I. Cerman u.a. (Hrsg.): Adelige Ausbildung

Titel
Adelige Ausbildung. Die Herausforderung der Aufklärung und die Folgen


Herausgeber
Cerman, Ivo; Velek, Lubos
Erschienen
München 2006: Martin Meidenbauer
Anzahl Seiten
305 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ewald Frie, Fachbereich 1 Fachgruppe Geschichte, Universität/GH Essen

Die deutsche Adelsforschung zum 19. Jahrhundert hat ihre Fragestellungen lange vom Jahrhundertende her bezogen. Dies hat hellsichtige Analysen für das beginnende 20. Jahrhundert ermöglicht, ist aber kaum in der Lage gewesen, die dynamische Veränderung von Adelslandschaften und Elitenvergesellschaftung durch das Jahrhundert von Nationalisierung, Staatsbildung und Industrialisierung hindurch in den Blick zu bekommen. Mit dem Blick vom Jahrhundertende hängt es wohl auch zusammen, dass den preußischen Adelslandschaften größere Beachtung geschenkt worden ist als denen Süd- und Südwestdeutschlands oder der Habsburgermonarchie, was von 1800 her betrachtet mindestens erstaunlich ist. Es ist daher sehr zu begrüßen, dass sich in Prag eine Arbeitsgruppe überwiegend tschechischer Historiker gebildet hat, die, so Luboš Velek im Vorwort dieses Bandes, „unter aktiver Kooperation mit österreichischen, deutschen, polnischen und ungarischen Kollegen versucht, eine Forschungsgrundlage für den Beginn einer intensiven und vielseitigen Erforschung des mitteleuropäischen Adels in der modernen Zeit zu schaffen.“ (S. 8) Der vorliegende Band dokumentiert den ersten thematischen Workshop der Gruppe zum Thema „Ausbildung im Adel“ (S. 8).

Neben dem Vorwort von Luboš Velek und der knappen Einleitung von Ivo Cerman enthält der Band siebzehn Beiträge in deutscher, englischer und französischer Sprache. Sie behandeln unter dem geographischen Label „Mitteleuropa“ vor allem Böhmen, aber auch Ungarn, Wien und als Vergleichslandschaften Sachsen und Württemberg. Thematisch sind vier Gruppen gebildet worden: „Ideen“, „Adelige Bildungsstätten“, „Bildungspraxis“ und „Adelige Gelehrsamkeit“. Der selbstgestellte Anspruch ist unterschiedlich. Einige Aufsätze präsentieren Quellenmaterial oder stellen Ereignisse, Personen oder Ideen vor, ohne zu interpretativen Höhenflügen anzusetzen. Das kann durchaus spannend sein: Wir lesen über adlige Mädchenerziehung um 1800 am Beispiel der Familien Schwarzenberg und Schlik (Milena Lenderová) sowie über das Konvikt für adlige Mädchen beim Orden Notre Damen in Bratislava und das wechselvolle Schicksal der Portraits einiger Absolventinnen in blauen Kostümen (Ingrid Štibraná). Zdeněk Bezecný erzählt die knapp zweihundertjährige Geschichte der Realisierung einer testamentarischen Verfügung, mit der Graf Johann Peter Straka 1710 eine Akademie „für die Bildung der armen Jugend des hohen Standes der böhmischen Nation“ (S. 170) gründen wollte. Alena Kiehlborn präsentiert Erziehungskonzepte, die Anfang des 19. Jahrhunderts für die Söhne Carls I. von Schwarzenberg entworfen wurden. Milan Hlavačka beschreibt ganz dicht aus den Quellen Kindheit und Adoleszenz der unmittelbaren Nachkommen des Fürsten Georg Christian II. von Lobkowicz. Miloš Řezník stellt das romantische Wissenschafts- und Erkenntniskonzept des Grafen Georg von Buquoy vor, dessen Reiz darin liegt, dass zwar seine „Erkenntnisprinzipien und Strategien nicht den Kriterien der neuzeitlichen Wissenschaft entsprachen“ (S. 243), die Ergebnisse aber dennoch eine eigene Faszinationskraft ausüben. Martina Grečenková holt die Eliten des habsburgischen Adels in die „communauté intellectuelle européenne“ (S. 279) zurück, indem sie das dichte Korrespondenznetzwerk des Fürsten Joseph Nicolas von Windischgrätz (1744-1802) und insbesondere seinen Briefwechsel mit Condorcet untersucht.

Einige Autoren vertreten höhere interpretative Ansprüche. Veit Elm ordnet das Erziehungskonzept von „Émile“ in die Entwicklung des Rousseauschen Denkens ein und diskutiert seine Zugehörigkeit zur Aufklärung. Tereza Diewoková leitet die ausweislich der Bibliothekskataloge intensive Rousseau-Rezeption tschechischer Aristokraten aus der im Vergleich zu Frankreich stärker familial orientierten Rolle adliger tschechischer Frauen her. Nach Josef Matzerath waren adlige Studenten nach 1800 in ihrem Selbstverständnis trotz der immer stärker standesindifferenten Bildungsinhalte und Bildungsinstitutionen nicht gefährdet, weil sie in einem adligen sozialen Umfeld verblieben. Olga Khavanova erklärt das Scheitern theresianischer Bildungsinitiativen für den ungarischen Adel nicht nur aus Widersprüchen der Initiativen selbst, sondern auch aus der Aneignung der neuen Institutionen durch den kulturell, sozial und hierarchisch eigentümlich strukturierten ungarischen Adel. Ivo Cerman versucht sich an einer Neuinterpretation des Wiener Theresianums. Claire Madl beantwortet nach spannender Argumentation die Frage, ob es so etwas wie einen Typ „Adelsbibliothek“ gibt, eher negativ. Nach Johannes Bronisch kehrt sich das asymmetrische Verhältnis zwischen adligem Mäzenatentum und der materiellen Bedürftigkeit führender aufklärerischer Intellektueller im Falle des Grafen Ernst Christoph von Manteuffel und des Philosophen Christian Wolff geradezu um: In Zeiten spätständischer Statusungewissheit übertrug sich „die Autorität des berühmten Gelehrten […] auf den Adligen“ (S. 277). Manteuffel hat, wie sein Umgang mit den Briefen Wolffs zeigt, die Korrespondenz mit dem Philosophen „gleichsam als Nachweis seiner neuen ‚Nobilitierung’ durch Philosophie und Wahrheit“ (S. 277) betrachtet.

Die Aufklärung war, wie der Untertitel des Buches sagt, eine Herausforderung für den Adel. Antiadlig war sie nicht. Freilich zeigen vor allem die Aufsätze von Madl und Bronisch, dass für das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert „Adel“ eine außerordentlich schillernde und wenig trennscharfe Kategorie darstellt. Vielleicht lässt sich die Dynamik der nachständischen Gesellschaft eher auf den Spuren von Elisabeth Fehrenbach („Kontaktzonen“) und Michael G. Müller („Arenen der Elitenvergesellschaftung“) entdecken als dadurch, dass wir den ständischen Begriffen „Adel“ und „Bürgertum“ auf ihrem Weg in die rechtliche Entgrenzung und ideologische Überhöhung folgen. Unabhängig von der einzuschlagenden Forschungsrichtung zeigt der Band aber, dass Mitteleuropa oder Zentraleuropa unverzichtbarer Bestandteil bei der Untersuchung des Auf- und Abstiegs von Eliten im 19. und 20. Jahrhundert sein wird.