H. Schilling u.a. (Hrsg.): Frühneuzeitliche Bildungsgeschichte

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Titel
Frühneuzeitliche Bildungsgeschichte der Reformierten in konfessionsvergleichender Perspektive. Schulwesen, Lesekultur und Wissenschaft


Herausgeber
Schilling, Heinz; Ehrenpreis, Stefan; Moesch, Stefan
Reihe
Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 38
Erschienen
Anzahl Seiten
309 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Ulrich Musolff, Allgemeine Erziehungswissenschaft, Universität Bielefeld

Der vorliegende Sammelband behandelt hauptsächlich die Bedeutung der Reformierten für die frühneuzeitliche Bildung. Die Beiträge zum niederländischen Bildungswesen bieten besonderen Erkenntnisgewinn. Um zwei Schwerpunkte ordnen sich die meisten Beiträge an: (1.) reformiertes Schulwesen (einschließlich Universitäten); (2.) reformierte Lesekultur. In der „Einleitung“ wirbt Stefan Ehrenpreis für eine integrierte Sozialisations-, Erziehungs- und Bildungsgeschichte in europäisch-vergleichender Perspektive, die in erster Linie die kulturellen Wirkungen des Konfessionalisierungsprozesses untersucht. Umfängliche konzeptionelle Überlegungen stützen dieses Forschungsprogramm.

Leendert F. Groenendijk zeigt in seinem informativen Überblicksartikel „Die reformierte Kirche und die Schule in den Niederlanden während des 16. und 17. Jahrhunderts“ den Beitrag der Reformierten zum Elementarschulwesen in zweifacher Hinsicht auf. Einerseits förderten sie von 1570 an den konfessionellen Elementarunterricht an öffentlichen Schulen für Jungen und Mädchen „im Alter von 6 oder 7 bis 10 oder 12 Jahren“ (S. 63). Indes war das Verhältnis zwischen Kirche und weltlicher Obrigkeit, welche die Elementarschulen errichtete und verwaltete, nicht frei von Spannungen. Groenendijk berichtet von Ernennungen katholischer Schulmeister nach der Reformation (S. 53). Andererseits behinderte die reformierte Kirche als die einzige öffentliche Kirche der Niederlande den Elementarunterricht der anderen Konfessionen. Groenendijk beschreibt „die ‚Säuberung‘ der Dorfschulmeister in der Provinz von Utrecht“ 1619 (S. 57), Kontrollen und Schließungen katholischer Winkelschulen im 17. Jahrhundert (S. 58, 62). So werden die Grenzen der Toleranz sichtbar. Alles in allem „hat die reformierte Schule dazu beigetragen, dass die Reformierte Kirche im Laufe der Zeit an Stärke zugenommen hat“ (S. 72). Groenendijks Leitfragen nach den Aktivitäten der reformierten Kirche zur Instrumentalisierung der Schule und nach den Problemen, auf die diese Kirche dabei stieß, erweisen sich als sehr fruchtbar. Das von ihm gezeichnete Bild der niederländischen Elementarschule ist reich an empirischer Information und dennoch übersichtlich.

