E. Wiersing: Geschichte des historischen Denkens

Cover
Titel
Geschichte des historischen Denkens. Zugleich eine Einführung in die Theorie der Geschichte


Autor(en)
Wiersing, Erhard
Erschienen
Paderborn 2007: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
1.091 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Küttler, Berlin

Wie der Umfang von über 1.000 Seiten, so hat dieser Versuch einer Synthese von Geschichte und Theorie des historischen Denkens auch inhaltlich ungewöhnliche Dimensionen. Gegenstand ist „die ‚Geschichte’ in der denkbar weitesten Bedeutung des Begriffs“, worunter Erhard Wiersing sowohl die gesamte Naturgeschichte vom Urknall an, die Kulturgeschichte und die Lebensgeschichte der Menschen als Individuen wie auch die Geschichte der Menschheit insgesamt versteht (S. 10, S. 20). Die Darstellung ist primär ideen- und wissenschaftsgeschichtlich angelegt. Sie soll nach dem Durchgang durch diese umfassende geschichtliche Aufbereitung in vier Hauptteilen vom „vormodernen Geschichtsdenken“ über die „Entstehung des modernen Geschichtsdenkens im 18. Jahrhundert“, das „Geschichtsdenken im ‚historischen’ 19. Jahrhundert“ und „Wege und Wenden des historischen Denkens“ sowie das „naturwissenschaftliche Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert“ (Teil A-E, untergliedert in insgesamt 59 Kapitel) schließlich zur Systematisierung von Grundsätzen einer „Allgemeinen Historischen Anthropologie“ gelangen (Kap. 60, S. 992ff.).

Wiersing ist von Hause aus Erziehungswissenschaftler mit bildungsgeschichtlicher, sprach- und literaturwissenschaftlicher sowie philosophischer Profilierung. Das geschichtstheoretische und historiographiegeschichtliche Interesse ergab sich schon im Studium und vor allem aus entsprechenden Vorlesungen und Anregungen der Studenten an seiner langjährigen Wirkungsstätte, der Hochschule für Musik in Detmold. Das vorliegende Buch ist gewissermaßen die umfassende allgemeingeschichtliche Einführung zu zwei geplanten, seine speziellen Forschungen zusammenfassenden Arbeiten über eine „Theorie der Menschenbildung“ und eine „Geschichte des bildungshistorischen Denkens“ (S. 17). Von hier aus ist Wiersings Zugriff auf Geschichte und Geschichtsdenken in einem umfassenden geistesgeschichtlichen und zugleich anthropologischen Sinne zu verstehen: Menschenbildung als natur-, kultur- und lebensgeschichtlicher Prozess im Kontext der subjektiven, sich in den Epochen wandelnden Reflexion (S. 19ff., S. 994ff.).

Schon diese Beschreibung verweist auf Probleme eines solchen riesenhaften Vorhabens, derer sich der Verfasser durchaus bewusst ist – nicht nur wegen der eurozentrischen „Engführung“, sondern auch im Hinblick auf unvermeidliche Defizite einer Gesamtaufnahme aus großer Höhe mit notgedrungen unterschiedlich genauer Auflösungsschärfe im Detail. Es wäre unbillig und würde auch den Rahmen einer Rezension sprengen, sich auf eine Detailkritik einzulassen. Mit Recht erwartet der Autor vom kritischen Leser hauptsächlich eine Beurteilung der „großen Linien des Konzepts“ (S. 17).

Dazu ist es wichtig zu wissen, dass Wiersings Hauptarbeitsgebiet die Geschichte der Bildungskonzeptionen ist, mit besonderem Schwerpunkt auf den vormodernen Epochen. Das zeigt sich in den Vorzügen des ersten Hauptteils: Für die frühen Hochkulturen – wenn auch hauptsächlich auf den mediterran-südeuropäischen Raum beschränkt – sowie für die europäische Renaissance (S. 173ff.) und Reformationszeit (S. 186ff.) – hier besonders hervorzuheben die Ausführungen über Luther im Kontext von historischem Denken, Kirchenreform und landesfürstlichen Interessen (S. 201ff.) – ist die Einbettung der Entwicklung historischen Denkens in die allgemeine Kulturgeschichte am besten gelungen und damit auch der Anspruch einer ideengeschichtlich komplexen Betrachtungsweise adäquat eingelöst. In dieser Perspektive ist es auch verdienstvoll, dass sich Wiersing vor dem Hintergrund der Historizität und kulturellen Qualität menschlicher Entscheidungen und Handlungen mit den reduktionistischen Ansprüchen der modernen Hirnforschung im Hinblick auf Determinismus und Willensfreiheit auseinandersetzt (S. 956ff., S. 969ff.) und generell im Teil F die lange Zeit vernachlässigte Problematik des Zusammenhangs von kultur- und naturgeschichtlichem Denken sehr ausführlich erörtert.

