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Titel
Turizm. The Russian and East European Tourist under Capitalism and Socialism


Herausgeber
Gorsuch, Anne E.; Koenker, Diane P.
Erschienen
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 19,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Kucher, Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübingen

Die Geschichte des Tourismus ist facettenreich und unterscheidet sich je nach Land und ideologischem Kontext. Sie kann zeigen, inwiefern „Tourismus und Urlaube konstituierend für Klasse, sozialen Status und kollektive Identitäten“ waren (S. 2). Während das Reisen in der westlichen Welt längst ein Thema der historischen Forschung darstellt, richtet sich der analytische Blick erst seit 1989 in Richtung Osteuropa und auch Russland bzw. der Sowjetunion.1 Der von Anne Gorsuch und Diane Koenker herausgegebene Sammelband kann somit zu den Pionierarbeiten gezählt werden. Die Einleitung bietet neben der Einbettung des Themas in den internationalen Forschungskontext eine thematische Verortung der verschiedenen Aspekte des Tourismus in Osteuropa. Die Formulierung der übergeordneten Fragen und die Zuordnung der einzelnen Themen erweist sich allerdings als dem Sammelband nur bedingt angemessen. Als einziges Ordnungskriterium im Inhaltsverzeichnis verbleiben letztlich die Kategorien „Reisen im kapitalistischen Russland und Osteuropa“ (fünf Texte) und „Sozialistischer Tourismus“ (neun Texte).

Die einzelnen Artikel kreisen im Wesentlichen um folgende Themen: Als erstes ist der Anteil des Tourismus an der „Konstruktion von Staaten und Nationen“, dem „nation building“ zu nennen (S. 8). Viele der Beiträge verweisen auf die Rolle „des Reisens bei der Formierung der Beziehungen von Macht und Privilegien zwischen den Völkern des imperialen Russland, des östlichen Europa und der Sowjetunion“ (ebd.). Der Tourismus fungierte als „inoffizieller Imperialismus“ und konnte – wie insbesondere das russische/sowjetische Beispiel zeigt – die Vereinnahmung der Peripherie, ihre imperiale Integration sowie ihre Modernisierung vorantreiben (ebd.). Weitergehend führte das Reisen aber nicht zwangsläufig – wie von offizieller Seite beabsichtigt – zu einer stärkeren Identifikation mit der eigenen Heimat, sondern konnte durchaus auch eine Entfremdung zur Folge haben.

Die Formierung und Charakteristika des sozialistischen Tourismus von seinen Anfängen bis in die 1970er-Jahre in der Sowjetunion und einzelnen Ländern Osteuropas bilden den zweiten Schwerpunkt des Bandes. Der im Wesentlichen zentral gesteuerte sozialistische Tourismus sollte zunächst einem großen Bevölkerungsanteil das Reisen überhaupt ermöglichen. Des Weiteren wurde der Tourismus als Möglichkeit gesehen, einen in mentaler und physischer Hinsicht starken sozialistischen Menschen zu schaffen. In dieser Hinsicht wurde das sozialistische Reisen Bestandteil des konsumorientierten sowjetischen „kulturnost“-Konzeptes.2

Ein dritter Gesichtspunkt betrifft die auch unter autoritären Regimen vorhandenen Freiräume. Selbst in Zeiten des Tourismus als sozialistischer Massenveranstaltung war es den Menschen möglich, sowohl individuell zu reisen als auch jenseits aller staatlichen Distributionssysteme Urlaub zu machen.

