Cover
Titel
Einführung in die Filmwissenschaft.


Autor(en)
Lange, Sigrid
Reihe
Einführungen Germanistik
Erschienen
Anzahl Seiten
158 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Burkhard Röwekamp, Philipps Universität Marburg, Institut für Medienwissenschaft

Deutschsprachige Einführungen in filmwissenschaftliches Denken und Arbeiten sind nicht eben rar. Mit Niels Borstnars (et al.) „Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft“ 1, Helmut Kortes „Einführung in die systematische Filmanalyse“ 2, Thomas Elsaessers und Malte Hageners „Filmtheorie zur Einführung“ 3, Reclams Filmklassikern 4 und Genrebänden sowie diversen Sachlexika 5 zum Thema Film liegen zahlreiche Einführungen und Nachschlagewerke vor. Und mit der von Geoffrey Nowell-Smith herausgegebenen „Geschichte des internationalen Films“6 gibt es ein mächtiges Kompendium zur Filmgeschichte, das jedem filmwissenschaftlich Interessierten nur empfohlen werden kann. Die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Lange unternimmt in ihrer „Einführung in die Filmwissenschaft“ jetzt den Versuch, die verschiedenen Arbeitsfelder der Filmwissenschaft unter systematischen und historischen Gesichtspunkten vorzustellen.

Im ersten Kapitel, das bezeichnenderweise mit dem Titel „Was ist Kino?“ des gleichnamigen Buchs des Filmtheoretikers André Bazin überschrieben ist, befasst sich Lange mit der Geschichte der bewegten Bilder und führt auf gut verständliche Weise an das Anliegen der Einführung heran. Von der Fotografie über die ersten Laufbilder bis zur Entwicklung der Aufführungspraxis und schließlich zur Problematik der gesellschaftlichen Anerkennung des Massenmediums Film zeichnet sie hier die Frühphase der Entwicklung des Films nach.

Wie aus dem Nachdenken über den künstlerischen, gesellschaftlichen und historischen Stellenwert des Films die Filmwissenschaft hervorgeht, ist Gegenstand des zweiten Kapitels über Filmtheorien. Von den Anfängen etwa der Rezeptionsästhetik Hugo Münsterbergs über Béla Balázs‘ Materialästhetik, Sergej M. Eisensteins Montagebegriff und Siegfried Kracauers Realismuskonzept bis zu Gilles Deleuzes Filmphilosophie, um nur wenige zu nennen, finden sich mit Zwischenstufen alle namhaften Vertreter filmtheoretischen Denkens wieder. Dabei werden wichtige Aspekte der Auseinandersetzung mit dem Medium nicht nur beschrieben, sondern auch ihre historischen Zusammenhänge und Probleme angesprochen. Lediglich die Mischung aus systematischem und personalisiertem Zugang erschwert die Verständlichkeit möglicherweise gerade für Einsteiger, an die sich eine Einführung ja vor allem wendet.

Ausgehend von semiotischen Beschreibungsmodellen, die die Zeichenförmigkeit und damit das bedeutungsproduzierende Moment des Filmischen in den Mittelpunkt stellen, erörtert Lange im dritten Kapitel verschiedene Analysekategorien des Films: zuerst die technisch-apparativen Gestaltungsmöglichkeiten der Kamera und des Lichts, danach Montageformen und Inszenierung sowie die daraus resultierende Debatte um die begriffliche Bestimmung des filmischen Realismus. Anschließend widmet sie sich den beiden vorherrschenden Analysemodellen des Narrativen im Film: Gegen das letztlich als zu abstrakt verworfene Modell von Christian Metz setzt Lange hier David Bordwells formalistisch-kognitivistisches Erzählmodell. In den folgenden Abschnitten über Sprache und Ton sowie zu Literaturverfilmungen wird schließlich Langes literaturwissenschaftliche Perspektivierung erkennbar: Sprache im Film scheint ihr ein zu unrecht vernachlässigtes Feld der Filmforschung zu sein. Darüber ließe sich sicherlich diskutieren, doch ihr Versuch, in den Untiefen der Literaturverfilmungs-Diskussion Haltepunkte zu finden, kann die Debatte kaum beleben. Die Platzierung im Abschnitt Filmanalyse scheint zumindest problematisch. Entsprechend groß ist der Sprung zum folgenden Abschnitt über das Filmprotokoll als Grundlage der Filmanalyse. In Langes Darstellung werden die Möglichkeiten und vor allem Grenzen der Filmprotokollierung deutlich sichtbar. Das Filmprotokoll ersetzt keineswegs die Analyse oder ist gar mit ihr gleichzusetzen, vielmehr orientiert es sich am Bedarf bzw. der Fragstellung. Insgesamt scheint Langes Direktive, wonach „Grundlage jeder Filminterpretation (...) die protokollierte Filmanalyse“ (S. 65) zu sein habe, zu apodiktisch. Wie gewinnbringend es dagegen sein kann, am konkreten Filmbild zu arbeiten, zeigt Lange in einem abschließenden Musterprotokoll.