Was nun die Darstellung der für die Geschichtswissenschaften selbst zentralen Entwicklung des modernen europäischen Geschichtsdenkens in den Teilen über das 18., 19. und 20. Jahrhundert angeht, so ist zunächst die trotz der eurozentrischen Beschränkung ungeheure Materialfülle und die Zusammenführung sehr unterschiedlicher Wissensbereiche als erstaunliche Arbeitsleistung zu würdigen. Der Verfasser behandelt nicht nur die Entwicklung der Geschichtswissenschaft im engeren Sinne mit ihrer vielschichtigen Differenzierung, sondern auch die Philosophie-, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte nebst der Entwicklung der Historik als Metatheorie geschichtlichen Denkens und Forschens. Gravierende Defizite betreffen allerdings die osteuropäische Historiographie und die Revolutionsgeschichtsschreibung in Frankreich – aber derartige Fehlstellen sind nicht die Hauptsache.

Vielmehr zeigt sich in der Gesamtkonzeption neben der arbeitspragmatisch für einen Einzelnen kaum vermeidlichen Inkaufnahme des weitgehenden Verzichts auf außereuropäische Entwicklungen ein Mangel an straffer Linienführung. Einleitung und Schluss geben zwar eine allgemeine anthropologische Klammer, aber erstens fehlt dabei als durchgehend wichtige Komponente die gesellschaftliche Qualität aller Kulturgeschichte. Diese wird lediglich für einzelne Richtungen wie die Sozial- und Gesellschaftsgeschichte und den Marxismus (dort sehr klischeehaft) berücksichtigt. Zweitens – konzeptionell offenbar daraus resultierend – gelingt Wiersing die Herausarbeitung des Zusammenhangs von Realgeschichte und Geschichtsdenken in der Gesamtsicht nur für die vormodernen Kulturen und später bei Teilfragen wie dem Nationalsozialismus (dessen Zusammenführung mit dem Existenzialismus in einem Kapitel allerdings unerklärt und unverständlich bleibt, vgl. S. 526ff.). Die epochalen Problemsituationen des „Menschen in seiner Geschichte“ – so der programmatische Titel des systematisierenden Schlusskapitels – als große Weichenstellungen und Impulse, als Umwälzungen der Tradition und ideelle Neuanknüpfungen kann man hingegen zumeist nur an den behandelten Fragestellungen der einzelnen Personen und Richtungen erahnen.

Das gilt für die gewaltige Wirkung der Französischen Revolution (zum Beispiel bei Schillers „Verzicht auf das Endziel des Vernunftstaats“ und „Rückzug auf die Schönen Künste“, S. 309) ebenso wie für 1848 als Krisenwende des bürgerlichen Geschichtsbewusstseins, den Ersten Weltkrieg als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts und vor allem die aktuellen Umwälzungen aller Lebensbereiche als existenzielles Problem menschlicher Historizität. Sie kommen in der Behandlung des Postmodernismus und bei dessen Kritik (S. 660ff.) sowie in der Darstellung des „cultural turn“ (S. 688ff.) nur am Rande vor. Die Probleme der neuen Hochtechnologien und der Globalisierung werden im Kapitel über „Historie im Zeitalter der Neuen Medien“ (S. 769ff.) lediglich angedeutet. Die klare Linienführung, wie aus realen Veränderungen und daraus entstehenden Interessen – also dem, was Droysen unter „Geschäften“ fasst – leitende Hinsichten auf die Geschichte und entsprechende Forschungsrichtungen bzw. Erzählweisen entstehen, geht über der Vielzahl oft wie in einer Sammelrezension aneinandergereihter Richtungs- und Persönlichkeitsprofile leider verloren; auch in der eingegrenzten Problem-Trias Natur, Kultur und Leben wird der rote Faden nicht überall erkennbar. Statt des Strebens nach möglichst vollständiger Handbuchsynthese wäre hier sogar Mut zu größeren Lücken förderlich gewesen. Das könnte eine Anregung für die bildungstheoretischen Bände sein, die folgen sollen; denn hier stellt sich wiederum, wenn auch in einer bestimmten fachlichen Perspektive, das Problem der sich wandelnden soziokulturellen Kontexte.

Im Ganzen aber bleibt trotz dieser Kritik der Eindruck eines außergewöhnlichen, durch inter- und streckenweise auch transdisziplinäre Sicht anregenden Überblickswerkes, für das Erhard Wiersing Anerkennung verdient und das gerade Studenten zum Nachschlagen empfohlen werden kann.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension