A. Bernstein: Von der Balance of Power zur Hegemonie

Titel
Von der Balance of Power zur Hegemonie. Ein Beitrag zur europäischen Diplomatiegeschichte zwischen Austerlitz und Jena/Auerstedt 1805-06


Autor(en)
Bernstein, Amir D.
Reihe
Historische Forschungen 84
Erschienen
Anzahl Seiten
430 S.
Preis
€ 74,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Luh, Stiftung Preussische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg

Amir Bernstein sagt es nicht ausdrücklich, aber er möchte eine Lanze brechen für die Diplomatiegeschichte und deren Erkenntniswert. Nicht für die klassische Diplomatiegeschichte, sondern für eine moderne, und zwar am Beispiel der europäischen Politik zwischen den Schlachten von Austerlitz und Jena/Auerstedt: „Im Hinblick auf konstruktive Ansätze zur Erneuerung der Disziplin“, so Bernstein, „arbeiten die vorliegenden Untersuchungen das ‚zwischenstaatliche Neben-, Mit- und Gegeneinander‘ in den Jahren 1805/06 extensiv aus. Dabei versuchen sie, den methodischen sowie den geographischen Horizont der gängigen Geschichtsschreibung der Diplomatiegeschichte zu erweitern. Methodisch weichen die Untersuchen vom linearen historiographischen Schema ab, welches fast teleologisch auf das Endresultat zentraler Ereignissequenzen fokussiert ist.“ (S. 12) Da sich dieses Untersuchungsmuster explizit für ausgewählte, allein auf das Schlussergebnis bezogene Indikatoren interessiere, werde, so argumentiert Bernstein mit Reinhart Koselleck, nicht nur das Darstellungspotential begrenzt, sondern von dem Historiker auch die sachgerechte Zuwendung zum Quellenbestand verlangt. Um dieses Problem zu lösen, schließt sich Bernstein deshalb dem theoretischen Ansatz von Ute Daniel an und räumt „der Erklärungskraft des Ephemeren“ großes Gewicht ein. „Die darauf fundierte Geschichtsrekonstruktion konzentriert sich folglich auf wenige oder unbeachtete Nebenlinien der Geschichte, die in der vorhandenen Literatur nicht vollständig zutage treten, und integriert diese in die zentrale geschichtliche Erzählung.“ Anhand dieses theoretischen Ansatzes möchte Bernstein „unbekannte Entwicklungsoptionen im europäischen Staatensystem“ identifizieren (alle Zitate S. 12).

Allerdings nicht sofort. Denn ehe Bernstein mit der ausführlichen Rekonstruktion seiner Untersuchungszeit beginnt, gibt er im Teil A seiner Arbeit einen Überblick über die „Geschichte der europäischen Balance of Power“ und die „Akteure“ auf der politischen Bühne, worunter er die Staaten, nicht die Staatsmänner fasst (S. 30-48); in diesen Zusammenhang gehören auch die Kurzbiographien, Teil G, im Anhang (S. 260-278; Register S. 278-290). Erst danach beginnt „die Ergänzung des historischen Narratives“ (S. 16). In Teil B, „Balance of Power oder Hegemonie“ (S. 49-109) widmet sich Bernstein den komplexen Beziehungen innerhalb der antifranzösischen Koalition, den Zwistigkeiten zwischen Napoleon und Talleyrand in außenpolitischen Fragen und Zielen und die außenpolitische Positionierung Preußens nach dem Zusammenbruch der 3. Koalition. In Teil C (S. 110-159) betrachtet Bernstein vornehmlich Talleyrands und Napoleons Pläne einer Neugestaltung Europas nach Austerlitz und die Idee eines preußischen Nordbundes, in Teil D (S. 160-226) die französischen Friedensbemühungen des Sommers 1806. Hier setzt er sich mit den Friedensverhandlungen zwischen Paris und St. Petersburg einerseits und Paris und London andererseits auseinander und beleuchtet die Reaktionen der preußischen Politik auf diese Verhandlungen bzw. auf deren Scheitern. Im letzten Abschnitt dieses Teils zeichnet er den diplomatischen Weg nach Jena/Auerstedt nach und fragt nach der Bedeutung der Doppelschlacht für das europäische Staatensystem und für eine Auseinandersetzung zwischen den „Kräften der kontinentalen Balance of Power“ und Napoleons Hegemoniestreben. Alle Untersuchungen Bernsteins zielen letztendlich darauf ab, „die Bedeutung der bekannten Ereignisse neu zu gewichten“ (S. 19). Die Schlussbetrachtungen, Teil E (S. 227-235) fassen knapp die Ergebnisse der Arbeit zusammen.

