L. Yingtai u.a.: Taiwans 'kulturelle Schizophrenie'

Cover
Titel
Taiwans 'kulturelle Schizophrenie'. Drei Beiträge Lung Yingtais zur taiwanesischen Identitätsdiskussion. Mit einem Anhang "Ein offener Brief an Herrn Hu Jintao"


Autor(en)
Lung, Yingtai; Meyer, Christian
Erschienen
Bochum u.a. 2006: projekt verlag
Anzahl Seiten
101 S.
Preis
€ 10,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ann Heylen, Katholieke Universiteit Leuven

Essays zur taiwanesischen Identitätsdiskussion bilden eine wichtige Grundlage für ein Verständnis Taiwans in seinen geopolitischen Dimensionen. Leider ist chinesischsprachiges Quellenmaterial vielen Forschern noch immer unzugänglich. Daher ist diese Übersetzung dreier Essays Lung Yingtais durch Christian Meyer sehr zu begrüßen. Ergänzt wird Meyers Übersetzung von einer Einleitung, einem ausführlichen Fußnotenkommentar und einem Literaturverzeichnis.

In Taiwan ist die Autorin Lung Yingtai bekannt als Wissenschaftlerin, Essayistin und umstrittene Kulturpolitikerin. Von 1999 bis 2003 fungierte sie im Auftrag der Guomindang (GMD) als Direktorin des Kulturbüros der Hauptstadt Taibei. Zuvor sammelte sie während eines zehnjährigen Verbleibs in Deutschland (verheiratet mit einem deutschen Mann) Lebenserfahrungen, die sich, wie Meyer im Vorwort präzisiert, zum Teil auch direkt in ihren Beiträgen niederschlagen (S.7).

Das Buch gliedert sich in zwei Hauptkapitel, welche gleichermaßen den Hintergrund der Autorin und die Hauptthemen der Artikel und der Übersetzungen reflektieren. Das erste Kapitel, „Einleitung“, besteht aus sieben Unterkapiteln. Das abschließende Unterkapitel „Die fortgesetzte Debatte im Internetforum und andere Beiträge zur Diskussion“ (S. 26-28), verleiht dem Buch einen besonderen Mehrwert. Es ist lobenswert, dass Meyer den historisch-kulturellen Hintergrund nicht im Kontext einer chronologisch dargestellten Geschichte und Kultur Taiwans betrachtet. Im Gegenteil: Er fokussiert die drei Artikel auf die jüngste politische Geschichte Taiwans nach dem Regierungswechsel im Jahr 2000. Besondere Aufmerksamkeit erhalten auch der Ausgang der Präsidentenwahl 2004 sowie innen- und kulturpolitische Unterschiede zwischen der Demokratischen Fortschrittspartei (Minzhu Jinbu Dang, DPP) und der moderaten Taiwanisierungspolitik des früheren Präsidenten Lee Teng-hui.

Hauptteil des Buches sind drei Artikel, die erstmals in vollständiger deutscher Übersetzung erscheinen, geschrieben im Vorwahlkampf des Jahres 2003/04 und zunächst in der China Times (Zhongguo Shibao) veröffentlicht. Weitere Verbreitung dieser Artikel, die zweifelsohne wichtige Zeitdokumente darstellen, gab es im Zeitungen des chinesisch¬sprachigen Auslands (Malaysia, Hong Kong, VR China) und auch im Internet. Der erste Artikel, „Zwischen Teehaus Wistaria und Starbucks: Taiwans Selbstbezogenheit“ ist, wie Meyer argumentiert, vor dem Hintergrund der forcierten „Internationalisierung“ zu betrachten (S. 22). Der Artikel, datiert vom 13. Juni 2003, entstand in einer Zeit, in der im Zuge der Internationalisierung verstärkt die Bedeutung des Englischen innerhalb des Bildungssystems betont wurde. Einige Politiker forderten sogar die Etablierung des Englischen als offizielle Staatssprache. Lung Yingtai kritisiert, dass „Internationalisierung“ nicht die Übernahme ausländischer Feste, Gebräuche oder Sprachen bedeuten sollte. Sie benutzt ein kräftiges Vokabular: „Auf den eigenen Nabel bezogene Selbstvernarrtheit [Taiwans] ist nicht nur ein Symbol der Zurückgebliebenheit des Landes, sondern sogar schon ein Zustand der krankhaften Degeneration der Kultur.“(S. 38) Was dies alles mit dem im traditionellen Stil erbauten Teehaus „Wistaria“ in Taibei zu tun hat, klärt sich am Ende des Artikels. Als Internationalisierung beschreibt Lung dort „die Art und Weise, die andere verstehen können“. Dies, so die Autorin, fängt a priori damit an, sich selbst zu öffnen. Das amerikanische Starbucks-Café ist Symbol des Anderen. Um es aufzunehmen, benötigt man erst Wistaria als Symbol des Eigenen, so dass es von „mir“ erkannt werden kann. Je mehr Starbucks es gibt, desto wichtiger ist ein Teehaus „Wistaria“ (S.39).

