H. Scholten (Hrsg.): Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen

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Titel
Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen. Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit


Herausgeber
Scholten, Helga
Erschienen
Köln 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
369 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Loretana de Libero, Universität Potsdam

In der ihm eigenen prägnanten Art hat es Kurt Tucholsky einmal auf den Punkt gebracht: „Krise ist jener ungewisse Zustand, in dem sich etwas entscheiden soll: Tod oder Leben – Ja oder Nein.“1 Um diesen „ungewissen Zustand“ ging es im Juli 2005 in einem von der Althistorikerin Helga Scholten ausgerichteten Symposium an der Universität Siegen, dessen Beiträge nun in Buchform der Fachwelt vorliegen. Im Mittelpunkt des Sammelbandes steht die Frage nach möglichen Gemeinsamkeiten in der individuellen Wahrnehmung und Deutung von Krisenphänomenen in unterschiedlichen Zeiten und Räumen. Es wurde der epochenübergreifende Ansatz mit einer eurozentrischen Perspektive gewählt. Die Zeitspanne reicht von der Antike bis in die neueste Geschichte, das heißt konkret vom 4. Jahrhundert v.Chr. bis in die 1960er-Jahre. Hervorzuheben ist, dass der Schwerpunkt auf der Alten Geschichte liegt, eine Gewichtung, die in der derzeitigen Forschungslandschaft nicht oft anzutreffen, daher um so mehr zu begrüßen ist. Viele aktuelle Sammelbände beschränken sich nämlich auf einen kurzen Artikel für die zwei Jahrtausende umfassende Antike oder verzichten gänzlich auf diese wichtige Epoche.2 Scholtens Sammelband traut sich dafür jedoch nicht in die unmittelbare Zeitgeschichte, die gegenwärtige Umbruchphase nach dem Ende der bipolaren Weltordnung hat im interdisziplinären Krisendiskurs keine Berücksichtigung gefunden. Vertreten sind im Band natürlich Historiker, aber auch Soziologen, Politologen und Philologen. Anhand ausgewählter Beispiele suchen die Autoren vor dem Hintergrund eines vorgegebenen soziologischen Modells schriftlich fixiertem Krisenempfinden auf die Spur zu kommen und zu analysieren, wie „kritische“ Situationen oder krisenhafte Phänomene in verschiedensten Quellengattungen beobachtet und beschrieben werden. Es scheint, als seien von der Herausgeberin Transformationen während oder unmittelbar nach einem bewaffneten Konflikt als gemeinsamer zeitlicher Ausgangspunkt vorgeschlagen worden (S. 8, S. 56), welcher aber nicht in allen Beiträgen seinen Niederschlag gefunden hat.

In ihrer gelungenen Einführung weist Helga Scholten zu recht auf die Vielfalt und auch Vielschichtigkeit des Themas hin, weshalb sich die Beiträger dem Problem über Fallbeispiele, etwa der Krisenwahrnehmung intellektueller Zeitgenossen, annähern. Allerdings besteht bei einem solchen exemplarischen Zugang generell die Gefahr, dass spezifische, kleinteilige Untersuchungen unverbindlich nebeneinander stehen, ja beliebig scheinen und/oder vom Leser bedeutsame Krisensituationen – wie etwa die Krisen im archaischen Griechenland oder die Krise des preußischen Staates nach 1806 – vermisst werden. Da auf einen ganzheitlichen Ansatz und einer Reflexion des Forschungstands verzichtet wird, bleibt weitgehend unklar, wie sich der Sammelband in der gegenwärtigen Forschungssituation positioniert, welche Thesen aufgegriffen und weitergeführt oder welcher Erkenntnisgewinn zu erwarten steht. Der Althistoriker etwa mag sich fragen, wie sich diese Aufsatzsammlung gegenüber ihrem frühen Vorgänger3 aus den 1970er-Jahren verhält oder inwieweit aktuelle Tendenzen, insbesondere zur „Krise des 3. Jahrhunderts n.Chr.“ berücksichtigt werden.4 Diese Überlegungen betreffen jedoch allgemein die Problematik einer epochenübergreifenden Herangehensweise und sollen die inhaltlichen Ergebnisse der fast durchweg überzeugenden Beiträge nicht schmälern. Da es zu weit führen würde, auf die einzelnen Beiträge in extenso einzugehen, seien im folgenden Überblick nur einige interessante Aspekte hervorgehoben.