Louise McReynolds beschreibt in ihrem ausführlichen Beitrag, der auf einem Kapitel ihres 2003 erschienen Buches „Russia at Play“ basiert, die Entwicklung des Tourismus im zarischen Russland. Sie hebt das erwähnte imperialistische Moment hervor und stellt fest, dass am Ende der Zarenzeit in Russland Touristen für Fortschritt, Modernität und einen „multikulturellen Nationalismus“ (S. 42) standen und zu einem neuen nationalen Selbstverständnis beitrugen. Susan Layton untersucht anschaulich die Entstehung eines Militärtourismus im Zusammenhang mit dem Krimkrieg (1853-1856). Die siegenden Engländer und Franzosen kamen, „um den Spaß zu sehen“, aber auch russische Offiziere sahen sich in der Region um und ihre Frauen nutzten den Krieg als Vorwand für einen Ausflug in milde Gefilde (S. 52). Von der Ambivalenz der Kriegserfahrung zeugt das Kriegstagebuch des Offiziers Nikolai Berg. In seinem 1855 veröffentlichten Bericht, der zu einem regelrechten „Schlachtfeldtourismus“ beitrug, gehen touristische Erfahrung (Essen, Unterkunft, Landschaftsbeschreibung) und die Grausamkeit des Krieges (Leichen am Quai von Sewastopol) Hand in Hand (S. 56-59).

In Ungarn stand der Tourismus zwischen 1873-1914 ebenfalls im Zusammenhang mit dem Prozess des „nation building“. Das Ziel, so Alexander Vari aufschlussreich in seinem Beitrag, war die Verbreitung der magyarischen Kultur bei gleichzeitiger Aneignung von militärisch verwendbaren Kenntnissen über das Land. Noah Sobe zeigt im darauffolgenden Artikel, dass die Reisen von Jugoslawen in die Tschechoslowakei der 1920er- und 1930er-Jahre unter dem Vorzeichen eines nicht mehr an Russland ausgerichteten Panslawismus zu sehen sind und dieser „einheimische Kosmopolitismus“ eine emotionale Komponente im Prozess des „nation building“ darstellte (S. 83). Den von ganz unterschiedlichen Organisationen geprägten Tourismus im Lettland der Zwischenkriegszeit präsentiert Aldis Purs nachvollziehbar als „perfektes Beispiel für eine Fuß fassende Zivilgesellschaft“ (S. 101). Nach dem Staatsstreich von Karlis Ulmanis 1934 folgte eine staatliche Reorganisation und Zentralisierung von touristischen Vereinigungen. Die Strukturen, mit denen nun versucht wurde, die nationale Identität durch den Tourismus zu stärken, rückten Lettlands Tourismusambitionen in die Nähe der KdF-Bewegung im nationalsozialistischen Deutschland.

Auch unter sozialistischer Herrschaft standen nationale und politische Interessen bei der Entwicklung des Tourismus im Vordergrund. Diane Koenker zeigt am Beispiel der Organisation „Proletarischer Tourismus“ systematisch, dass der offizielle sowjetische Tourismus Hand in Hand mit der allgemeinen kulturpolitischen Entwicklung ging: Der Sowjetbürger sollte sich mittels Tourismus kulturell und körperlich weiterentwickeln, seine individuellen Erfahrungen für das Kollektiv nützlich machen und seine Produktivität am Arbeitsplatz steigern. Diese Ansprüche galten, so Eva Maurer in ihrem lesenswerten Beitrag, unter Stalin auch für die Anhänger des Alpinismus. Die Erstürmung von Gipfeln wie des Pik Lenin oder Pik Stalin symbolisierte medial inszeniert den Kampf gegen die „unwirtliche Natur“ sowie die „Eroberung der Landschaft“ an der Peripherie der Sowjetunion (S. 156-157). In der Nachkriegszeit bot die Welt der Bergsteigerlager ausgewählten Sowjetbürgern sportliche Erholung in einem nur begrenzt kontrollierbaren Raum, in dem überdies unbeobachtete Beziehungen zwischen den Geschlechtern möglich waren.

Am Beispiel von Reiseführern über Sewastopol, die nach 1945 veröffentlicht wurden, verweist Karl D. Qualls auf die deutliche Korrespondenz von Ideologie und Repräsentation der Vergangenheit sowie die Notwendigkeit einer touristischen Neuerfindung der einst geschlossenen Stadt nach ihrer Öffnung 1996. Shawn Salmon beschreibt bildlich die Schwierigkeiten von Intourist während der 1950er- und 1960er-Jahre, westlichen Ausländern nicht nur einen Eindruck der Sowjetunion zu vermitteln, sondern sie auch zu verstärktem Konsum gegen Bezahlung von Devisen zu animieren und so den „Sozialismus zu vermarkten“ (S.186).

Auf die besondere Situation sowjetischer Touristen, die in andere Länder Osteuropas reisten, verweist Anne Gorsuch. Sie bezeichnet diese treffend als „Zeitreisende“ in die Vergangenheit und die Zukunft: Einerseits waren die von ihnen besuchten Länder ökonomisch weiter entwickelt als die eigene Heimat, andererseits hinkten sie der Entwicklung in der Sowjetunion in politischer Hinsicht hinterher – die DDR beispielsweise zeigte sich „resistent gegen die Entstalinisierung“ (S. 213). Der Aufenthalt im östlichen Europa bot den sowjetischen Touristen, die häufig durch unpassende Kleidung und unkultiviertes Benehmen auffielen, neben Konsumbefriedigung auch die Kontaktmöglichkeit mit westlichen Ideen.

Eleonory Gilburd beschäftigt sich mit dem von Sergei Obraszow ab 1954 veröffentlichten Tagebuch zweier Reisen nach London. Sie stellt fest, dass dieser Bericht die sowjetischen Leser, für die eine Reise nach England außerhalb jeglicher Reichweite war, insbesondere wegen der offensichtlichen Korrespondenz mit den Motiven aus Charles Dickens Büchern faszinierte. Wendy Bracewell hingegen nimmt Reiseberichte in den Fokus, die im Zusammenhang mit dem seit Ende der 1950er-Jahre verstärkt einsetzenden jugoslawischen Konsum-Tourismus entstanden. Sie zeigt, dass die Reisenden, deren primäres Anliegen der Konsum war, dem Kapitalismus dennoch kritisch gegenüberstehen konnten.

Auch in der DDR wurde versucht, den Tourismus zur Umgestaltung des Menschen zu nutzen. Abgrenzen wollte man sich in doppelter Hinsicht, zum einen von der Vergangenheit und zum anderen vom Kapitalismus der Bundesrepublik. Am Beispiel des Naturtourismus kann Scott Moranda schlüssig die Schwierigkeiten zeigen, traditionelle Muster bei gleichzeitig schlechter neuer Infrastruktur zu durchbrechen, weshalb der Tourismus zum „nation building“ der DDR nur wenig beitrug. Im letzten Beitrag befasst sich Christian Noack mit dem „wilden Tourismus“ an der sowjetischen Schwarzmeerküste. Am Beispiel Anapa kann er bestens verdeutlichen, dass die vorhandene Infrastruktur bei weitem nicht die Nachfrage befriedigte: 1969 beispielsweise kamen zu den 200.000 offiziellen Touristen noch ca. 400.000 „wilde Touristen“ hinzu, was nach Meinung des Autors dazu führte, dass längerfristig das „‚gute Leben’ aufhörte, das Privileg einer schmalen Elite zu sein – zumindest was die jährlichen Ferien betraf.“ (S. 304).

Den beiden Herausgeberinnen ist insgesamt ein informativer und origineller Band auf einer bemerkenswert vielseitigen Quellenbasis gelungen. Eine stringentere Architektur der Publikation und eine stärkere Fokussierung auf die oben umrissenen drei zentralen Fragen wären jedoch wünschenswert gewesen. Auf diese Weise hätten die Parallelen und Unterschiede jenseits der Grenze „kapitalistisch“ und „sozialistisch“ deutlicher gemacht werden können. Eine ausführliche abschließende Zusammenfassung der Ergebnisse wäre auch im Sinne eines Wegweisers für – hoffentlich folgende – zukünftige Projekte von Gewinn gewesen.

Anmerkungen:
1 Diane P. Koenker, Travel to Work, Travel to Play: On Russian Tourism, Travel, and Leisure, in: Slavic Review, 62 (2003), S. 657-665, hier S. 665.
2 Vadim V. Volkov, The Concept of 'Kulturnost'': Notes on the Stalinist Civilizing Process, in: Sheila Fitzpatrick (Hrsg.), Stalinism. New Directions, London 2000, S. 210-230.

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