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Titel
Bilder vom Norden. Schwedisch-deutsche Filmbeziehungen 1914-1939


Autor(en)
Vonderau, Patrick
Erschienen
Marburg 2006: Schüren Verlag
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Stiasny, Berlin

In der deutschen Filmgeschichte gilt die Zeit der Weimarer Republik als jene Epoche, in der Deutschland nach Jahren der Isolierung im Ersten Weltkrieg zur führenden Filmnation Europas und zum wichtigsten Konkurrenten Hollywoods aufsteigt. Das gängige Bild einer immens produktiven Filmindustrie, der der Spagat zwischen künstlerischem Anspruch und internationalem Erfolg gelingt, wird dabei geprägt durch eine recht kleine Zahl kanonisierter Werke wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920), „Nosferatu“ (1921) und „Metropolis“ (1927). Von solchen Klassikern abgesehen zielen die Bemühungen der Forschung zum Weimarer Kino seit längerem vor allem darauf, das schnelllebige populäre Kino in den Blick zu rücken, seine politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen sowie seine Produzenten und Rezipienten. Welche Rolle spielt das Kino in der Gesellschaft, welche Themen und Genres sind beliebt, was erwarten die Besucher?

Quellennahe Untersuchungen zu diesen Fragen sind rar. Aufschluss über einige Faktoren für den Kinobesuch gibt hier beispielsweise das Tagebuch des „kinosüchtigen“ Dresdener Hochschullehrers Victor Klemperer. Im Oktober 1922 reflektiert er über die Funktion seiner Kinobesuche als Theater-, Konzert- und Reiseersatz, über das nach Bildung und Alter differenzierte Publikum, dessen Vorlieben für bestimmte Genres und die Bedeutung der Projektionstechnik: „In den Vaterland-Lichtspielen am Freiberger Platz verkehrt die communistische Jugend u. Michael Bohnen tritt als starker Mann auf; in den Kammerlichtspielen in der Wilsdruffer Straße sieht man Circusstücke u. Hagenbecks mehr zahme als wilde Tiere, das Publikum ist ähnlich wie am Freiberger Platz. Im Olympiatheater am Altmarkt liebt man die schwedischen Filme, die immer moralisch-religiös u. technisch ziemlich schwach sind, sodann die Marlittiaden. In den U.T.-Spielen gibt es immer prachtvolle Bilder aus dem Tierleben, Schlangen und Vögel [...]. Dann sieht man Chapliniaden.“ 1 Ganz beiläufig zeigt Klemperers Eintrag der Forschung mehrere Lücken im heutigen Wissen über das Kino an. Das gilt speziell für die Koppelung ästhetischer, technischer und sozialer Kriterien bei der Auswahl eines bestimmten Kinos, die Idee des Filmerlebnisses als Reiseersatz und das so genannte Beiprogramm, das – zum Beispiel in Form kurzer Tierfilme – vor dem langen Hauptfilm läuft. Neue Erkenntnisse zu diesen wichtigen, aber zumeist vernachlässigten Aspekten der Film- und Kinogeschichte liefert nun Patrick Vonderaus unter dem Titel „Bilder des Nordens“ erschienene Dissertation. Sein besonderes Interesse widmet Vonderau dabei dem ebenfalls von Klemperer erwähnten „schwedischen Film“, mit dem die Zeitgenossen ein Filmgenre und eine Markenqualität verbinden. Erstmals erschließt die gründlich recherchierte, quellennah argumentierende und zudem vorzüglich bebilderte Arbeit die kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Hintergründe der schwedisch-deutschen Filmbeziehungen vor 1939, wobei die Zeit der Weimarer Republik im Mittelpunkt steht.

Im ersten Teil seiner Arbeit befasst sich Vonderau mit den Imaginationen und Klischees des „Nordens“, der in Deutschland für einen exotischen und zugleich der nationalen Kultur und Geschichte verwandten Ort steht. Das „Nordland“ erscheint als naturhafte, mythische Alternative zu einer Gegenwart, die durch Industrialisierung und Entfremdung von der Natur bestimmt ist. Die aufwendigen medialen Inszenierungen des „Nordens“ wurzeln in der Literatur und Kunst des 19. Jahrhunderts und erreichen im Kontext des aufkommenden Fremdenverkehrs und der dazu gehörigen Werbung ein Massenpublikum, etwa in den Nordland-Panoramen. Die daran bereits vor 1914 anknüpfende Popularisierung solcher Bilder im Kino untersucht Vonderau anhand dokumentarischer Beiprogrammfilme über Reisen nach und in Skandinavien. Als ästhetisches Ordnungsprinzip dient den Filmen, die von zeitgenössischen Kritikern lobend als „neue Baedeker“ beschrieben werden, der „touristische Blick“. Kontrovers diskutiert wird von den Kritikern allerdings, ob die Filme dem breiten, nicht unbedingt kulturbeflissenen Kinopublikum als Ersatz für kostspielige Reisen willkommen sind oder ob es sie nicht mehrheitlich als langweilig ablehnt.

Der zweite Teil umreißt die schwedisch-deutschen Filmbeziehungen auf der Ebene des Filmhandels und besonders des Vertriebs langer Spielfilme zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Vonderaus Ziel ist es, den Zusammenhang von Distribution und Produktion zu durchleuchten und zu klären, „inwieweit sich die kulturellen und ökonomischen Strategien auf die Gestaltung der Filme auswirkten“ (S. 120). Beschrieben wird in diesem Rahmen zunächst das kulturpropagandistische Interesse am „Norden“ auf deutscher Seite während des Ersten Weltkriegs, als die Mittelmächte ebenso wie die Entente-Staaten das neutrale Schweden umwerben. Ähnlich buhlt nach 1933 auch das nationalsozialistische Deutschland, wo die schwedischen Schauspielerinnen Zarah Leander und Kristina Söderbaum zu den beliebtesten Filmstars gehören, um die angeblich rassisch verwandten, politisch aber auf Distanz bleibenden Schweden.

Im Zentrum des zweiten Teils stehen jedoch die frühen 1920er-Jahre, in denen der deutsche Markt sich für Importe öffnet und sich der „Schwedenfilm“ als ein Markenname etabliert, dessen Wert speziell die kulturkonservative Kritik hervorhebt. Sie begreift den „Schwedenfilm“ als eine Alternative zu einer materialistischen, auf Vergnügen und Spektakel zielenden und auch in Deutschland zunehmend amerikanisierten Unterhaltungskultur. Dagegen lobt die Kritik den volkstümlichen, bodenständigen Charakter der „Schwedenfilme“, die freilich einseitig reduziert werden auf agrarromantische Szenarien und Literaturadaptionen. Unter dem Eindruck von Hollywoods wachsender Marktdominanz in Europa kommt es zur Zusammenarbeit schwedischer und deutscher Firmen, die aus strategischen Gründen einen einerseits europäischen und andererseits nationalkulturell geerdeten Stil gegen die Amerikaner in Stellung bringen wollen. Diesem Projekt ist sowohl wirtschaftlich wie künstlerisch kein großer Erfolg beschieden, und die Zahl deutsch-schwedischer Koproduktionen bleibt gering. Was sich aber zeigt, ist erstens „der Abgleich des ‚Nationalen’ am ‚internationalen’ Publikumsgeschmack: der Versuch also, aus den Erfolg versprechenden Zutaten beider Kinematographien die Rezeptur für ein kommerziell lohnendes europäisches Unterhaltungskino zu entwickeln“. Zweitens wird deutlich, „dass die Idee eines nationalen Kinos und einer landesspezifischen Filmästhetik unlösbar mit internationalen Expansionsstrategien einhergingen“ (S. 187).

Im dritten Teil präsentiert Vonderau eine spannend geschriebene produktionsgeschichtliche Fallstudie über das viel beachtete Scheitern des berühmtesten deutsch-schwedischen Filmprojekts, „Die Odaliske von Smolny“, im Jahr 1924. Das Scheitern bedeutet das Ende des kurzen Intermezzos des schwedischen Vorzeigeregisseurs Mauritz Stiller und seiner ebenfalls schwedischen Hauptdarstellerin Greta Garbo in Deutschland sowie den Ruin der aufstrebenden Produktions- und Verleihfirma Trianon Film AG. Minutiös rekonstruiert Vonderau die Zusammenhänge zwischen dem unbedingten Expansionsstreben der Firma, den windigen, für die Filmbranche durchaus typischen Geldbeschaffungsmaßnahmen, dem Schielen nach künstlerischem Prestige und den seltsamen Eigeninteressen einer Fachzeitung des Ullstein-Konzerns, die durch ihre parteiische Berichterstattung erst einen Skandal hervorruft. Ausschlaggebend für das Scheitern waren demnach konfuse Planungen, falsche Erwartungen, schlechte Geschäftsmoral, Pech und Unfähigkeit. Die Analyse der transnationalen Filmbeziehungen vereint Vonderau an dieser Stelle mit einer hervorragenden Analyse zeitgenössischer Produktions- und Finanzierungspraktiken.

Am Schluss der Arbeit begründet Vonderau den Verzicht auf die textbasierte Untersuchung einzelner Filme mit der schlechten Überlieferungssituation und plädiert ausblickend für ein erhöhtes filmhistoriografisches Problembewusstsein. Er regt an, das „Verhältnis von Poetik, Pragmatik und Geschichte“ genauer zu erforschen. Verstärkte Beachtung müsse der „kulturelle Gebrauch“ von Filmen finden: Neben dem in Filmen reflektierten kulturellen Wissen betrifft das den Filmvertrieb, die Werbung, die öffentliche Rezeption und die äußerst unterschiedlichen, wenig bekannten Aufführungs- und Wahrnehmungsbedingungen. Zu diesen Aspekten liefert Vonderau wichtige neue Erkenntnisse. Einige kleinere Einwände schmälern sein Verdienst nicht. So ist dem Rezensenten nicht klar, weshalb die „Bilder vom Norden“, die im ersten Teil auf ganz Skandinavien bezogen sind, im weiteren Verlauf allein auf Schweden beschränkt werden. Die erhebliche Bedeutung der deutsch-dänischen Filmbeziehungen gerät dadurch etwas aus dem Blick, und es stellt sich die Frage, ob eine breitere Perspektive hier substantiell andere Ergebnisse gebracht hätte. Zudem konzentriert sich Vonderau hinsichtlich der 1920er-Jahre auf den Export schwedischer Filme nach Deutschland; die Konturen des Imports deutscher Filme bleiben dagegen eher blass. Mehrfach erwähnt, aber nicht genauer behandelt wird in diesem Zusammenhang die strenge schwedische Filmzensur, die den Import massiv erschwert und die schwedischen Produktionen inhaltlich und ästhetisch geprägt habe. Zuletzt bedauert der Rezensent den Verzicht auf die Auseinandersetzung mit dem, wenn auch lückenhaft überlieferten, Filmmaterial. Besonders im Fall der deutsch-schwedischen Koproduktionen wäre es erhellend gewesen, die europäisch-nationalkulturell verwobene Herstellungsstrategie am Fallbeispiel zu untersuchen. Freilich wiegen diese Einwände im Vergleich mit dem Ertrag gering. Mit „Bilder vom Norden“ legt Patrick Vonderau eine für die film- und kulturwissenschaftliche Forschung zum Weimarer Kino grundlegende Arbeit vor.

Anmerkungen:
1 Klemperer, Victor, Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918-1932, hg. von Nowojski, Walter, 6 Bde., Berlin 2000, hier Bd. 1922-1923, S. 89.

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