W. Jablonsky; W. Wünsche (Hgg.): Im Gleichschritt?

Cover
Titel
Im Gleichschritt?. Zur Geschichte der NVA


Herausgeber
Jablonsky, Walter; Wünsche, Wolfgang
Erschienen
Berlin 2001: edition ost
Anzahl Seiten
315 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Wenzke, Militärgeschichtliches Forschungsamt Potsdam

Nachdem Wolfgang Wünsche bereits 1998 einen Sammelband unter dem bezeichnenden Titel „Rührt euch!“ 1 herausgegeben hatte, verantwortet der Ex-Oberst der Nationalen Volksarmee (NVA) nunmehr erneut eine Publikation zur Geschichte der DDR-Armee. Wiederum standen ihm ehemalige NVA-Offiziere als Autoren zur Verfügung, die bis 1989/90 in Stäben und Wissenschaftseinrichtungen der ostdeutschen Streitkräfte hohe Positionen besetzt hatten. Neu ist indes, dass Wünsche einen ehemaligen Bundeswehroffizier, den 1994 pensionierten Kapitän zur See Walter Jablonsky, als Mitherausgeber und Autor gewinnen konnte. Beide Herausgeber sehen diesen Umstand übrigens als „ein Novum in der militärgeschichtlichen Literatur über die NVA“ an (S.9).

Der vorliegende Band behandelt, wie im Klappentext zu lesen ist, „das spezielle Verhältnis der NVA zu Moskau“ (S. 1). In der Tat war in kaum einem anderen Bereich die Abhängigkeit der DDR von der UdSSR so offensichtlich wie in der Militär- und Sicherheitspolitik und der Streitkräfteentwicklung. Dass der Militäraufbau im Osten Deutschlands, der 1948/49 mit der Schaffung kasernierter Polizeibereitschaften eingeleitet wurde, ohne die Initiative, die Rückendeckung, die Vorgaben, die Befehle, die Entscheidungen, ohne die umfassende Hilfe und direkte Unterstützung der sowjetischen Seite undenkbar gewesen wäre, ist inzwischen hinreichend wissenschaftlich belegt worden. 2 Wie sich jedoch im Verlauf der weiteren Entwicklung der ostdeutschen Streitkräfte bis 1989/90 die Inhalte, Methoden und Formen der sowjetischen Einflussnahme auf die NVA konkret gestalteten, darüber gibt es derzeit ebenso wie über mögliche Spielräume für Eigenständigkeiten und Eigeninteressen der DDR im militärpolitischen und militärischen Bereich mehr Spekulationen als wissenschaftlich haltbare Ergebnisse.

Jablonsky und Wünsche benennen in ihrem Vorwort völlig zu Recht die umfassende Abhängigkeit der DDR von der UdSSR als das „zentrale Problem der Bündnis-, Wirtschafts- und Verteidigungspolitik der SED-Führung“(S. 8). Sie belassen es aber weitgehend bei dieser allgemeinen Aussage und begnügen sich u.a. mit der einfachen Formel, dass die Strukturen, Bewaffnungsarten und Ausbildungsgrundsätze der NVA, die ja unübersehbar von der Sowjetarmee übernommen bzw. denen angeglichen waren, „weniger mit Abhängigkeit“ zu tun hatten, sondern „primär dem Erfordernis, eine Koalitionsarmee zu sein“, entsprachen (S. 8).

Mehr Aufmerksamkeit messen sie dagegen der „Eigenständigkeit der SED-Politik“ bei der Führung, Organisation sowie der politischen und materiellen Sicherstellung der Landesverteidigung bei, die sich unter den existentiellen Bedingungen der allgemeinen politischen, wirtschaftliche und militärischen Abhängigkeit gezeigt hätte. Das ist zweifellos ein spannender Themenkomplex, dessen Analyse eine differenziertere Sichtweise auf das Verhältnis zwischen Fremd- und Selbstbestimmung im stärksten bewaffneten Organ der DDR ermöglichen könnte. Doch was die beiden Herausgeber dazu in ihrem Sammelband als „aussagekräftige Untersuchungsfelder“ ( S. 8) letztlich anbieten, ist eher enttäuschend.

In vier der insgesamt acht Beiträge sucht man vergebens eine schlüssige Verbindung zur oben genannten Fragestellung. Das liegt nicht an den einzelnen Autoren, die sich redlich mühen, dem Leser etwas Wissenswertes und Neues zu vermitteln, so über das Feindbild und die militärische Beurteilung des Gegners in der NVA (Joachim Schunke), über das nukleare Trägerpotential der NVA (Martin Kunze), über die Geschichte der funktechnischen Truppen der Luftverteidigung (Manfred Merkel/Eckart Schlenker) oder über die DDR-Volkarmee im Jahr 1990 (Wilfried Hanisch). Aber einen „querschnittartigen Einblick in die politisch-militärischen Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR, NVA und Sowjetarmee“ , wie in der Einleitung angekündigt (S. 8), können diese Beiträge nicht leisten.

Nur vier Beiträge passen sich zumindest thematisch stärker in den Band ein. Jablonsky, der als ehemaliger „Gegner“ überblicksartig die Stellung der DDR und der NVA im Warschauer Pakt sowie die Rüstungspolitik der DDR unter besonderer Berücksichtung der maritimen Rüstung beschreibt, baut in seinen beiden Beiträgen auf Allgemeinwissen auf und fasst bereits Bekanntes in groben Zügen zusammen. Interessanter sind seine speziellen Ausführungen zum militärischen Schiffbau, dem er als einzigen Rüstungsbereich der DDR Konkurrenz- und Leistungsfähigkeit im Pakt-Maßstab bescheinigt (S. 107).

Hans Werner Deim, NVA-Generalmajor a.D. und ausgewiesener militärischer Fachmann für operative Fragen, reflektiert in seiner Abhandlung, die ohne Anmerkungsapparat auskommt, Grundzüge des strategischen, operativen und taktischen Denkens in der NVA. Militärwissenschaftliche Abschnitte betten sich dabei in holzschnittartige Wertungen über den Krieg im allgemeinen und den Kalten Krieg im besonderen ein. Obwohl sich manches wie aus einem früheren Lehrbuch über die sowjetische Kriegskunst liest, kann Deim durchaus einiges zum Thema des Sammelbandes beisteuern. Im Kontext seiner Bemerkungen über die Militärdoktrin hätte man jedoch mehr als nur einen einzigen Satz über den missglückten Versuch von einigen DDR-Militärs erwartet, die Ende der sechziger Jahre eigene „militärdoktrinäre Grundsätze der DDR als Dokument“ (S. 132) formulieren wollten.

Dem unmittelbaren Anliegen des Bandes wird eigentlich nur der Beitrag von Reinhard Brühl gerecht. Der ehemalige NVA-Generalmajor und Geschichtsprofessor, der viele Jahre das Militärgeschichtliche Institut der DDR leitete, nennt seinen Aufsatz „Im Gefolge Moskaus? Zu sowjetischem Einfluss und Eigenständigkeit in der Militärpolitik der DDR“. Brühl konzentriert sich vor allem auf zwei Probleme. Erstens auf den Umgang mit dem sowjetischen Modell beim Militäraufbau in der DDR bis zum Ende der fünfziger Jahre. Und zweitens auf die Rolle des 1960 geschaffenen Nationalen Verteidigungsrates (NVR) als Führungsorgan der Landesverteidigung der DDR. Seine Quellengrundlage bilden nicht nur einschlägige Bestände aus Archiven, sondern auch Befragungen von ehemals leitenden SED-Funktionären und hohen NVA-Offizieren. Brühl versucht, zu insgesamt sachlichen und differenzierten Wertungen zu gelangen. Eindimensionale Sichten bleiben zwar auch hier nicht aus, aber der ideologische Holzhammer, der mitunter bis heute in historischen Darstellungen anderer „Ehemaliger“ unübersehbar mitschwingt, wird von ihm nicht benutzt.

Brühl stellt die Übertragung des sowjetischen Streitkräftemodells nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in ausführlich beschriebene Rahmenbedingungen hinein. Trotz mancher Einschränkung steht für ihn jedoch nach wie vor fest, dass der Kalte Krieg vom Westen inszeniert wurde. So sei die UdSSR 1952 gezwungen gewesen, „das kleinere Vorfeld DDR in verstärkter Form in ihre Sicherheitsvorkehrungen“ einzubeziehen (S. 18). Dass die Sowjetunion damit den Startschuss zu einer umfassenden gesellschaftlichen Militarisierung der DDR gab, in deren Ergebnis der deutsche „Arbeiter- und Bauernstaat“ bereits 1952/53 fast in den ökonomischen Ruin getrieben wurde, erfährt der Leser nur verklausuliert. Überhaupt nicht erwähnt wird das m.E. für die Gesamtthematik sehr wichtige bilaterale Truppenstationierungsabkommen von 1957, das – zusammen mit Folgeabkommen – nicht nur grundsätzlich die Beziehungen der Truppen zu ihrem Stationierungsland regelte, sondern dem Oberkommando der GSSD auch besondere Rechte in der DDR, so u.a. „im Falle der Bedrohung der Sicherheit“ seiner Truppen, einräumte.

