J. Hermand u.a. (Hrsg.): Noch ist Deutschland nicht verloren

Titel
Noch ist Deutschland nicht verloren. Ökologische Wunsch- und Warnschriften seit dem späten 18. Jahrhundert


Herausgeber
Hermand, Jost; Morris-Keitel, Peter
Erschienen
Anzahl Seiten
202 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Axel Goodbody, University of Bath

Der Schwerpunkt dieser erfreulichen und verdienstvollen Sammlung von Auszügen aus deutschen „Wunsch- und Warnschriften“ der letzten 150 Jahre liegt bei engagierten Vordenkern der Umweltbewegung – sozialpolitischen Aktivisten, deren Modernitäts- und Gesellschaftskritik in Essays, Reden, Pamphleten und Manifesten Ausdruck fand. Der kämpferische Inhalt dieser sozialreformerischen Schriften wird aber durch die Logik, die Reflexivität und das Wissen einer bunten Mischung von weiteren Texten aus der Feder von Philosophen, Theologen und Naturwissenschaftlern ergänzt, sowie durch die Imagination und sprachliche Kreativität aufrüttelnder Zukunftsvisionen aus den Gattungen Science Fiction und literarische Utopie. Die Gemeinsamkeit der hier abgedruckten Texte liegt in der Verbindung des Plädoyers für eine andere Beziehung zur natürlichen Umwelt mit sozialer Gerechtigkeit und Emanzipation des Einzelnen, und in der Artikulation oft frappierend modern klingender Grundsätze mit rhetorischem Geschick und lustvoller Bildlichkeit.

Die 90 chronologisch angeordneten Texte stammen meist aus vier Epochen: dem Ende des 18. Jahrhunderts (Vorromantik und Romantik), der Zeit um die Wende zum 20. Jahrhundert (Heimatschutzbewegung, Lebensreformbewegung, Wandervögel), dem Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg (Zivilisationskritik im Angesicht der Zerstörung deutscher Städte, des Holocausts und der Atombombe), und den 1970er- und 1980er-Jahren (den Jahren der Umweltbewegung). Unter den zu erwartenden Autoren, deren Beitrag zur Debatte über Natur und Umwelt bereits von Umwelthistorikern (Hermand selbst neben Barthelmeß, Sieferle, Linse und anderen) aufgearbeitet worden ist, befinden sich Goethe und Schopenhauer, Arndt und Riehl, Marx und Haeckel, Rudorff und Klages, und aus neuerer Zeit Amery und Bahro, Hans Jonas und Hoimar von Ditfurth. Vollständigkeit ist bei einem solchen Unternehmen ein illusorisches Ziel, daher mag es angehen, dass weder Herder noch Hölderlin, Humboldt noch Steiner, Landauer noch Spengler, Anders noch Meyer-Abich noch Beck hier zum Wort kommt. Hinweise auf die vitalistische Zivilisationskritik des späten 19. Jahrhunderts fehlen (Nietzsches “Bleibt der Erde treu”), ebenso Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, Horkheimer und Adornos Kritik der instrumentellen Rationalität, der utopische Sozialismus Blochs, und die Phänomenologie (Heideggers wiederentdeckte Technikkritik und Gernot Böhmes ökologische Ästhetik). Da es sich hier nicht in erster Linie um eine philosophische Genealogie der ökologischen Idee handelt (der Vergleich mit den älteren Anthologien Engelbert Schramms (1984) und Peter Cornelius Mayer-Taschs (1991) ist instruktiv), ist es aber vielleicht nicht schlimm, wenn nicht alle philosophische Richtungen, die in Naturschutz, Umweltschutz und das ökologische Weltbild der Gegenwart eingeflossen sind, hier gebührend vertreten sind.

