Geradezu hoffnungsvoll stimmt es daher, dass seine Untersuchungen als Pioniervorhaben noch nicht alle möglichen Archive und Bibliotheken, sondern nur die größten und am besten erschlossenen auf Landes-, Pester Komitats- und hauptstädtischer Ebene auswerten konnten.

Die Pester Vereine wirkten als Vorbilder für die Entwicklung in anderen Städten Ungarns. Manche Vereinstypen, so die Lesegesellschaften (der Typ des Casinos) verbreiteten sich im Laufe des Jahrhunderts. Die Blütezeit der im Vormärz anbrechenden Entwicklung des Vereinswesens fiel dann in die Zeit nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867. Manche der Funktionen der frühen Vereine waren zu diesem Zeitpunkt bereits an den Staat übergegangen oder wurden sukzessive staatlicher Regelung unterworfen (so die Sozialversicherung).

Árpád Tóth hat mit seiner Untersuchung zu den im Verein tätigen Pester Bürgern eine aufschlussreiche, methodisch anspruchsvolle und in vielfältiger Weise europäische Parallelen und Einflüsse berücksichtigende Arbeit vorgelegt, die zudem auch noch gut zu lesen ist. Bedauerlich ist allein, dass die sehr instruktiven und mit viel Kleinarbeit zusammengetragenen Hinweise zum Engagement einzelner Aktivisten, zu den vielfältigen personellen Überschneidungen zwischen den Vereinen und zu den Netzwerken der Akteure nicht durch ein Personenregister erschlossen werden, das offensichtlich dem Drang des Herausgebers nach Begrenzung der Seitenzahl zum Opfer gefallen ist.

Anmerkung:
1 Bácskai, Vera, Városok és városi társadalom Magyarországon a XIX század elején [Städte und städtische Gesellschaft in Ungarn zu Beginn des 19. Jahrhunderts], Budapest 1988; dies., A vállalkozók elöfutárai [Die Vorläufer der Unternehmer], Budapest 1989; dies., Városok Magyarországon az iparosodás elött [Städte in Ungarn vor der Industrialisierung], Budapest 2002.

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