Im anschließenden, mit „Filmgenres“ überschriebenen vierten Kapitel erläutert die Autorin zunächst Ursprünge und Verwendungsweisen von Genrebegrifflichkeiten. Für Lange bilden Genres „komplexe Strukturen ähnlicher Merkmale“ (S. 87), die im sich wechselseitig stabilisierenden Spiel aus Wiederholung und Differenzierung abhängig von kulturellen Zusammenhängen dekodierbar sind. Solch erwartungslenkenden Strukturen schreibt sie einen „zeitlose(n) Modellcharakter“ zu (ebenda). Entsprechend umfasst ihre Typologie der Filmgenres bekannte kanonisierte Formationen: Stummfilmkomödie, Musical, Melodram, Western, Abenteuerfilm, Historienfilm, Kriegsfilm, Horrorfilm, Science-Fiction-Film. Diese letztlich essentialistische Betrachtungsweise ist freilich nicht unproblematisch. Eine vorzügliche Dekonstruktion solcher Genremythologien hat beispielsweise Karin Esders am Beispiel des vermeintlich „ersten Western“ (Lange, S. 99) „The Great Train Robbery“ (1903) geliefert. 7

Das fünfte Kapitel „Stilbildende Epochen“ behandelt historische Zusammenhänge und Entwicklungen von Filmkunst und gesellschaftlich-kulturellem Kontext. Anhand der wissenschaftlichen Debatte um den Film der Weimarer Republik, die für Lange vor allem um das „Verhältnis von Geschichte und (Film-)Kunst“ (S. 120) kreist, erläutert sie Aspekte und Probleme der historischen und ästhetischen Betrachtung und Bewertung der einflussreichen Stilrichtungen des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit. Doch nicht nur der Film der Weimarer Republik, auch der zeitgleich entstehende Experimental- und Avantgardefilm (Filmischer Kubismus, Surrealismus, amerikanischer Experimentalfilm, DOGMA-95) reagiere auf die kulturellen Verwerfungen infolge des Ersten Weltkrieges. Der anschließende Abschnitt referiert Topoi der Diskussion um den so genannten Film noir. Die Zusammenstellung folgt indes nur der zwar lange gepflegten, letztlich aber fragwürdigen Bezeichnungspraxis einer Wunschvorstellung namens Film noir. Lange greift hier überwiegend auf Klischees der frühen Publizistik zum Thema zurück. Dabei wird die wissenschaftlich-kritische Auseinandersetzung bis in die Gegenwart mit dem ebenso populären wie falschen Bild des Film noir allerdings ausgeblendet. Der quellenunkritische Zugriff auf den Gegenstand ist gerade in einer Einführung durchaus problematisch.

Im Anschluss daran werden der italienische Neorealismus und die französische Nouvelle Vague aufgeschlüsselt. Während ersterer unter Realismusgesichtspunkten analysiert wird, betrachtet die Autorin letzteren im Zusammenhang des Schlagworts vom Autorenkino, dass als Gegenbewegung zur französischen Tradition filmischen Erzählens auf ein „Bekenntnis zur Individualität“ (S. 140) sowie (Selbst-)Reflexivität setzte und auch in die deutsche Filmproduktion seit den 1960er-Jahren ausstrahlte. Auch New Hollywood kommt nicht zu kurz: Lange sieht diese Phase nach der ökonomischen Krise des Studiosystems als Wegbereiter des postmodernen Kinos. Wie in den vorangehenden Kapiteln beschreibt Lange auch hier Positionen, nennt einflussreiche Filme und Personen und verschafft dem Leser ein erstes Bild, das bei oberflächlicher Betrachtung durchaus stimmig ist, bei genauerem Hinsehen aber Lücken aufweist (zum Beispiel fehlen stilbildende französische Regisseure wie Léos Carax, Jean-Jacques Beneix oder Luc Besson). Die abschließende Zeitdiagnose – „Film heute“ – fällt schließlich erwartbar aus: Digitale Technik, Computerspiele, Animationsfilme, Genremischungen, Videoclips, Fernsehen, DVD, Bollywood und nicht zuletzt: der Markt. Das alles ist stimmig und richtig, eine Systematik dafür fehlt aber.