In thematischer Hinsicht kann die Auswahl eher als repräsentativ gelten: Wald (Holznot), Flüsse (Verschmutzung und Begradigung) und Landwirtschaft (Raubbau), Energieversorgung, Tierschutz und Artenschwund, die Folgen von Bevölkerungswachstum, Verstädterung und Globalisierung, und vor allem die Notwendigkeit einer bescheidenen, schonenden, gesunden Lebensweise werden immer wieder umkreist. Allerdings fehlt eine Diskussion der Folgen von Umweltzerstörung für ethnische und kulturelle Minderheiten wie die Sorben – wohl aus Platzmangel wurden auch keine Texte aufgenommen, die auf besondere Bedingungen in der DDR, Österreich oder der Schweiz Bezug nehmen. Weniger als ein Zehntel der Texte wurde von Frauen geschrieben. Das ist zwar nicht verwunderlich, aber der Nexus von Gender und Naturbeziehung hätte es vielleicht doch verdient, in mindestens einem Text eingehender untersucht zu werden.

Im Vergleich mit den vielen anregenden frühen Texten wirkt das Gros der hier aufgenommenen Schriften aus den letzten dreißig Jahren, die überwiegend Fakten vermitteln und rationell argumentieren, eher langweilig. Gelegentlich scheinen sie mir inhaltlich überholt – in manchen Fällen haben andere Autoren tiefere Einsicht in die angeschnittenen Themen geboten – und im Ausdruck vermögen sie auch weniger oft zu inspirieren. Manchmal fragt man sich, ob der Hauptbeitrag des jeweiligen Autors zur Umweltdebatte nicht anderswo als im abgedruckten Auszug zu orten sei. Mit rühmlichen Ausnahmen (etwa Amerys elf Thesen zum ökologischen Materialismus) mag die Fortführung der eigentlichen Traditionslinie der älteren im Band angeführten Autoren eher in den Händen von kulturkritischen Schriftstellern, Satirikern, Polemikern und Propheten liegen (die in diesem Teil des Buchs aber selten zum Wort kommen). Hier scheinen mir Hermand und Morris-Keitel die Sicht auf das, was den eigentlichen Reiz der Sammlung ausmacht, zu verlieren. Ebenso scheint mir die der Einleitung zugrundeliegende Vorstellung der Natur als stabile Harmonie und des Menschen als Schädling, und überhaupt die Neigung zur Vereinfachung komplexer Fragestellungen, die dort sichtbar wird, hinter der nuancierten Problematisierung der Schlagworte der 1970er und 1980er-Jahre in den Werken neuerer Umwelthistoriker, -ethiker und Kulturwissenschaftler zurückzufallen.

Der Band, der zwar keine einführenden Hintergrundinformationen oder Kontextualisierungen der einzelnen Texte, dafür aber eine Auswahlbiographie neuerer Forschungsliteratur enthält, wird Umwelt-, Sozial- und Kulturhistorikern als nützliche Sammlung schwer zugänglicher Quellen dienen. An den überraschenden Einsichten, der Frische und der sprachlichen Lebendigkeit der Texte, die gewissermaßen aus der Schatzkiste zweier Forscher hervorgeholt werden, werden auch ‚normale‘ Leser ihre Freude haben. Nicht der geringste Verdienst von Hermand und Morris-Keitel liegt darin, Texte unbekannter Autoren aufgespürt zu haben, die durch überraschende Aktualität faszinieren, seien es Schriften aus dem 18. Jahrhundert wie die proto-ökologischen Ausführungen des Schweizer Naturphilosophen Sulzer und der Traum eines einfachen Lebens in der Südsee im Roman von Adolph Knigge, oder das Manifest einer naturgemäßen Land- und Gartenwirtschaft aus dem Jahre 1873 von Eduard Baltzer und die 1904 von Friedrich Eduard Bilz veröffentlichten Prinzipien zur Lebensreform – wobei man über manche Einzelheiten schmunzeln muss. Allein ihretwegen lohnt sich der Ankauf, und solange es den Geist gibt, der aus solchen Texten spricht, ist Deutschland wahrlich „nicht verloren“.

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