Dirk Van Miert beschreibt präzise und anschaulich in „The Reformed Church and Academic Education in the Dutch Republic (1575-1686)“ die begrenzte Macht der reformierten Kirche über die Institutionen der akademischen Bildung. Der Aufbau der Universitäten und nicht-graduierenden höheren Schulen wird unter mehreren Aspekten eher als Bestandteil der Bildung des Nationalstaats denn als Teil der Herausbildung der reformierten Kirche dargestellt: (a.) unter rechtlichem Aspekt: „die weltliche Obrigkeit gewann die Oberhand über die Kirche auf der nationalen, Provinz- und kommunalen Ebene“ (S. 92), was die Korporationsrechte akademischer Institutionen betraf; (b.) unter finanziellem Aspekt: „es waren die Obrigkeiten, die die Institutionen finanzierten und betrieben“ (S. 93); (c.) unter administrativem Aspekt: „In den meisten Fällen ergriffen die Städte die Initiative, eine Akademie zu gründen.“ (Ebd.) Van Miert beschreibt auch Beispiele für das reibungslose Zusammenwirken von weltlicher Obrigkeit und reformierter Kirche bei der Verwaltung akademischer Institutionen: Franeker, Harderwijk, Groningen, Deventer, Den Bosch, Breda. Aber sobald die Interessen der weltlichen Obrigkeit von denen der reformierten Kirche abwichen, „hatte die Kirche nachzugeben“ (S. 94), wie an Beispielen von Berufungen und versuchten Eingriffen in die Lehrfreiheit in Leiden, Amsterdam und Utrecht gezeigt wird. „Je randständiger die geographische und wirtschaftliche Situation der beherbergenden Städte war, desto mehr Einfluss war die Obrigkeit bereit, mit den Kirchen zu teilen.“ (S. 95) Trotz des überwiegend weltlichen Einflusses beim Aufbau akademischer Institutionen funktionierten diese im allgemeinen „als eine Einrichtung der Konfessionalisierung“ (S. 94). „Keine remonstrantische, mennonitische oder lutherische Lehrmeinung wurde jemals in den Fakultäten der Theologie oder der Artes und Philosophie an den niederländischen Akademien gelehrt.“ (Ebd.) Am Ende des 17. Jahrhunderts entfernten sich einige dieser Institutionen von der reformierten Kirche (Franeker, Deventer) bzw. schlossen (Breda). Van Mierts umfassende und informative Darstellung der Verteilung kirchlicher Macht in der niederländischen akademischen Landschaft erhält ihre Anschaulichkeit durch die Darstellung der Konflikte zwischen akademischen, obrigkeitlichen und kirchlichen Kräften.

Willem Frijhoff führt in seinem Beitrag „The Confessions and the Book in the Dutch Republic“ die Besonderheit der calvinistischen Lesekultur auf die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts unvollendete Konfessionalisierung der ‚Bürgerkultur‘ (Huizingas Begriff) in den nördlichen Niederlanden zurück. In einer multikonfessionellen Landschaft dreier protestantischer Denominationen (Calvinisten, Lutheraner, Mennoniten), römischer Katholiken und Juden errang die calvinistische Kultur zwar als einzige im 17. Jahrhundert öffentlichen Status. Aber sie konnte die aus der öffentlichen Toleranz der religiösen Subkulturen folgenden Spannungen nur durch eine kulturelle Gruppen-Strategie bewältigen, die einerseits die Vorherrschaft in der Bürgerkultur der Niederlande sicherte, andererseits sowohl in der säkularisierten Öffentlichkeit als auch in der Privatsphäre als Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen Konfessionen sichtbar war: „als eine Kultur des Hörens auf das Wort, der Teilnahme an Diskussionen über den Sinn von Gottes eigenem Wort und des Arbeitens mit Worten und ihrer Bedeutung als der höchsten kulturellen Praxis“ (S. 205). Die Erklärungskraft der von Frijhoff behaupteten und mit empirischen Daten stichhaltig belegten Kulturwirkung des Calvinismus ist beträchtlich. „Nicht das tatsächliche Angebot der Beschulung, der kirchlichen Dienste, der Buchproduktion usw.“ erklärt den unterschiedlichen Grad des Schriftgebrauchs der konfessionellen und religiösen Gruppen, „sondern die Wahrnehmung und die Aneignung dieser Instrumente der Kultur als kultureller Praktiken“ zum Zweck der Unterscheidung von anderen religiösen Gruppen (S. 210). Frijhoffs Beitrag ist zu ca. 50 Prozent identisch (S. 190-203) mit Teilen des von Frijhoff und Marijke Spies verfassten Buchs: 1650: Hard-Won Unity, Assen 2004, S. 236-246, 260-263.

Stefan Ehrenpreis schildert den reformierten Elementarunterricht in Köln, Nürnberg, Baiersdorf, Neustadt/Aisch, Erlangen und Schwabach in seinem Beitrag „Das Schulwesen reformierter Minderheiten im Alten Reich 1570-1750: Rheinische und fränkische Beispiele“. An allen genannten Orten erteilten reformierte Lehrer im gesamten Untersuchungszeitraum Elementarunterricht. Im 17. Jahrhundert schickten jedoch zahlreiche Kölner Reformierte trotz Abmahnungen durch die Presbyterien ihre Söhne auf die katholischen höheren Schulen der Reichsstadt. Die Nürnberger Reformierten nutzten für die höhere Bildung ihrer Söhne das lutherische Gymnasium und die Universität Altdorf. Die im ländlichen Raum lebenden fränkischen Reformierten hatten wenig Bedarf an höherer Bildung. Ehrenpreis betont das fortdauernde „Engagement im Bereich der Elementarunterweisung“ (S. 121) und die Verbindung des Elementarunterrichts „mit der Katechese“ (S. 122), um die anhaltende primär konfessionelle Orientierung des Bildungsstrebens der reformierten Minderheiten zu belegen.

Welchen Beitrag die Reformierten zur Verbindung von Schule und Katechese leisteten, wird aus dem Beitrag von Robert M. Kingdon „Popular Religious Education in Calvin‘s Geneva“ nicht ersichtlich. Er informiert über Teilnehmer und Inhalt der sonntäglichen Katechese (a.) in einer Landgemeinde nahe Genf um 1565 und (b.) in Genf um 1550. Quantitative Angaben zu beiden Personengruppen fehlen.

Anja-Silvia Göing bestätigt detailliert in ihrem Beitrag „‚In die Fremde schicken‘: Stipendien für Studierende des Zürcher Großmünsterstifts an auswärtigen Hochschulen“ die 1995 und 1996 publizierten Forschungsergebnisse von Karin Maag zum Zürcher Stipendienwesen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die von Göing ausgewertete Quelle umfasst 92 Studenten.

Matthias Pohlig stellt in „Konfessionalisierung und frühneuzeitliche Naturwissenschaft“ Vermutungen an, die die besondere Offenheit reformierter Glaubenslehren für die moderne Naturwissenschaft bestreiten – allerdings bedürfen diese Vermutungen noch der Erhärtung durch entsprechende Forschungsergebnisse. Zu klären wäre zunächst, was Pohlig mit „Konfessionalisierung von Wissenschaft“ (S. 249, 263f.) bzw. „Konfessionalisierung der Wissenschaften“ (S. 252) meint. Handelt es sich darum, dass „der Befund florierender Wissenschaft in den frühneuzeitlichen Konfessionsstaaten tatsächlich ursächlich auf Religion in ihrer konfessionalisierten Form zurückzuführen ist“ (S. 249), also um die Verursachung wissenschaftlichen Fortschritts durch Religion? Oder handelt es sich um den Gebrauch von Wissenschaft „als Waffe im Konfessionskampf“ (S. 252)? Oder ist von „parallele(n) Diskurskopplungen zwischen Gottesdienst und Wissenschaften“ (S. 264) auszugehen – was immer das sein mag? Pohlig spricht von „drei Konfessionen/Konfessionalisierungen“ (S. 231). Die schwankende Verwendung des Zentralbegriffs steigert die semantischen Probleme dieses Beitrags.

Die übrigen fünf Beiträge nehmen nicht Bezug auf die Bildungsgeschichte der Reformierten, sondern informieren zum Teil über andere Konfessionen. Jürgen Overhoff stellt in „Das lutherische Schulwesen Dänemarks im 17. und 18. Jahrhundert“ drei Reformphasen vor. Diese waren sämtlich „als lutherische Projekte gekennzeichnet“ (S. 142). Andreas Eckert macht Bemerkungen zur europäischen Expansion, zum Handel, zur Kolonialherrschaft und zu katholischen, anglikanischen und lutherischen Missionen unter dem Titel „Europäische Bildungsbemühungen im vorkolonialen Kontext: Missionare, Staat und Schulen in Afrika und Asien, 16. bis 19. Jahrhundert“. Iris Gareis skizziert die 300jährige Geschichte eines peruanischen Franziskaner-Kollegs in „Koloniale Bildungspolitik und indigene Eliten in Peru. 16.-18. Jahrhundert: Das Kazikenkolleg in Lima“. Adam Fox gibt einen bis 2003 reichenden Forschungsüberblick zur katholischen und anglikanischen Literaturproduktion und Lektürepraxis von 1530-1750 in „Popular Religion and Popular Print in Early Modern England“. Monika Mommertz nutzt die Kategorie Geschlecht als „tracer“, wenn sie über „Neues“ Lernen und über Wissen als „soziales Konstrukt“ berichtet unter dem Titel „‚Lernen‘ jenseits von Schule, Stift und Universität? Informelle Wissensvermittlung und Wissenstransfer im Schnittfeld frühneuzeitlicher Wissenschafts- und Bildungsgeschichte“. Diese Beiträge verweisen eher auf das Desiderat einer konfessionell vergleichenden Betrachtung, die von den Herausgebern seit längerem so überzeugend verfochten wird.

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