J. N. Retallack: The German Right 1860-1920

Cover
Titel
The German Right 1860-1920. Political Limits of the Authoritarian Imagination


Autor(en)
Retallack, James N.
Erschienen
Anzahl Seiten
429 S.
Preis
$ 35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhold Weber, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg

Das Stiefkind der Parteienforschung ist der deutsche Konservatismus schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Bereits seit den 1960er-Jahren haben Schüler von Fritz Fischer (unter anderen Dirk Stegmann, Bernd-Jürgen Wendt, Peter Christian Witt, Hans-Jürgen Puhle) 1 und Historiker aus dem englischsprachigen Raum (Larry Eugene Jones, Geoff Eley, Peter Fritzsche, James Retallack und andere) 2 Grundlegendes zur Konservatismusforschung beigetragen. In jüngster Zeit kamen einige weitere Parteien- und Wahlstudien – auch regionalen Zuschnitts 3 – sowie neue Arbeiten zum konservativen Milieu hinzu.4 Dennoch ist die Forschungslage von starken zeitlichen und regionalen Ungleichgewichten gekennzeichnet. Die weitgehend unerforschte landespolitische Dimension der konservativen Parteien ist dabei erstaunlich, weil ja gerade den konservativen Kräften ein stark regionalspezifischer Charakter sowie eine polyzentrische, dezentrale Organisationsstruktur zu bescheinigen ist. Eine der Grundforderungen an die deutsche Geschichtsschreibung, Politik auch im nationalen Rahmen gerade von der regionalen Perspektive aus zu erklären, wurde bei den konservativen Parteien bislang kaum umgesetzt. Insgesamt gesehen dominiert hier weiterhin ein „Preußen-Bias“, also die Gleichsetzung des deutschen Konservatismus mit seiner preußisch-junkerlichen Variante, in deren Folge der Konservatismus anhand dessen definiert wird, was er dort an „Modernisierung“ verhindert hat.

Verändert haben sich in den letzten gut zehn Jahren vor allem die Fragen, die an Parteien gestellt werden. Weit weniger als noch in den 1970er- oder 80er-Jahren interessieren sich Historiker für die geheime „Hinterzimmerdiplomatie“ der Parteien oder für in Satzungen und Programme gegossene ideengeschichtliche und verfassungspolitische Positionen, wenngleich diese als Faktoren der innerparteilichen Konsensbildung nicht generell zu vernachlässigen sind. Im Mittelpunkt stehen aber heute vielmehr Fragen nach der sozialen Verankerung, nach den gesellschaftlichen Bedingungen des Handelns von Parteien, nach der Vielfalt konservativer Konzepte und Trägergruppen sowie nicht zuletzt nach der subjektiven Wertung und der kulturellen Überformung von Parteiorganisationen, die langfristige Bindung und damit Bestand garantierten. Hinzu treten Fragen nach den kommunikativen Strategien der Parteien und nach dem komplexen Gemisch von Führungspersonal, Programm, Wahlwerbung und inhaltlicher Politik in ihren kulturellen Sinnbezügen als all das, was zusammengenommen ausmacht, wofür eine Partei in der Wahrnehmung ihrer Mitglieder und Wähler steht.

James N. Retallack (University of Toronto) hat nun ein Buch vorgelegt, das in gewisser Weise die Frucht seiner eigenen jahrelangen Forschungen zum deutschen Konservatismus darstellt. Es ist eine Sammlung von zehn älteren, aber meist aktualisierten Aufsätzen, deren Titel „The German Right 1860–1920. Political Limits of the Authoritarian Imagination“ viel verspricht und einiges davon auch einhält. In erster Linie geht es um die Frage, welche Konzepte und Strategien der deutsche Konservatismus – wobei offen bleibt, welche Bandbreite der Konservatismus im Parteienspektrum abdeckte – benutzte, um seine autoritären Staats- und Gesellschaftsbilder umzusetzen beziehungsweise eine durchgreifende Modernisierung und Demokratisierung zu verhindern. Immer wieder rekurriert James N. Retallack dabei auf zwei konservative Dilemmata: Auf den unauflösbaren Widerspruch der Konservativen, immer wieder für die Bewahrung dessen eintreten zu müssen, was sie zuvor noch massiv bekämpft hatten, sowie auf das Problem, trotz ihrer autoritären und antidemokratischen Vorstellungen eine Massenbasis gewinnen zu müssen. Dass sich dabei der Antisemitismus als integraler Bestandteil der konservativen Programmatik und Mentalität festsetzte, steht im Zentrum der Argumentation des Autors. Aggressiver Nationalismus und Antisemitismus standen für einen tiefgreifenden Wandel des ehemals antinationalen Konservatismus. Von beiden Integrationsideologien ging enorme Anziehungskraft aus, weil man sich auf konservativer Seite viel davon versprach, diejenigen Bevölkerungsgruppen ansprechen zu können, die sich den Konservativen bislang verschlossen hatten – Angestellte und Arbeiter. Letztlich scheiterten die Konservativen damit und erlagen den Verlockerungen der NSDAP als totalitärer Massenpartei.

Über weite Strecken hinweg ist das Buch von James N. Retallack – anders als der Titel es suggeriert – keine Geschichte des deutschen Konservatismus, sondern eine überaus kompetent verfasste und flüssig zu lesende Geschichte der Historiographie des Konservatismus. Das ist alles andere als ein Nachteil, weil Retallack ein äußerst komplexes Forschungsdesign für zukünftige Studien entwirft und genau dort einhakt, wo die Forschungsdefizite zum Thema bestehen: Bei der Frage nach dem Zusammenhang von „Staatsverständnis“ und „Massenmobilisierung“, von konservativem „Gouvernementalismus“ und „Grundsatzopposition“, und dort wo es gilt, die regionale und „ideologische“ Vielfalt des Konservatismus zu erforschen; bei der Aufhebung der preußenzentrierten Perspektive; bei der Frage, mit welchen Strategien die Konservativen den Aufbruch in den „politischen Massenmarkt“ (Hans Rosenberg) und die „Fundamentalpolitisierung“ (Karl Mannheim) angingen; bei der Einbeziehung der Gender-Perspektive, wo die Forschung trotz vielversprechender Ansätze noch weitgehend in den Anfängen steckt; bei den offenen Fragen nach der Umsetzung des „lingustic“, „cultural“ und „spatial turns“ in der Geschichtswissenschaft und nicht zuletzt bei der Frage nach Genese, Funktionsweise und Erosion eines regional differenzierten konservativen Milieus.

James N. Retallack greift diese überaus spannenden Punkte im Verlauf seines Buches immer wieder auf. Einige der selbst gestellten Fragen und postulierten Arbeitsziele bleiben aber offen. Die Frage nach der „inneren Logik“ der autoritären Wertvorstellungen der Konservativen und nach deren Beitrag zum Aufstieg des Nationalsozialismus wird immer wieder bemüht, und dennoch erscheinen die bisweilen gezogenen Kontinuitätslinien von den frühen antisemitischen Verlautbarungen der Konservativen hin zu „1933“ als überspannt. Erstaunlich ist die Kontinuitätsbetonung auch, weil der Untersuchungszeitraum des Buches (1860–1920, wobei diese zeitliche Eingrenzung nirgends begründet wird) die gesamten 1920er Jahre ausnimmt, die zweifellos eine Phase tiefgreifender Umwälzung und Radikalisierung des Konservatismus darstellen.

Diskussionswürdig bleibt auch die Frage, zu welchem Zeitpunkt der „moment of fission“ eintrat, der mit der Fundamentalpolitisierung die deutsche Politik und Gesellschaft nachhaltig veränderte. Anders als zahlreiche seiner Kollegen, die die 1890er als „turning point“ sehen, will Retallack diesen fundamentalen Wandel schon in den 1860er und 1870er Jahren verorten. Darüber lässt sich sicherlich diskutieren, aber ein einzelnes Zitat von Gustav Freytag aus dem Jahr 1867 dürfte zur Untermauerung dieser These dann doch etwas dürftig sein (S. 99ff.), zumal Retallack selbst gut 120 Seiten weiter hinten in seinem Buch den grundstürzenden Wandel des deutschen Medienmarktes und die geradezu explosionsartige Ausweitung der Massenmedien (vor allem der Tageszeitungen) um 1890 herausarbeitet – mithin ein geradezu konstitutives Merkmal des „politischen Massenmarktes“ und der veränderten Artikulation von Politik und Gesellschaft.

Auch was die regionale Vielfalt des Konservatismus anbetrifft, lässt Retallack den Leser bisweilen fragend zurück. Zwar unternimmt er immer wieder Versuche, die regionalen Ausprägungen der (deutsch-)konservativen Parteien darzustellen, die Stadt-Land-Unterschiede und die regionalen Ausformungen des Bundes der Landwirte bleiben dabei aber unberücksichtigt. Letztlich steht statt des „Preußen-Bias“ ein „Sachsen-Bias“ im Raum, der sich aus dem eigenen Forschungsschwerpunkt des Autors zu Sachsen begründet. Dort, wo er andere Bundesstaaten einbezieht, fehlt die Auswertung neuester Forschungsliteratur (vgl. Anm. 3).

Insgesamt gesehen ist dies ein Buch, das ein lachendes und ein weinendes Auge zurücklässt. Lachend, weil es kompetent und stringent die Forschungslage darstellt und diskutiert, offensiv die Forschungsdesiderate freilegt und überaus anregende Fragen stellt. Weinend, weil es bisweilen mehr verspricht als letztlich halten kann.

1 Vgl. etwa Stegmann, Dirk; Wendt, Bernd-Jürgen; Witt, Peter-Christian (Hrsg.), Deutscher Konservatismus im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Fritz Fischer, Bonn 1983; Puhle, Hans-Jürgen, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich (1893–1914), Hannover 1966.
2 Z. B. Jones, Larry Eugene; Retallack, James N. (Hrsg.), Between Reform, Reaction, and Resistance. Studies in the History of German Conservatism from 1789 to 1945, Providence 1992.
3 Vgl. Alexander, Matthias, Die Freikonservative Partei 1890–1918. Gemäßigter Konservatismus in der konstitutionellen Monarchie, Düsseldorf 2000; Gawatz, Andreas, Wahlkämpfe in Württemberg. Landtags- und Reichstagswahlen beim Übergang zum politischen Massenmarkt (1889–1912), Düsseldorf 2001; Weber, Reinhold, Bürgerpartei und Bauernbund in Württemberg. Konservative Parteien im Kaiserreich und in Weimar (1895–1933), Düsseldorf 2004; Hildebrand, Daniel, Landbevölkerung und Wahlverhalten. Die DNVP im ländlichen Raum Pommerns und Ostpreußens 1918–1924, Hamburg 2004.
4 Bösch, Frank: Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost- und westdeutschen Regionen (1900–1960), Göttingen 2002.

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