Wie sehen diese Ergebnisse aus? Tatsächlich erschließt der Ansatz der Untersuchung, „geschichtliche ‚Randerscheinungen‘ in das zentrale historische Narrativ zu integrieren“ (S. 227), neue Quellen und erweitert den Bezugsrahmen der Untersuchungen, hier von Mitteleuropa bis an das Mittelmeer, nämlich durch die Beleuchtung der Cattaro-Affaire zwischen Russland und Frankreich. Dass der gewählte Ansatz auch den „politischen Kontext der Analyse (vom Staat als Akteur bis zum einzelnen Minister und Diplomaten und dessen Einfluss auf den Gang der Ereignisse)“ erweitert hat (S. 227), lässt sich nicht behaupten. Brendan Simms beispielsweise hat in seiner Untersuchung „The Impact of Napoleon“ (Cambridge 1997) ebenso sämtliche Aspekte diplomatischer Tätigkeit nur anhand des „historischen Narratives“ analysiert.

Sein eigentliches Ergebnis hat Bernstein jedoch nicht formuliert, vielleicht, weil es gar nicht als Untersuchungsziel ausgegeben war, ja gar nicht danach gefragt wurde: Zwischen dem Frankreich Napoleons und den Mächten Europas mit Großbritannien an erster Stelle war kein Friedensschluss möglich. Dies machen Bernsteins Studien deutlich. Denn im Grunde kreisen seine gesamten Untersuchungen um die Frage, ob es nach der „Dreikaiserschlacht“ bei Austerlitz 1805, nach der großen Niederlage Österreichs und Russlands gegen Frankreich, möglich gewesen wäre, in Europa einen für alle Seiten annehmbaren, dauerhaften Frieden zu schaffen. Talleyrand, darauf insistiert Bernstein immer wieder in seinen Ausführungen, hat einen solchen Frieden zu erreichen versucht, in bilateralen Verhandlungen mit Österreich, Russland, Großbritannien und Preußen. Doch blieben alle Anstrengungen erfolglos. Warum? Weil, so Bernstein, sowohl die Preußen (hier vor allem Lucchesini, nicht Luchesini wie Bernstein durchgehend schreibt), als auch die Briten und die Russen unfähig gewesen seien, „zwischen der talleyrandschen und der napoleonischen Politik zu differenzieren. Wie der Zar und Minister Fox verwechselte auch der preußische Gesandte die Pläne des französischen Außenministers mit der Außenpolitik des französischen Kaisers“ (S. 180). Dabei hat Talleyrand auf die Balance of Power gesetzt, die einen Frieden möglich gemacht hätte, Napoleon dagegen hat in Europa die Hegemonie Frankreichs gewollt. Dieser entscheidende Unterschied war von außen kaum wahrzunehmen, da Talleyrand am Ende nicht ohne Napoleons Zustimmung handeln konnte und Napoleon seinen Kontrahenten immer wieder vermittelte, seinen Frieden diktieren und nicht einen Frieden schließen zu wollen. Dies im „ephemeren“ Detail durch die in den einzelnen Teilen erfolgte Untersuchung von Talleyrands Ideen aufgezeigt zu haben, ist der eigentliche Ertrag der Arbeit.

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