G. Rühle: Theater in Deutschland 1887-1945

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Titel
Theater in Deutschland 1887-1945. Seine Ereignisse - seine Menschen


Autor(en)
Rühle, Günther
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: S. Fischer
Anzahl Seiten
1296 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Balme, Institut für Theaterwissenschaft, Ludwig Maximilians-Universität München

Günther Rühles über 1.200 Seiten umfassende Geschichte des deutschen Theaters von 1887 bis 1945 ist eine im mehrfachen Sinne ungewöhnliche Leistung. Ziel des Verfassers ist nichts weniger als eine beinahe lückenlose Chronik des Theatergeschehens über einen Zeitraum von circa sechzig Jahren zu erstellen. Rühle begründet sein Vorhaben damit, dass in dieser Epoche ein an innerer Komplexität, künstlerischen Leistungen und vielfältigen Verflechtungen mit politischen und sozialen Strömungen dieser Jahre beispielloses „geschlossenes kulturelles System“ (S. 13) entstand. Auch wenn der Ausdruck „kulturelles System“ vielleicht den Verdacht eines systemtheoretischen Ansatzes nähren könnte, liegt Rühle wenig an solchen neumodischen Zugängen zu seinem Gegenstand. Er will eine Geschichte erzählen und er tut dies mit beeindruckendem erzählerischem Vermögen.

Günther Rühle (Jahrgang 1924) ist wie kaum ein anderer Theaterhistoriker bestens ausgewiesen, um diese Geschichte facettenreich zu erzählen. Seit den 1960er-Jahren, als er als Theaterkritiker für die Frankfurter Allgemeine Zeitung arbeitete, wo er zum Feuilletonchef und Mitherausgeber avancierte, hat er sich intensiv mit dem deutschen Theater im 20. Jahrhundert auseinandergesetzt. Veröffentlichungen wie „Theater für die Republik“ oder die mehrbändige Dramenanthologie „Zeit und Theater“ haben wesentliche Impulse für die dramen- und theatergeschichtliche Forschung zur Epoche der Weimarer Republik geliefert.1 Als Intendant des Frankfurter Schauspiels zwischen 1985 und 1990 war er selbst Mitgestalter der neueren deutschen Theatergeschichte. Während seiner Intendanz ereignete sich der Skandal über antisemitische Tendenzen in Fassbinders Bearbeitung des Gerhard Zwerenz-Romans „Der Müll, die Stadt und der Tod“ mit der Folge, dass die Inszenierung abgesetzt wurde.

Wohl aufgrund dieser Erfahrungen als Wissenschaftler, Kritiker und Intendant ist Rühle von der öffentlichen Wirkmächtigkeit des Theaters offensichtlich fasziniert und überzeugt. Seine Theatergeschichte ist im Wesentlichen eine Chronik der Wechselbeziehung zwischen einem von aller Welt beneideten literarisch anspruchsvollen Theater und der Gesellschaft, die es sich leisten kann, ein solches Theater zu tolerieren und schließlich mit öffentlichen Geldern nachhaltig zu unterstützen. Die Hauptfiguren in dieser Geschichte sind die zahlreichen bekannten und weniger bekannten Akteure der deutschen Theatergeschichte: die Regisseure, die Dramatiker, Schauspieler und auch Intendanten. Ausgehend vom dem nach Rühle theatergeschichtlich bedeutsamen Schicksalsjahr 1887, als Ibsens „Gespenster“ im Berliner Residenztheater aufgeführt wurde, entwickelt Rühle die „Biographie eines Organismus“ (S. 14), der, um in seiner Metaphorik zu bleiben, wächst, gedeiht und schließlich 1944 beinahe stirbt, als Goebbels die Schließung aller Theater verordnete.

Aller Anfang ist bekanntlich schwer und die Entscheidung für die Aufführung eines Ibsen-Stücks als Markenstein einer neuen Epoche kann man sicherlich hinterfragen. Warum nicht 1889, als Otto Brahm und andere die Freie Bühne gründeten? Oder gar 1869, als die Gewerbefreiheit im Norddeutschen Bund eingeführt und damit die Befreiung des Theaters vom höfischen Reglement eingeläutet wurde? Im Rahmen der Logik von Rühles Geschichte ist die Markierung eines Neubeginns anhand einer Ibsen-Inszenierung sicherlich konsequent, geht es Rühle doch vorrangig um eine bestimmte Art von Theater, das mit den herkömmlichen bildungsbürgerlichen Kriterien gleichzusetzen ist. Hier geht es Abend für Abend über eintausend Seiten um die Inszenierungen von alten und neuen Texten in circa zehn Berliner Theatern und einer Handvoll Bühnen in der „Provinz“ (Hamburg, München, Frankfurt, gelegentlich Leipzig und Dresden). Wenn man bedenkt, dass Berlin um 1900 über fünfzig Bühnen unterschiedlichster Provenienz verfügte, dann wird deutlich, dass aus theaterwissenschaftlicher Sicht hier nur eine partielle Sicht auf das Theatergeschehen der Zeit beschrieben wird.

Rühle gliedert seine Chronik in drei Haupteile, die einer politischen Epochenlogik folgen: Im Kaiserreich 1887-1918; In der Republik 1918-1933; In der Diktatur 1933-1945. Den Abschluss bildet eine kurze Coda zum Theater im Exil 1933-1945. Hinzu kommt ein fast zweihundert Seiten umfassender Apparat einschließlich einer ausführlichen Zeittafel, die mit Theodor Fontanes Geburt 1819 einsetzt und mit Gerhart Hauptmanns Tod 1946 endet. Diese fakten- und datengesättigte Zeittafel enthält eine andere, etwas stärker theatergeschichtliche Epochenlogik als die Gliederung des Haupttextes. Hier werden neben zahlreichen Uraufführungen wichtiger Dramen auch bedeutende Intendanzen, Theatergründungen, Inszenierungen sowie die Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (1900) vermerkt.

Kann man ein solches Buch kritisieren? Wenn ja, dann sicherlich nicht im Rahmen der üblichen wissenschaftlichen Parameter. Von einer Thesenbildung im wissenschaftlichen Sinne, von der Heranziehung neuer Theorien oder Ansätze kann hier nicht die Rede sein. Auch der echte Historiker – abgesehen davon, dass sich kaum berufsmäßige Historiker finden lassen, die sich für Aufführungs- und Dramengeschichte interessieren – wird mit der Vorgehensweise nicht unbedingt zufrieden sein können. Am Ende der „Editorischen Nachbemerkung“ lesen wir: „Für diese Arbeit wurden Sponsoren- und öffentliche Gelder nicht in Anspruch genommen“. (S. 1071) Wenn man bedenkt, dass in der Geschichtswissenschaft solche „öffentlichen Gelder“ vorrangig zur extrem zeitaufwendigen Erschließung von meistens in Archiven aufbewahrten Quellenmaterials eingesetzt wird, dann verbirgt sich hinter dieser Bemerkung eine vielleicht unfreiwillige Konzedierung, dass mit diesem Buch keine neuen Quellen erschlossen wurden. Rühle verwendet ausschließlich veröffentlichtes, mit Hilfe einer sehr guten wissenschaftlichen Bibliothek frei zugängliches Material einschließlich der bekanntesten Tageszeitungen. Ohne Zweifel wurde ein immenses Lesepensum absolviert. Wir erhalten eine auf der Grundlage akribischer Zeitungs-, Dramen- und sonstiger Buchlektüren erschlossene Sicht auf die „Menschen und Ereignisse“, jedoch für den Fachwissenschaftler handelt es sich um über weite Strecken sehr bekannte Geschichten, insbesondere, wenn die großen Dramen, der Expressionismus und die Hauptakteure der Weimarer Epochen (Brecht, Piscator, Horváth) besprochen werden.

Es ist vielleicht das größte Verdienst des Buches, dass Rühle auch die heute weniger bekannten Figuren wieder ins Rampenlicht rückt. Das Theater hat bekanntlich ein miserables kulturelles Gedächtnis und nur sehr wenige Akteure überdauern im Erinnerungsvermögen einer Generation. In der Behandlung der aus heutiger Sicht „Nebenfiguren“ zeigt sich Rühles stupendes Wissen und auch sein unermüdliches und scharfes Urteilsvermögen. Wer kennt heute noch (außer einigen Filmfreunden) Ernst Legal oder (außer einigen Opernfreunden) Carl Ebert? Sowohl der Intendant des Staatlichen Schauspielhauses und der Deutschen Staatsoper (Legal) als auch der spätere Mitbegründer des Glyndebourne Opernfestivals (Ebert im Exil) dürfen die Bühne der Theatergeschichte wieder betreten.

Bei aller Kritik, die der Fachwissenschaftler von Berufs wegen ausüben muss, kann man konstatieren, dass es sich beim vorliegenden Buch um eine für alle theaterinteressierten Leser teilweise packende Lektüre handelt. Einem guten Roman gleich teilt man die Hochs und Tiefs der hier porträtierten Theaterleute: Max Reinhardts Triumphe aber auch seine Niederlagen, die Demission von Leopold Jessner und im dritten Teil die menschlichen Tragödien, die die Machtübernahme der Nazis mit sich brachte: Über vier Seiten (S. 714-719) werden die Namen der ins Exil gezwungenen Künstler mit den wichtigsten Stationen aufgelistet. Das Buch des Chronisten Günther Rühle ist eine großartige Leistung im doppelten Sinne: eine Darstellung des Aufstiegs und Niedergangs einer einzigartigen kulturellen Landschaft, die zudem schriftstellerisch hervorragend umgesetzt worden ist.

Anmerkung:
1 Günther Rühle, Theater für die Republik 1917-1933. Im Spiegel der Kritik, 2 Bände, Frankfurt am Main 1967; Ders. (Hrsg.), Zeit und Theater, 3 Bände, Berlin 1972-74.

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