Eingangs wird der Leser über ein soziologisches Modell an das Thema herangeführt. In seinen anregenden Ausführungen definiert Jürgen Friedrichs „Krise“ als „wahrgenommene Gefährdung eines institutionalisierten Handlungsmusters“ (S. 25), die immer auch eine Legitimationskrise voraussetzt, zum Beispiel einen Wertewandel bzw. negativ ausgedrückt: einen Werteverfall, der etwa zu Umweltkrisen oder – wie jüngst an der Liechtenstein-Affäre offenkundig wurde – zur Desintegration von Teilen der ökonomischen Führungsschicht eines Landes führen kann. Mit Friedrichs Thesen hat sich die Mehrheit der Autoren gewinnbringend auseinandergesetzt und sie überwiegend für gültig befunden.

Von den 15 Beiträgen sind sechs der Krisenwahrnehmung in der Antike gewidmet: Helga Scholten untersucht am Beispiel zweier athenischer Autoren, Aristophanes und Platon, die Deutung der Nachkriegsentwicklung nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges 404/403 v.Chr. („Aristophanes’ Ekklesiazusen und Platons Politeia. Die Wahrnehmung der Nachkriegszeit in Athen“). Als bemerkenswert ist gleich bei diesem ersten Fallbeispiel festzuhalten, dass der Dramendichter gar keine „Krise“ mehr zu erkennen vermag, sondern bereits resigniert den endgültigen Niedergang der Humangesellschaft konstatiert. Platon hingegen geht davon aus, dass sich die krisenhafte Entwicklung durchaus noch zum Guten wenden möchte, und bietet gegen die wahrgenommenen Störungen, das heißt ethisch-moralische Defizite des Einzelnen, eine philosophische Lösung an: Das Individuum habe sich – jenseits jeglicher Maßlosigkeit (Pleonexia) – auf ein vorbildliches Wertesystem auszurichten, das jedem entsprechend seiner Fähigkeiten Orientierung bieten könne. Die hellenistische Epoche wird kurz beleuchtet von Wolfgang Orth, der die Verhältnisse in Herakleia am Pontos um 300 v.Chr. behandelt („Frühhellenistische Zeit als Krisenepoche? Die Geschichte von Herakleia am Pontos als Beispiel“). Orth kommt zu dem bemerkenswerten Schluss, dass – soweit die Fragmente überhaupt eine verbindliche Aussage erlauben – die städtische Entwicklung in der Nachkriegsphase trotz außenpolitischer Konflikte, innerer Spannungen und wirtschaftlicher Belastungen von ihrem politisch aktiven Chronisten Nymphis (der über Memnon bei Photios zu greifen ist) nicht als Krise wahrgenommen oder im Nachhinein als Krise gedeutet wird.

Drei prominenten Autoren, Sallust, Livius und Tacitus, widmet sich Raban von Haehling in seinem Beitrag zur Krisenwahrnehmung in der späten Republik und frühen Kaiserzeit („Krisenwahrnehmung in den Prooemien spätrepublikanischer und kaiserzeitlicher Geschichtsschreiber“). Gleich Aristophanes resigniert Sallust ob der unveränderlichen Natur des Menschen, während Tacitus die Willkür eines Domitian als (endliche) Bedrohung empfindet. Livius hingegen charakterisiert den Zustand der römischen Gesellschaft deutlich als krank- bzw. krisenhaft, da „wir weder unsere Fehler noch Heilmittel ertragen können“ (nec vitia nostra nec remedia pati possumus; praef. 9). Ein Heilmittel sieht Livius in der Hinwendung zu den moralisch-ethischen Denk- und Handlungsweisen alter Zeit, den mores maiorum. Vorsichtig formuliert von Haehling sein Resümée: „Bei Sallust und Tacitus kann nur bedingt von einer Krise gesprochen werden, während sie bei Livius deutlich fassbar ist.“ (S. 326) Im Weiteren untersucht Ruprecht Ziegler zeitkritische Reflexionen und Reformvorschläge in der fiktiven Maecenas-Rede im 52. Buch der ‚Römischen Geschichte’ des Cassius Dio („Zeitkritik und Krisenempfinden bei Cassius Dio“), Bruno Bleckmann widmet sich „der Eroberung Roms durch Alarich in der Darstellung Philostorgs“, während Mischa Meier weitestgehend auf eigene Vorarbeiten gründend nachzuweisen versucht, dass Kriege und Naturkatastrophen um die 520er-Jahre in der Endzeit gestimmten christlichen Bevölkerung nicht zu einer Negativdeutung geführt haben, während 20 Jahre später als Folge einer geänderten Erwartungshaltung Katastrophen durchaus als Krisen wahrgenommen worden seien.

