S. Prokop (Hrsg.): Zwischen Aufbruch und Abbruch

Cover
Titel
Zwischen Aufbruch und Abbruch. Die DDR im Jahre 1956


Herausgeber
Prokop, Siegfried
Erschienen
Anzahl Seiten
385 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

In der im Folgenden thematisierten Podiumsdiskussion zitierte einer der großen alten Männer der innerparteilichen Opposition von 1956, Gustav Just, jenes Lied von Florian Geyers Schwarzem Haufen "Geschlagen ziehen wir nach Haus, die Enkel fechtens besser aus". Auch nach zwei Jahren Bautzen und nach dem Ende der DDR wollte er seinen, zugegeben verhaltenen Optimismus nicht aufgeben. Die Podiumsdiskussion fand zum Abschluss eines Kolloquiums statt, zu dem die Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg und der Berliner Verein "Helle Panke" am 11. Mai 2006 nach Potsdam eingeladen hatten und dessen Ergebnisse in diesem Band dokumentiert sind. Fünfzig Jahre später versuchten Autoren unterschiedlicher Profession dem besonderen Jahr 1956, der Krisensituation in der DDR und um die DDR auf den Grund zu gehen. Um im Bilde zu bleiben: Es waren die Schwestern und Brüder bzw. die Töchter und Söhne, die hier vortrugen, von den Enkeln war noch keine Spur.

Das Kolloquium verfolgte einen breiten Ansatz; internationale wie nationale, politische, rechtliche, ökonomische und geistesgeschichtliche Themen kamen ebenso zur Sprache wie Fragen reformerischen Denken und widerständigen Verhaltens. Hinsichtlich der internationalen Aspekte des Jahres sprach Horst Schützler über Inhalt und Folgen es XX. Parteitages der KPdSU im Februar 1956, über die Enthüllung Stalinscher Verbrechen, das Tauwetter und die Rehabilitierung Verfolgter wie über dessen außenpolitische Wirkungen. Eckart Mehls charakterisierte die Chancen des polnischen Oktober 1956, in dem "Dämme brachen und einer Flut Raum gaben, die danach nie mehr voll eingedämmt werden konnte" (S. 96). Ein Beitrag über den Aufstand in Ungarn fehlt leider.

Im Mittelpunkt der Tagung standen Aspekte der inneren Reformdebatte in der DDR. Siegfried Prokop kennzeichnete zwei Oppositionsströmungen: eine konservativ-stalinistische und eine mehrgliedrige antistalinistische Opposition in der SED. Wilfriede Otto widmete sich Ansätzen kritischer Geschichtsreflexionen bei DDR-Historikern im Jahr 1956. Hans-Christoph Rauh beschrieb den Aufbruch und den Abbruch in den Debatten der Philosophen um Ernst Bloch, Wolfgang Harich und Georg Lukàcs. Jürgen Jahn lieferte eine detaillierte Analyse über Ernst Bloch im Visier der Staatssicherheit und Dieter Schiller berichtete über den Berliner Donnerstagskreis in den Akten des MfS. Damit im Zusammenhang standen der Materialbericht Hanna Behrends aus der literarischen Hinterlassenschaft von Manfred Behrend über die Situation kritischer Studenten in Ostberlin, gewissermaßen die Sicht "von unten", während Heinz Engelstädter aus der Sicht "von oben" Probleme der Studien- und Hochschulreform 1956 artikulierte.

Mit den wirtschaftlichen Problemen der DDR beschäftigten sich Jörg Roesler, der Fragen der Planungsreform betrachtete, Günter Krause, der das Jahr 1956 als eine erste Zäsur reformökomischen Denken in der DDR verstand, und Christel Nehrig, die angedachte Lösungswege für die Probleme in der Landwirtschaft aufzeigte. Darüber hinaus stellte Jens-Uwe Heuer die Debatten um Theorie und Praxis der sozialistischen Rechtsordnung zwischen 1956 und 1958 vor und Günter Wirth versuchte in einem umfangreichen Beitrag zur Kirchen-, Kultur- und Mittelstandspolitik der CDU deren "Eigenständigkeit in Klammern" zu beweisen. Ein Vortrag widmete sich den Reaktionen in der Bundesrepublik. Ludwig Elm sprach über Adenauer, den XX. Parteitag und das KPD-Verbot.

Natürlich wäre es müßig, nun all jene gesellschaftlichen Bereiche aufzuzählen, die unbeachtet blieben. Viele der Beiträger gaben zudem ihre bekannten inhaltlichen Positionen wieder. Manche holten auch zu weitschweifenden, historisch übergreifenden Reflexionen aus. Andere, besonders die konkreten und quellengesättigten Darlegungen, vertiefen in der Tat unsere Kenntnisse über die Debatten um politische und ökonomische Reformen in der DDR. Letztendlich ging es allen Teilnehmern darum, die vertanen Chancen, oder wie Prokop formulierte, "die emanzipatorischen Aspekte der DDR-Geschichte" (S. 374) herauszustellen. Nicht nur um die Geschichte der DDR in der Geschichte Deutschlands zu platzieren, sondern auch, um "eine theoretische Debatte über Zukunftsmodelle", so Peter Feists Forderung, zu initiieren.

In der abschließenden Podiumsdiskussion wollte allerdings ein anderer der großen alten Männer, Gerhard Zwerenz, der der Verhaftung 1956 nur durch Flucht in den Westen entging, den zuvor artikulierten historischen Optimismus Justscher Prägung nicht so recht teilen. Denn die Sozialdemokratie komme aus dem Tief von 1914/1918 und die Kommunistische Partei aus dem Tief Stalin nie wieder heraus, konstatierte er. Insofern müsse man erst einmal objektiv mit Marx sagen: "An allem ist zu zweifeln." Darum sei dem Leser des Bandes die spannende Diskussion am Schluss, in der auch die Zeitzeugen ausführlich zu Wort kommen, als erste Lektüre empfohlen. Von den Enkeln, wie gesagt, ist noch keine Spur.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension