Titel
Käthes neue Kleider. Gentrifizierung am Berliner Kollwitzplatz in lebensweltlicher Perspektive


Autor(en)
Marquardt, Tanja
Reihe
Untersuchung des Ludwig-Uhland-Instituts 102
Anzahl Seiten
201 S.
Preis
14,00 €
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Christian M. Peer

Das Rennen um die besten Plätze im Osten der ehemals geteilten Stadt Berlin hat seit der Wende in vielen Stadtteilen folgenschwere Spuren hinterlassen. Tanja Marquardts im TVV-Verlag erschienene Doktorarbeit „Käthes neue Kleider. Gentrifizierung am Berliner Kollwitzplatz in lebensweltlicher Perspektive“ befasst sich mit diesen oftmals nicht auf den ersten Blick erkennbaren Zeichen der Veränderung. Die Gegend um den Platz am Prenzlauer Berg mit der großen Bronzefigur der Künstlerin und Namensgeberin Käthe Kollwitz weckt das Interesse der Planer, Investoren und Makler. In der Praxis westlicher kapitalistischer Stadtsanierungsprozesse zur fragwürdigen „Mode“ avanciert, ist Gentrifizierung (kurz: sozialer Umstrukturierungsprozess eines Stadtteils) unter dem Diktat der Liberalisierung und Deregulierung nun auch ostwärts anzutreffen. In der Literatur als „new urban colonialism“ bezeichnet 1, sind diese Prozesse stets Boten sich wandelnder Machtverhältnisse und eben als solche zu verstehen. Käthes neue Kleider werden aus wirtschaftlichen, aber auch aus politischen Motiven geschneidert.

Tanja Marquardt begnügt sich nicht damit, die urbanen Transformationen als ein logisches und vorhersehbares urbanes Uplifting in Folge der Wende zu beschreiben. Sie verfolgt vielmehr das ambitionierte Ziel, „das Sanierungsergebnis mit dem von den Sanierungsakteuren selbst formulierten Anspruch der ‚Behutsamkeit‘ abzugleichen, es einzuschätzen und zu bewerten“ (S. 12). Im Fokus stehen bei Tanja Marquardts Untersuchung also Stadtentwicklungspolitiken, deren Folgen sie bei Frauen nachspürt, die die räumlichen Veränderungen im Sanierungsgebiet selbst miterlebt haben. Als betroffene und/oder beteiligte, als alte, neue oder ehemalige Bewohnerinnen richten die Probandinnen aus unterschiedlichen sozialräumlichen Positionen ihre lebensweltliche Perspektive als Disposition mitunter auf das Sanierungsgeschehen aus. Die Beurteilung der Dichotomie höchst unterschiedlicher Kapitalressourcenverteilung, von strategischem Agieren versus taktischem Reagieren, von der Präsenz oder Absenz von Diskursfähigkeit schärft den Blick auf ganz konkrete raumbezogene Handlungsmuster, auf die Herangehensweise in der Bewältigung des Alltagslebens. Tanja Marquardt hält fest, dass eine Stadterneuerung nur dann als „behutsam“ gelten kann, wenn sie eine Nachhaltigkeit hinsichtlich der spezifischen sozialen, kulturellen und ökonomischen Bevölkerungsstruktur des Gebietes unterstützt.

Die genaue Auseinandersetzung mit Gentrifizierungstheorien führt die Autorin zu der Annahme, dass die gängige These, wonach für das Ingangkommen einer Gentrifizierung das Vorhandensein einer Bevölkerung mit niedrigem sozialen Status eine Voraussetzung bildet, in ihrem Fallbeispiel nicht gilt. Hier unterscheidet sich das Sanierungsgebiet um den Kollwitzplatz gravierend von Aufwertungsgebieten in westdeutschen Städten. Denn obwohl sich ganz offensichtlich ein Gentrifizierungsprozess am Prenzlauer Berg beobachten lässt, gab es in diesem Gebiet zuvor nur in relativ geringem Ausmaß soziale Segregation.

Dennoch kommt es zu einer starken Verdrängung ursprünglicher Mieter und in Folge zu relativ homogenen neuen Haushaltstypen im Gebiet. Bei den neuen BewohnerInnen handelt es sich überwiegend um eine gut verdienende, kinderlose Mittelschicht. Diesen fundamentalen Wandel der Haushaltstypen bringt etwa die Zunahme an jungen Single-Haushalten am Prenzlauer Berg deutlich zum Ausdruck. Die Umbrüche und Veränderungen lösen ein Gefühl der Fremdheit bei jenen Protagonistinnen aus, deren Raumwahrnehmung und Raumnutzung im Sanierungsgebiet Gegenstand dieser Arbeit ist. Vor dem Hintergrund hoher systemischer Unsicherheiten nach der Wende (etwa bezüglich Arbeiten und Wohnen) wissen oder ahnen viele im Quartier, dass sie durch schnelles Umlernen, durch Anpassung ihres Habitus an neue Gegebenheiten und veränderte Räume bestenfalls in der Lage sein werden, noch eine Weile das neue Spiel (in Bourdieus Termini der Spieltheorie) mitzuspielen.

Immer feiner auf die lebensweltliche Perspektive der Bewohnerinnen am Kollwitzplatz abgestimmt, beschreibt Tanja Marquardt mithilfe des Bourdieuschen Konzepts unterschiedlicher Kapitalsorten als Handlungsbasis die individuell unterschiedlichen Raumwahrnehmungen und Raumnutzungen in dem sich schnell und umfassend verändernden Wohngebiet. Um von rein persönlichen, individuellen Erfahrungen abstrahieren zu können, entwirft sie in Anlehnung an das „humanökologische Raumorientierungsmodell“ der Frankfurter Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus unterschiedliche Raumnutzungstypen als eine weitere analytische Ebene, die es ermöglicht, Handlungsoptionen ihrer Probandinnen zu untersuchen. Klar grenzt sie damit die „Restringierten“, die „Kieznostalgikerinnen“, die „Hedonistinnen“ und die „Mitgestalterinnen“ durch ihre unterschiedlichen Raumnutzungsmodi voneinander ab.

Das empirische Kernstück bildet das auf Michel de Certeaus Kategorien rekurrierende Kapitel „Strategie und Taktik“, um so dem eigenen Anspruch nachzukommen, die auf politischer Ebene postulierten Ziele einer behutsamen und sozialverträglichen Sanierung in diesem Quartier zu evaluieren. Hier werden die „dichten Beschreibungen“ nochmals für die zentrale Frage nach den raumbezogenen Alltagspraktiken der Probandinnen als Indikatoren für eine Bewertung des Sanierungsgeschehens fruchtbar gemacht. Da wird das Vorhandensein einer Gardine zum Türschild alteingesessener Bewohnerschaft, da verbürgt die Zeichensprache eines großen, dicht mit Schlüsseln der Nachbarn behängten Bordes etwa soziales Kapital und Kontinuität. Der Befund ist alarmierend: „Das Exempel Kollwitzplatz lässt mithin keinen anderen Schluss zu, als dass das Paradigma der ‚Behutsamkeit‘ in der Stadtentwicklung eine Zukunftsperspektive allenfalls als euphemistischer Slogan der Sanierungsträger hat, in der Realität jedoch kaum haltbar sein dürfte.“ (S. 185)
Mit eben dieser Realität hat sich die Autorin in jahrelanger Untersuchung und Analyse eingehend befasst und angesichts der Komplexität dieses Transformationsprozesses eine entsprechend aufwendige Herangehensweise entwickelt. Methodisch der Empirischen Kulturwissenschaft und der Ethnologie verpflichtet, nähert sie sich dem Sujet der Gentrifizierung mithilfe eines umfangreichen Methodenmixes bestehend aus qualitativen Interviews in den Wohnungen der Probandinnen, Mental Maps, Wahrnehmungsspaziergängen, teilnehmenden Beobachtungen sowie Analysen statistischer Daten. Dem Gentrifizierungsverlauf am Kollwitzplatz stellt sie weiters ein Phasenmodell zur Seite, welches die mehrfachen Zyklen von Invasion und Sukzession berücksichtigt und liefert damit Leser und Leserin eine geeignete zeitliche Orientierungshilfe.

Anders als etwa der Begriff der „symbolischen Gentrifizierung“, wie ihn Barbara Lang in ihrer diskursanalytischen Betrachtung von Wechselwirkungen von Image und Aufwertung von SO36, des östlich gelegenen Teils von Kreuzberg, verwendet hat 2, bedient sich Tanja Marquardt eines Begriffes, der noch stärker das Zielgerichtete dieser Imagebildung hervorhebt (S. 63). Hierbei berücksichtigt sie insbesondere politische Entscheidungen oder Enthaltungen und legt hierfür ihre These der so genannten „politischen Gentrifizierung“ zugrunde. Tanja Marquardt fragt, zu wessen Gunsten das Raumbild angepasst wird und inwiefern sich ästhetische und kulturelle Bedürfnisse einer erwünschten BewohnerInnenschaft darin widerspiegeln.
Ihrer These zufolge wird dies zudem durch einen massiven Individualisierungsprozess im Sanierungsgebiet verschärft, sodass kollektive Interessensvertretungen gegenüber einer zentralisierten Sanierungsmacht unmöglich werden.

Indizien über räumlich sichtbare Veränderungen, die wegen einer zielgerichteten Imagebildung möglich sind, verfolgt Tanja Marquardt entlang kompilierter Daten, diskursiv beeinflusster Entscheidungen („der Wachstumskoalition“) als auch anhand von Einschätzungen von Menschen, die die Entwicklungen im Gebiet erlebt und beobachtet haben. Sie führt einen Indizienprozess, der sich auf jene räumlich sichtbaren Veränderungen beruft, die wegen des besonderen Images möglich waren, und der vor allem fragt, wer diese Veränderungen durchsetzt.

„Käthes neue Kleider“ zählt zu jenen kritischen Stimmen, deren Sprache sich erst aus einer ausdauernden und reflexiven Befassung mit der Verwandlung des städtischen Raumes entwickelt. Entsprechend tiefgehende und einem interdisziplinären Zugang verpflichtete kulturwissenschaftliche Einblicke gewährt sie in Prozesse, die für das Alltägliche dieser Räume konstituierend sind und zugleich die Eigenheit haben, sich der Wahrnehmung des schnelllebigen Alltags zu entziehen. Der Komplexität des Gegenstands zum Trotz gelingt es Tanja Marquardt, den Kollwitzplatz als überschaubare Bühne einer Verwandlung darzustellen und hier am Prenzlauer Berg im angeblich größten zusammenhängenden Sanierungsgebiet Europas der 1990er-Jahre die vielschichtigen urbanen Transformationen in ihrer soziokulturellen und politischen Tragweite gut strukturiert nachvollziehbar zu machen.

Das Buch von Tanja Marquardt gibt einen willkommenen Anlass, sich zu vergegenwärtigen, dass der aus der Stadtgeografie entlehnte und hier aus kulturwissenschaftlicher Perspektive gedachte Begriff Gentrifizierung eine neuerdings äußerst spannende Erweiterung erfährt. Zugleich ist die Forschungsarbeit über den Lebensalltag von Frauen ein konsequenter Beitrag zu den Gender Studies sowie – und auch das ist ganz zentral – ein Beitrag über den gesellschaftlichen Wandel in einer erst jungen postsozialistischen Ära.

Kritik in Richtung Planungskultur und -politik ist insofern ein undankbares Terrain als sie tendenziell Gefahr läuft, unter dem Schleier eines von den Profiteuren motivierten Schweigens dem Vergessen anheim zu fallen. Umso dringender gilt es deshalb aus kulturkritischer Perspektive in Diskussionen über Stadtentwicklung auch jene Prozesse zur Sprache zu bringen, in welchen die Betroffenen selbst häufig gar nicht mehr vom Ort der Transformation aus agieren können, wo die Belange des Menschen einem „Raubbau“ ausgesetzt sind und gerade deshalb die Frage nach der demokratiepolitischen Verantwortung im Zentrum stehen muss.

Anmerkungen:
1 Atkinson, Rowland; Bridge, Gary (Hrsg.), Gentrification in a Global Context. The new urban colonialism, London/New York 2005.
2 Lang, Barbara, Mythos Kreuzberg, Frankfurt am Main 1998.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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