G. Marchal: Schweizer Gebrauchsgeschichte

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Titel
Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität


Autor(en)
Marchal, Guy P.
Erschienen
Basel 2006: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
550 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Brockmann, Institut für Didaktik der Geschichte, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die „Schweizer Gebrauchsgeschichte“ von Guy Marchal analysiert Merkmale intentionaler und symbolischer Vergangenheitsrepräsentation, die Erfahrungen fixieren, abstrahieren und über die Grenzen der Generationen tradierbar machen. Thema des Buches sind „einige Vorstellungskomplexe oder Geschichtsbilder der Schweizer“ (S. 15), die das schweizerische Selbstverständnis bis heute prägen. Das Buch ist kein monographisch stringentes Werk, sondern ein Sammelband, der eine Auswahl von Beiträgen Marchals vereinigt, die in den vergangenen 20 Jahren verstreut publiziert worden sind. Ausgestattet mit einem farbigen Bildteil und einem umfangreichen Literatur- und Quellenverzeichnis ist der Band inhaltlich in sechs Teilbereiche gegliedert.

Voran steht die Definition „Gebrauchsgeschichte ist jene Geschichte, die immer wieder zum Einsatz kommt, um eigene Positionen historisch zu legitimieren“ (S. 13). Weil die Schweizer Gebrauchsgeschichte von Vorstellungen über das Mittelalter geprägt ist, so der Autor, und zudem seit dem ausgehenden Mittelalter gut dokumentiert ist, liegt der Schwerpunkt seiner Analyse im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Verschiedene Traditionsstränge werden dabei bis in die Gegenwart hinein verfolgt.

Es beginnt mit dem programmatischen und inhaltsreichen Beitrag über das Geschichtsbild der Alten Eidgenossen, der erstmals 1990 erschienen ist (S. 19-171). Marchal rückt die Mechanismen, die die eidgenössische Öffentlichkeit und ihre gesellschaftlichen Gruppen auf lokaler, kantonaler und nationaler Ebene zur Interpretation der Vergangenheit ausformten, um die eigene Gegenwart mit einem identitäts- und sinnstiftenden Charakter auszustatten, in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen, die auch die Frage nach der politischen Instrumentalisierung einschließen. Das Geschichtsbild von den Alten Eidgenossen, das eine jahrhundertealte Tradition besitzt, „diente einer Identitätsstiftung und -präsentation, die in ihrer Vereinfachung und eindeutigen Zuweisung von Gut und Böse auch über die bestehenden einzelörtischen und standesmässigen Gegensätzen hinweg die eigene und gemeinsame Abgrenzung gegenüber der Umwelt zu bewerkstelligen half“ (S. 37). Im 19. Jahrhundert, nach der Bundesgründung 1848, steigerte sich die Vorstellung von den Alten Eidgenossen in einer heroisch-kriegerischen Identitätspräsentation zum nationalen Mythos.

Die politische Dimension der Schweizer Gebrauchsgeschichte rekurriert auf die Existenzform der modernen Nation, die sich durch den Rückgriff auf die eigene Geschichte, die eidgenössischen Grundwerte sowie deren symbolische Repräsentation legitimiert. Die Geschichtspolitik bildete ein umfangreiches Repertoire von nationalen Gedenkritualen aus, die allesamt auf die Geschichte und den Gründungsmythos als appellative Legimationsressource zurückgreifen. Dazu zählt auch die Inszenierung und Instrumentalisierung des Erinnerns in Form von nationalen Feiern und Festtagen, die als Erinnerungsorte einen synthetisch affektiven Umgang mit der Vergangenheit ermöglichen und sich an der organisierten Wiederkehr historische Daten im Kalender der Gedenktage wie 1898, 1948 oder 1998 orientieren (S. 173-202).