Die für den Einsteiger ausreichende, dankenswerterweise (knapp) kommentierte Bibliografie am Ende sowie das löbliche Stichwortverzeichnis erleichtern die Orientierung und sind sehr nützlich, um rasch weiterführende Informationen zu erschließen. Auch die neben dem Fließtext auf dem Seitenrand platzierten Stichwörter helfen dabei vorzüglich. Die Sprache ist im Wesentlichen wohltuend verständlich und unprätentiös, auch wenn gelegentliche, nicht immer unproblematische Zuspitzungen irritieren, so zum Beispiel, wenn von „[den] – ewig unmündigen – Frauen" die Rede ist. Auch stören gelegentliche Banalitäten wie „[a]ffirmativ oder subversiv – es scheint, dass das Melodram stets beides sein kann“ (S. 95), apodiktische Wendungen wie etwa „Kino funktioniert als Genrekino“ (S. 7) sowie mitlaufende, nicht immer latent bleibende Wertungen im Vergleich mit Literatur und Theater.

Prinzipiell ist es kein Problem, dass Lange den literaturwissenschaftlichen Blick nicht immer verbergen kann: Ob es allerdings zutrifft, dass sich „Filmwissenschaft [...] als Ergänzung zu literaturwissenschaftlichen Studiengängen versteht“ (S. 7), darf getrost bezweifelt werden. Dagegen spricht der Grad der Institutionalisierung der Medienwissenschaft, unter deren Dach in der Regel Filmwissenschaft betrieben wird, wenn sie sich nicht sogar, wie etwa an der Universität Mainz, als eigenständiges Institut etabliert hat. Davon abgesehen, müssten dann auch Fächer wie Kunstgeschichte, Kommunikationswissenschaft, Philosophie, aber auch Geschichtswissenschaften, Soziologie oder Kulturwissenschaften als Referenzen der filmwissenschaftlichen Forschung genannt werden. Abgesehen von solchen perspektivischen (und akademischen) Verzerrungen kann Langes Einführung insgesamt durchaus empfohlen werden. Nur scheint es ratsam, sie sich zusammen mit anderen bewährten Einführungen ins Regal zu stellen.

Anmerkungen:
1 Borstnar, Niels; Pabst, Eckhard; Wulff, Hans Jürgen (Hrsg.), Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft, Konstanz 2002.
2 Korte, Helmut, Einführung in die systematische Filmanalyse, Berlin 1999.
3 Elsaesser, Thomas; Hagener, Malte, Filmtheorie zur Einführung, Hamburg 2007.
4 Koebner, Thomas (Hrsg.), Filmklassiker, Stuttgart 2006 (5. Aufl.).
5 Z.B. Reihe „Filmgenres“ (hrsg. v. Koebner, Thomas, Ditzingen 2003ff., 10 Bde.) Reclams Sachlexikon des Films (hrsg. von Koebner, Thomas, Stuttgart 2007, 2. Aufl.), Sachlexikon Film (hrsg. von Rother, Rainer, Reinbek bei Hamburg 1997), Lexikon der Filmbegriffe <http://bender-verlag.de/filmlexikon/index.php>.
6 Nowell-Smith, Geoffrey (Hrsg.), Geschichte des internationalen Films, Stuttgart/Weimar 1998.
7 Esders, Karin, Attraktion, Doku-Drama, Western-Romanze. Zur Entstehung eines amerikanischen Genres, in: Müller, Corinna; Segeberg, Harro (Hrsg.), Die Modellierung des Kinofilms: zur Geschichte des Kinoprogramms zwischen Kurzfilm und Langfilm 1905/06–1918, Reihe Mediengeschichte des Films, Bd. 2, Segeberg, Harro (Hrsg.), München 1998, S. 97–124.

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