Sehr informativ und ausgewogen sind dagegen Passagen, in denen Brühl die dirigistischen Methoden der Übertragung des sowjetischen Modells auf den Bereich der Militärpolitik in der ersten Hälfte der fünfziger Jahren charakterisiert. Hier stützt er sich vor allem auf Aussagen ehemaliger Führungskader der Kasernierten Volkspolizei (KVP). So zitiert er u.a. einen Satz aus den Erinnerungen von Generalmajor a.D. Bernhard Bechler, damals Stellvertreter des Chef des Stabes der KVP, der das ganze Ausmaß der Fremdbestimmung deutlich werden lässt. Bechler beschreibt darin eine Sitzung mit sowjetischen Militärs: “Auf ihr erhielten wir ganz klare Weisungen, wie der weitere Aufbau der KVP zu erfolgen habe...Hier hatten wir keine eigenen Ideen zu entwickeln, nur die erhaltenen Vorgaben umzusetzen.“ (S. 28)
Brühl ist zuzustimmen, wenn er insbesondere die Jahre 1952 bis 1955 als eine Phase „der intensiven Übertragung und Übernahme aller Grundmuster des sowjetischen Modells auf die Militärpolitik der DDR“ bezeichnet (S. 21).

Im zweiten Teil seiner Abhandlung wendet sich der Generalmajor a.D. dem NVR als Führungsorgan der DDR-Landesverteidigung zu. „Es war die Funktion des NVR, die aus Moskau kommenden Vorgaben für die Entwicklung der Nationalen Volksarmee sowie für die operative Vorbereitung des Territoriums der DDR und der Volkswirtschaft auf den Verteidigungsfall in nationale Beschlüsse, Weisungen und Aufgaben umzusetzen." (S.43) Auf einige damit zusammenhängende Probleme geht Brühl ein. Er arbeitet heraus, dass die DDR kaum in der Lage war, die Vorgaben Moskaus für die operative Vorbereitung des Landes und die hohen Auflagen zur Unterstützung der GSSD zu erfüllen. Das wurde vor allem in den achtziger Jahren vor dem Hintergrund der sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen und des forcierten Rüstungswettlaufs zwischen Ost und West sichtbar. Mehr oder weniger offene sowjetische Kritik an der DDR-Führung war die Folge. Zu größeren Konflikten kam es jedoch nicht, da die sowjetische Seite einerseits wiederholt Nachbesserungen und Änderungswünsche der DDR akzeptierte, andererseits aber darauf bestand, dass ihre grundlegenden „Empfehlungen“ durchgesetzt wurden.

Zu einer ernsthaften Verstimmung im Verhältnis zu Moskau sei es aber dann doch 1983 im Zusammenhang mit einem Alleingang Erich Honeckers gekommen. Der SED-Chef und NVR-Vorsitzende habe – offenbar als Gegenleistung für den Strauß-Kredit – den Abbau von Splitterminen an der Westgrenze der DDR angewiesen, ohne vorher die Zustimmung aus Moskau einzuholen. Nur mit „Zähneknirschen“, so zitiert Brühl den damaligen Chef des Hauptstabes der NVA, Generaloberst Fritz Streletz, hätten sich die sowjetischen Militärs mit dem Minenabbau abgefunden.

Der Band „Im Gleichschritt?“ reiht sich in die Publikationen „Ehemaliger“ ein, die Insiderwissen und neue Erkenntnisse verbinden, um ihre Sicht über die Geschichte der NVA glaubhaft darzustellen. Trotz des Bemühens der Herausgeber, neue Details zu bieten und die Vergangenheit nicht nur in alten Schablonen zu sehen, bleiben die meisten Autoren über weite Strecken sowohl in Stil und Diktion als auch bei so mancher „politischer“ Wertung der historischen Fakten unübersehbar in früheren Parteisichten verhaftet. Nicht zuletzt deshalb hält sich der wissenschaftliche Ertrag des Bandes für die Erforschung des spannungsreichen Verhältnisses zwischen Moskau und Ost-Berlin auf dem Gebiet der Militärpolitik in engen Grenzen.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Wünsche (Hg.), Rührt euch! Zur Geschichte der NVA, Berlin 1998.
2 Siehe hierzu u.a. Volksarmee schaffen – ohne Geschrei! Studien zu den Anfängen einer „verdeckten Aufrüstung“ in der SBZ/DDR 1947-1952. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hg. von Bruno Thoß, München 1994; Torsten Diedrich/Rüdiger Wenzke, Die getarnte Armee. Geschichte der Kasernierten Volkspolizei 1952-1956, Berlin 2001.

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