N. Moczarski (Hg.): Die Protokolle des Sekretariats der SED-Bezirksleitung Suhl

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Titel
Die Protokolle des Sekretariats der SED-Bezirksleitung Suhl. Von der Gründung des Bezirkes Suhl im Juni 1952 bis zum 17. Juni 1953


Herausgeber
Moczarski, Norbert
Reihe
Veröffentlichungen aus Thüringischen Staatsarchiven 8
Anzahl Seiten
1060 S.
Preis
€ 74,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Malycha

Nachdem die SED in der ersten Hälfte der neunziger Jahre als ernstzunehmendes Forschungsthema kaum Beachtung fand, beschäftigt sich die Zeitgeschichtsforschung seit einigen Jahren erfreulicherweise recht intensiv mit Strukturen, Führungsentscheidungen, innerparteilicher Opposition und anderen internen Vorgänge innerhalb der bis 1989 in Ostdeutschland uneingeschränkt herrschenden Staatspartei. Allerdings stehen noch immer die frühen Jahre der Konstituierungs- bzw. Formierungsphase von 1945 bis 1953 im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das ist auch in dem vorliegenden Band der Fall, der die Debatten in einem lokalen Führungszentrum in den Krisenjahren 1952 und 1953 in den Mittelpunkt stellt. Dies scheint im Ansatz auch sinnvoll zu sein, da sich insbesondere in den vierziger und fünfziger Jahren innerhalb regionaler Führungsgremien im Vergleich zu den siebziger und achtziger Jahren durchaus kontroverse Debatten nachweisen lassen. Gleichwohl liegt für die späteren Jahre und insbesondere für den gesamten Zeitraum von 1946 bis 1989 keine Organisationsgeschichte der SED vor.

Die Herausgabe der Protokolle von Sitzungen einer SED-Bezirksleitung versteht Moczarski, seit 1990 stellvertretender Direktor und Oberarchivrat im Thüringischen Staatsarchiv Meiningen, als Unterstützung der historischen Forschung, da diese seiner Meinung nach eine komplexe Auswertbarkeit, weitgehende Authentizität und hohe Informationsdichte garantieren. Eine derartige Wertschätzung von Sitzungsprotokollen der SED mag auf den ersten Blick überraschen, denn wer als Forscher schon einmal mit Aufzeichnungsprotokollen dieser bürokratisch organisierten Partei zu tun hatte, dem fällt es schwer, wertvolle Informationen aus den oft drögen Details über Alltags- und Personalprobleme herauszufiltern. Die Jahre 1952 und 1953 bilden allerdings im Alltagstrott der Parteibürokratie insofern eine Ausnahme, als sich seit der zweiten Parteikonferenz vom Sommer 1952 eine gesamtgesellschaftliche Krise herausgebildet hatte, die in den 17. Juni 1953 einmündete. In diesem gesellschaftspolitischen Kontext wäre nun zu fragen, ob und in welcher Art und Weise eine regionale Macht- und Schaltzentrale Krisensymptome wahrnimmt, sie zum Gegenstand interner Erörterungen macht und dann auf diese reagiert.

Bei der Beantwortung dieser Frage, die für Moczarski bedauerlicherweise kein Primärproblem darstellen konnte, aber für die Forschung von erheblicher Relevanz ist, muss der Charakter dieses regionalen Führungsorgans in Rechnung gestellt werden. Die Bezirksleitungen konstituierten sich erst nach der Auflösung der Länder und der SED-Landesleitungen im August 1952. An der Spitze des politischen Apparates stand das Sekretariat der SED-Bezirksleitung, das in der Regel einmal pro Woche tagte und ein Gremium von Personen repräsentierte, die die wichtigsten Ämter und Funktionen im Bezirk inne hatten. Allerdings waren die Entscheidungskompetenzen und die Handlungsspielräume der Bezirksleitungen im Vergleich zu den Landesleitungen erheblich beschnitten worden, was als Folge des Zentralisierungsschubes im Kontext der Auflösung der Länder gesehen werden muss. Hinzu kam eine damit einhergehende Beschneidung bzw. Neustrukturierung der traditionellen Kreise des neuen Bezirks. Insgesamt hatten sich mit der Bildung neuer Verwaltungs- und Parteistrukturen im Jahre 1952 die Eingriffs- und Steuerungsmöglichkeiten der Berliner Zentrale bedeutend erweitert. Dieser Umstand muss bei der Bewertung der Protokolle hinsichtlich ihrer Aussagefähigkeit im Hinblick auf gesellschaftspolitische oder innerparteiliche Entwicklungsprozesse berücksichtigt werden.

Im Unterschied zu den zentralen Protokollen des Sekretariats und Politbüros der SED, die lediglich über Beschlüsse und behandelte Vorlagen Auskunft geben, stellen die Protokolle der Sitzungen des Sekretariats der Bezirksleitung aussagefähige Wortprotokolle bzw. Stichwortprotokolle dar. Insofern erlauben sie durchaus Einblicke in Meinungsbildungs- und Diskussionsprozesse regionaler Führungsgremien. In dem behandelten Zeitraum wurden insgesamt 61 Sekretariatssitzungen mit teilweise sehr ausführlicher Protokollführung textkritisch ediert. Der Band wird durch Kurzbiografien der Mitglieder des Sekretariats bzw. der ständigen Teilnehmer an den Sekretariatssitzungen komplettiert.

Die Protokolle zeigen insgesamt, dass die Bezirksleitung im Schatten der nicht mehr existierenden, aber noch imaginär nachwirkenden Landesleitung mit enormen Legitimationsdefiziten zu kämpfen hatte. So gelang die Profilbildung zu einer regionalen politischen Macht- und Schaltzentrale nur unvollständig. Dies mag auch einer der Gründe dafür sein, dass die tatsächlichen sozialen und wirtschaftlichen Prozesse am Sekretariat vorbei zu laufen schienen. Die Beschäftigung mit sich selbst trug wohl auch dazu bei, dass die seit Anfang des Jahres 1953 nicht mehr zu übersehenden Krisensymptome zwar erkannt, doch nur unzureichend thematisiert wurden.

Selbstverständlich spiegelt sich in den Dokumenten das für SED-Leitungsstrukturen übliche Bemühen um die Regulierung auch nur der banalsten Alltagsprobleme wider. In stark zunehmendem Maße bestimmten gravierende Versorgungsprobleme, nicht aber ihre wirklichen Ursachen, die Tagesordnung der Sitzungen. Die Protokolltexte dokumentieren ebenso das Fehlen alternativer Lösungsansätze, was natürlich primär mit dem inneren Zustand der Partei nach ihrer Transformation zu einer stalinistischen „Partei neuen Typus“ zu erklären ist. Im Verlauf der Parteisäuberungen der Jahre 1948 bis 1951 hatte sich ein Führungspersonal durchgesetzt, das die stalinistischen Denkmuster verinnerlicht hatte und mit pluralistischen Lösungsansätzen und demokratischer Meinungsbildung nicht mehr viel anfangen konnte. In dieser Hinsicht war es geradezu zwangsläufig, dass die Mitglieder des Bezirkssekretariats rat- und kopflos in die Ereignisse des 17. Juni stolperten.

Die Einleitung bietet einen informativen Überblick über jene Entscheidungen, die zur Bildung des Bezirkes Suhl geführt hatten. Sie präsentiert eine wertvolle Übersicht über seine verwaltungstechnischen bzw. parteiorganisatorischen Strukturen. Eine knappe Beschreibung der damals geltenden Arbeitsprinzipien im Sekretariat der SED-Bezirksleitung beleuchtet innerparteiliche Praktiken, die auch für andere Führungsgremien als zutreffend gelten können. Im Hinblick auf die für diese Zeit forschungsrelevanten Fragenstellungen vermisst der Rezensent allerdings eine aussagekräftige Wertung. So heißt es resümierend in der Einleitung lapidar: „Im Vorfeld der Krise des 17. Juni 1953 versuchte deshalb das Sekretariat der SED-Bezirksleitung Suhl, eine selbstkritische Bestandsaufnahme seiner Arbeit vorzunehmen. Sie blieb jedoch infolge der ungenügenden Auseinandersetzung mit den Geburtsfehlern des sozialistischen Systems folgerichtig in den Anfängen stecken.“ (S. XXIX). Damit ist dem an sachkundigen Erklärungen interessierten Leser kaum geholfen. Ferner bietet die Einleitung für den nach speziellen Themenbereichen Suchenden so gut wie keine Orientierungshilfen.

Eine zeithistorische Einordnung der Protokolltexte in die konkreten historischen Vorgänge im Vorfeld des 17. Juni 1953 sowie ihre Wertung und Analyse können allerdings nicht unbedingt von einem Bearbeiter erwartet werden, der seine unzweifelhaft aufwendige und wertvolle Arbeit als Dienstleistung für die Zeithistoriker und tiefergehende regionale Forschungen versteht. Diese Arbeit muss der Forscher also schon selbst erledigen. Hierfür steht mit den sorgfältig edierten Protokolltexten auch ausreichend Material zur Verfügung.

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