Vier Beiträge sind Ereignissen in der Zeit des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gewidmet: Rudolf Hiestand untersucht schichtenspezifisches Krisenbewusstsein nach der Schlacht von Poitiers 1356. Die Gefangennahme des französischen Königs stürzten Staat und Gesellschaft in eine ernste Krise, die mit dem zeitgenössischen Begriff der tribulatio, der Erschütterung bzw. Heimsuchung, in den Zeitdokumenten umschrieben wurde. Als Indikatoren einer ernsten Krise werden von Hiestand ansprechend das Murren des Volkes (murmurare), gewissermaßen ein sprachlicher Ausdruck von Krisenempfinden, aus den Zeugnissen herausgearbeitet. Der ‚kopflose Staat’ benötigte als remedium die Rückkehr des Königs, um die gestörte gottgegebene Ordnung wiederherzustellen („’Weh dem Reich des Königs ein Gefangener’. Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen in Frankreich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts“). Peter Hibst untersucht Krisenwahrnehmung und Krisenverarbeitung am Beispiel der sozialkritischen Studie „Narrenschiff“ von Sebastian Brant aus dem Jahre 1494. Brant, „ein Krisenseismograph an der Schwelle zur Neuzeit“ (S. 167), setzte der als total empfundenen Krise, nach Hibst: der Disfunktionalität der sozio-politischen Ordnung, die Rückbesinnung auf das gute Alte entgegen. Leider bleibt in Hibsts Ausführungen offen, wie sich zu Brants Krisenwahrnehmung seine resignativen Zeilen an Konrad Peutinger, welche ja auch den Beitragstitel zieren, verhalten: „Neigt alles sich doch zu Verderb und Untergang“ („’Siquidem in vitium et ruinam prona sunt omnia’. Überlegungen zum spätmittelalterlichen Krisenverständnis an der Schwelle zur Neuzeit: Sebastian Brants Narrenschiff“). Esther-Beate Körner untersucht in beeindruckender Weise am Beispiel literarischer Quellengattungen (Flugblätter, Gedicht, Lied, Roman) unterschiedliche Phasen von „Krisenbewusstsein und Krisenbewältigung in der Literatur nach 1648“. Herbert Kaiser betrachtet das deutsche Drama von Schiller über Grillparzer bis zu Hebbel („Bedingungen der Freiheit – Freiheit der Bedingungen. Zur Problematik des Handelns im Zeitalter des Subjekts“) und resümiert, dass „Freiheit im Handeln immer nur die Freiheit unter der Maßgabe der konkreten Bedingungen des Handels“ sei (S. 195).