Im zweiten Artikel, „Heimat seit 50 Jahren: Taiwans ‚kulturelle Schizophrenie’“ (10.-12. Juli 2003) reflektiert Lung Yingtai ebenfalls über die gegenwärtige Internationalisierungskrise Taiwans. Objekt der Kritik ist hier die Taiwanisierung oder Indigenisierung, die „schneller vonstatten geht als die Internationalisierung“ und Taiwan in seiner provinziellen und unveränderten Art gefangen hält (S. 41). Es ist mit einer Subjektivität geschrieben, die die tiefe Spaltung der Inselbewohner zwischen Einheimischen und Festländern typisiert. Lung Yingtai hat keinesfalls Unrecht, wenn sie schreibt, dass „die hohe Unterstützung für die Taiwanisierung die Antipathie gegenüber der Sinisierung übertrifft“ (S. 41). Diese Polarisierung Taiwanisierung versus Sinisierung ist nicht nur eingebettet in den gesellschaftlichen Hintergrund der Kolonialgeschichte Taiwans, sondern speist sich auch aus 50-jähriger Gewaltherrschaft und einer nach wie vor unsicheren politischen Zukunft.

Bietet Lung Yingtai, wie es sich für eine Kulturkritikerin gebührt, konstruktive Kritik? Sie argumentiert philosophisch und benutzt viele Vergleiche. Die tief in das Fleisch eingewachsene Narbe der Taiwaner ist ‚China’ (S. 55). Wie sollen die Taiwaner das Element ‚China’ innerhalb ihrer eigenen Identität und ihres kulturellen Selbstverständnisses einordnen? Die Antwort Lung Yingtais ist keine weitere Tendenz zum „kulturellen Faschismus“ (S. 51) im Sinne einer Politik der „Taiwanisierung“ 1, die „die Dämonisierung Chinas nur vergrößert und verstärkt“ (S. 50), sondern die notwendige Erkenntnis, dass die chinesische Kultur ein wertvolles Kapital Taiwans ist. Lung Yingtai argumentiert, dass Taiwan mit seiner Zivilgesellschaft, seiner starken Wirtschaft und dem hohen Bildungsniveau für die chinesische Kultur „ein Leuchtturm in der Dunkelheit“ und eine „in der Nacht leuchtende Perle der chinesischsprachigen Welt“ (S. 62, 66) sei. Das Konzept von Taiwan als Ort dieser modernen „kulturellen Renaissance“ der chinesischsprachigen Kultur ist Schwerpunkt des dritten Artikels, „Dem Meere zugewandt“ (29. September 2003). Insgesamt äußert sich die Autorin darin pessimistisch über den eigentlichen Geist der Kultur Taiwans. Sie argumentiert, dass Werte wie Offenheit, Akzeptanz, Toleranz und Pluralismus noch nicht zum Kerninhalt der taiwanesischen Kultur gehörten und die innere Selbstisolationshaltung wie früher weiterbestehe (S. 80-81).

Lung Yingtai ist eine privilegierte Frau, die im Ausland studieren konnte und auch längere Zeit an verschiedenen Orten außerhalb Taiwans gelebt hat. Sie hatte die Chance, sich Internationalisierung eigen zu machen, und gehört daher – wie sie selbst meint – der Generation an, die dem Meere den Rücken zugekehrt hat. Dass Lung Yingtais scharfe Kritik an Taiwans Selbstbezogenheit äußert, kann durchaus im Kontext der 1985 erschienenen Essaysammlung Yehuoji (Wildes Feuer) gesehen werden. Darin fordert sie die Taiwaner noch vor Aufhebung des Kriegsrechts auf, nicht mehr still zu halten, sondern gegen Ungerechtigkeiten und Unterdrückung offen mit Zorn aufzubegehren (S. 19). In dieser Zeit verrichtete sie Pionierarbeit, indem sie es als Festländerin (waishengren) wagte, gegen die GMD Staatspartei zu schreiben. Die Taiwanisierung nach der Aufhebung des Kriegsrechts im Jahr 1987 ermöglichte es allen Bewohnern Taiwans, insbesondere jedoch den Einheimischen (benturen), normative Werte für ihre Stimme zur Geltung zu bringen.

Gleichzeitig entwickelte sich mit der Überbetonung der taiwanesischen Partikularität eine ideologische Schizophrenie, mit der sich Lung Yingtai nicht anfreunden konnte. Ihre Antwort darauf ist eine Konzeption von Taiwan als Teil eines großchinesischen Kulturkreises. Diese Konzeption erschließt sich aus einem Brief an den chinesischen Präsidenten Hu Jintao, dessen Übersetzung „Ein offener Brief an Herrn Hu Jintao“ (25. Januar 2006, S. 82-89) als Anhang zu den drei Essays aufgenommen wurde.

Ein besonderes Augenmerk der Kommentare Meyers liegt auf dem Vergleich der in Büchern publizierten Essays mit den Erstveröffentlichungen in Tageszeitungen. Wortwahländerungen, Umformulierungen und Auslassungen werden akribisch dargestellt. Insgesamt ist das Buch ein „Taiwan-Konzentrat“. Dennoch sollten die Leser wissen, dass es sich bei den Argumenten Lung Yingtais um die Standpunkte einer Person handelt. Das Buch sollte nicht in der Erwartung gelesen werden, dass es ein breites Spektrum des gegenwärtigen ideologischen Diskurses abdeckt. Hier hätte Meyer vielleicht überzeugender und mit mehr Abstand die Kontextualisierung der politischen Position Lung Yingtais darstellen können.

1 Ein deutlicher Ausdruck der Taiwanisierungs-Politik und Taiwanesischseins ist die offizielle Propagierung des ‚Taiwanesischen’ oder der Süd-Fujian-Sprache (Minnanhua), die während des Kriegesrechts unterdrückt und daher als negativer Identitätsindikator erfahren wurde.

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