Nachfolgend geht es um die Traditionen der schweizerischen Nationalgeschichtsschreibung (S. 203-229). Im Zentrum stehen dabei die Gesamtdarstellungen, „die eine Deutung der schweizerischen Entwicklung anstreben und die Eigenart des schweizerischen Staatswesens aus der Geschichte heraus zu erfassen suchen“ (S. 203). Den historiographischen Ausgangspunkt bilden das „Chronicon Helveticum“ des Aegidius Tschudi, das 1571 abgeschlossen und erst 200 Jahre später gedruckt wurde, sowie die „Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft“ des Johannes von Müller, die von 1786 bis 1805 erschienen.

Im zweiten Kapitel folgen Bildkommentare und Bildtafeln (acht Farbtafeln und zehn s/w-Abbildungen), die an dieser Stelle ein wenig stiefmütterlich behandelt wirken (S. 231-253). Religiöse Motive wie die Darstellung der Arma Christi und Bilder der Staatspräsentation, darunter politische Plakate, werden kurz in den Kontext gestellt. Hier wird deutlich, dass auch heute noch, gesellschaftlich wie wissenschaftlich, der elaboriert konnotierten Schriftlichkeit Präferenzen gesetzt werden. Doch mit der Weiterentwicklung bilderzeugender und reproduzierender Verfahren haben sich Wertigkeit und Einfluss von Bildern verändert. Es handelt sich um komplexe quantitative wie qualitative Veränderungen, die neben technologischen und wirtschaftlichen Komponenten auch das Rezeptionsverhalten betreffen. Bilder sind heute allgegenwärtig und „durch Bilder ist Geschichte demokratisiert worden, doch die Macht über die Geschichte ist in die Hände derer übergegangen, die diese Geschichts-Bilder produzieren.“ 1 An dieser Stelle bestand die von Guy Marchal verpasste Chance, den visuellen Symbolkonsum stärker in den historischen Sinnbildungsprozess einzubeziehen.

Es schließt sich im dritten Komplex eine Diskussion über den Aussagewert mündlicher Überlieferung an (S. 255-303). Als Ausgangspunkt dient Marchal eine Fallstudie aus der Luzerner Rechtsprechung, um am Beispiel Wilhelm Tells die Gedächtnismodulation in mündlichen Quellen zu hinterfragen. Ausgehend von der vergleichenden Sagen- und Erzählforschung versucht Marchal Rückschlüsse auf das Erzählen von Tell zu ziehen und den Umgang mit der Überlieferung zu problematisieren. Alle Erinnerungszeugnisse, auch die mündlichen Quellen, sind zur Auswertung konsequent in ihrem sie konditionierenden gesellschaftlichen Kontext zu betrachten. Widersprüche zwischen ihnen sind erste Indikatoren für Erinnerungsmodulation.2

Ebenso wie Tell zählt auch die Heldengestalt der Schlacht von Sempach, Arnold von Winkelried, zur eidgenössischen Befreiungstradition (S. 305-348). Ausgehend von historischen Volksliedern des beginnenden 16. Jahrhunderts ist Winkelried als „Personifikation alteidgenössischer Tugend“ (S. 334) zu einem nationalen Mythos geworden, als historische Person ist er jedoch nicht belegt.

Im fünften Kapitel werden die „Schweizer Bauern“ als Erscheinungsform des schweizerischen Sendungsbewusstseins dargestellt (S. 349-428). Beim Bild des „Schweizer Bauern“ handelt es sich nicht um den realen Bauernstand, sondern um eine „ideologische Identitätsfigur“ (S. 235). Der im Kern um 1500 ausgebildete Vorstellungskomplex war deshalb identitätsstiftend, da er ein positives Selbstbild entwarf und ein in die Zukunft weisendes Vorbild präsentierte, also idealisierend wirkte: jene von Gott ausgewählten Eidgenossen, die siegreich und tugendhaft gegen den Adel, die Fürsten ihre Freiheit bewahrt hatten und die Ständeordnung umkehrten.
Ein weiteres zentrales Element des schweizerischen Selbstverständnisses stellen „Die Alpen“ dar, die seit dem 16. Jahrhundert mit jenem der Alten Eidgenossen zusehends verquickt erscheinen (S. 431-478). Die Alpen als schicksalhaft prägende Landschaft und vor allem das zentrale Gotthardmassiv wurden zum Symbol der Schweiz, das ihre Identität begründete und die schweizerische Besonderheit in Europa zum Ausdruck brachte.

Die einzelnen Kapitel sind nach Angaben des Autors so redigiert, dass man jeden Beitrag als einen in sich abgeschlossenen Text lesen kann, ohne den Gesamtzusammenhang zu kennen. Wiederholungen werden vom Autor bewusst in Kauf genommen (S. 16). Jedoch wirkt die Aneinanderreihung der Topoi eher redundant. In den Beiträgen wiederholen sich nicht nur Sujets wie Befreiungstradition, Gründungsmythos, Heldengestalten, etc., sondern auch die Definitionen und Diskussionen um Grundbegriffe wie Mythos oder Ordogedanken nehmen immer wieder aufs Neue viel Raum in der Darstellung ein. Hier hätte man sich eine stärkere Straffung der Beiträge gewünscht, um die jeweilige Essenz des Erkenntnisinteresses herausfiltern zu können.

Guy Marchal definiert den Begriff der Gebrauchsgeschichte als eigenständige Größe (S. 14), mit der Motivation, ihre Modalitäten, Funktionen und Wirkung zu untersuchen. Diese Analyse der Gebrauchsgeschichte deckt sich nach Marchals in den Aussagen mit jener der Erinnerungsorte, auch mit dem, was unter Geschichtskultur und Geschichtspolitik verstanden wird, „nur das sie deutlicher bezeichnet, wo bei dieser des Pudels Kern steckt“ (S. 15). Doch bleibt der verdiente Wissenschaftler eine begriffliche Präzision schuldig, vielmehr kursieren in seinem Werk verschiedene konstruierte Wortbilder wie das „Geschichtsbild“ als „eine lokal und zeitlich bedingte Auskristallisierung von Elementen des Geschichtsbewusstseins“ (S. 352), das „Traditionsbewusstsein“ als „das Bedürfnis, aus der Vergangenheit heraus eine Orientierung für die Gegenwart und Zukunft zu finden (S. 348), unter „imaginaire historique“ versteht Marchal „die im Selbstverständnis und Nationalbewusstsein einer staatlichen Gemeinschaft eingelagerten und darin weiterbelebten Geschichtsbilder“ (S. 413) und mit „nationaler Identität“ meint er jenen Vorstellungskomplex, „in dem sich das lebendige Selbstverständnis einer Gemeinschaft über deren als konstitutiv erachtete Wesensmerkmale ausdrückt“ (S. 22). Hier deutet sich das Grundproblem der terminologischen Unschärfe im geschichtskulturellen Umfeld an, das die kontextuelle Gemengelage hervorgerufen hat, die angesichts der Bildung neuer Paradigmen um die Begriffe Gedächtnis, Geschichtskultur und Erinnerung als Grundkategorien kulturwissenschaftlicher Forschung entstanden ist.3 Auch die „Gebrauchsgeschichte“ wird die begrifflichen Schwierigkeiten nicht lösen, doch sie kann als heuristisch fruchtbare Kategorie die konkrete Gegenwartsabsicht von Geschichtsbildern betonen, denn Erinnerung schließt immer die Sinnanforderung der Gegenwart bei der Rekonstruktion der Vergangenheit ein und wird auf diese Weise zum aktiven Element des historischen Denkens.

Anmerkungen:
1 Kaes, Anton, Deutschlandbilder. Die Wiederkehr der Geschichte im Film, München 1987, S. 5.
2 Vgl. Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004, S. 223-232.
3 Vgl. zur begrifflichen Klärung Erll, Astrid, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2005; pointiert auch Hasberg, Wolfgang, Erinnerungskultur – Geschichtskultur, Kulturelles Gedächtnis – Geschichtsbewusstsein. 10 Aphorismen zu begrifflichen Problemfeldern, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Jahresband 2004, S. 198-207.

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