Fünf Beiträge finden sich abschließend zu politischen Entwicklungen, technischen Neuerungen und kulturphilosophischen Deutungen im 19. und 20. Jahrhundert: Angela Schwarz widmet sich den aus den Erfahrungen des Krieges von 1870/71 gewonnenen Ansichten über die Technisierung von Kriegsmitteln und dem damit verknüpften Bild Deutschlands in Frankreich und Großbritannien („Allmacht oder Ohnmacht. Technikvorstellungen und Krisenwahrnehmung im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert“). David Engels referiert über ein mögliches Krisenempfinden in den Schriften Oswald Spenglers, wobei aber einzuwenden ist, dass der pessimistische Geschichtsdeterminismus Spenglers streng genommen keine „Wendepunkte“, sondern letztlich nur Anzeichen eines unweigerlichen kulturellen Niedergangs kennt („’Wir leben heute zwischen den Zeiten’. Die ‚Jahre der Entscheidung’ und die Krise des 20. Jahrhunderts im Geschichtsbild Oswald Spenglers“). In einem wirtschaftshistorischen Essay zeigt Gerold Ambrosius auf, wie die Neoliberalen Veränderungen auf politisch-institutioneller, sozialer und wirtschaftlicher Ebene wahrnahmen und welche restaurativen Konzepte sie vor allem für das Handeln des Einzelnen formulierten („Der Neoliberalismus und die europäische Fundamentalkrise zwischen 1914 und 1945“). Die europäische Einigungsbewegung seit 1938 hat Wilfried Loth im Blick („Die Krise der Nationalstaaten und die Anfänge der europäischen Einigung“), während Klaus Schwabe mit seinem Beitrag über die „Kuba-Krise“ den Kontinent verlässt und das politisch-psychologische Krisenmanagement auf Seiten der Hauptbeteiligten eindrucksvoll herausarbeitet. Der Band schließt mit einer sinnvollen und aufschlussreichen Zusammenfassung durch die Herausgeberin („Gemeinsame Tendenzen in der Wahrnehmung von Krisenphänomenen?“), in der die übergeordnete Fragestellung anhand der Einzelergebnisse geprüft und als Ergebnis festgehalten wird, dass in den jeweiligen Zeitdokumenten weniger objektive Störfaktoren eine Rolle spielen, als der hinter einer tatsächlichen oder vermeintlichen Krise wahrgenommene Wertewandel. Als Handlungsoption steht daher häufig die Forderung nach Rückkehr zur guten, alten Ordnung, nach Neubesinnung auf die Werte und Tugenden der Vorfahren. Helga Scholten ist mit diesem Buch, in dem alles um Krisen kreist, seien sie real oder gefühlt, wahrgenommen oder behauptet, ein wichtiger Beitrag zum Krisendiskurs gelungen, es steht zu hoffen, dass ihm weitere folgen mögen.

Anmerkungen:
1 Tucholsky, Kurt, Gesammelte Werke, Band 5, Hamburg 1986, S. 201.
2 Vgl. etwa für den Bereich der Konfliktforschung die aktuellen Werke von: Beyrau, Dietrich; Hochgeschwender, Michael; Langewiesche, Dieter (Hrsg.), Formen des Krieges, von der Antike bis zur Gegenwart. Paderborn 2007. Kronenbitter, Günther; Pöhlmann, Markus; Walter, Dierck (Hrsg), Besatzung. Funktion und Gestalt militärischer Fremdherrschaft von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn 2006. Kortüm, Hans-Henning (Hrsg.), Transcultural Wars from the Middle Ages to the 21st Century, Berlin 2006. Neitzel, Sönke, (Hrsg.), Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert. Paderborn 2007.
3 Alföldy, Geza, Krisen in der Antike, Bewusstsein und Bewältigung, Düsseldorf 1975.
4 Vgl. zuletzt Johne, Klaus-Peter u.a. (Hrsg.), Deleto paene imperio Romano: Transformationsprozesse des Römischen Reiches im 3. Jahrhundert und ihre Rezeption in der Neuzeit [Tagung "Transformationsprozesse des Römischen Reiches im 3. Jahrhundert und ihre Rezeption in der Neuzeit": 8. bis 10. Juli 2005 am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin], Stuttgart 2006; oder Haas, Jochen, Die Umweltkrise des 3. Jahrhunderts n. Chr. im Nordwesten des Imperium Romanum. Interdisziplinäre Studien zu einem Aspekt der allgemeinen Reichskrise im Bereich der beiden Germaniae sowie der Belgica und der Raetia, Stuttgart 2006.

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