C. Vogel: Der Untergang der Gesellschaft Jesu als Medienereignis

Cover
Titel
Der Untergang der Gesellschaft Jesu als europäisches Medienereignis (1758-1773). Publizistische Debatten im Spannungsfeld von Aufklärung und Gegenaufklärung


Autor(en)
Vogel, Christine
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. für Universalgeschichte 207
Erschienen
Anzahl Seiten
433 S.
Preis
€ 51,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Samerski, GWZO

Die Gießener historische Dissertation thematisiert die Auflösung des wohl mächtigsten Ordens der Katholischen Kirche des Ancien Regimes aus der Perspektive der modernen Kommunikationsgesellschaft. Was methodisch wie ein Anachronismus wirkt, spiegelt doch tatsächlich einen brauchbaren Ansatz für das Weltdatum von 1773 wider, dass die Autorin als europäisches Medienereignis deutet. Da sie ganz richtig bei 1758 ansetzt, ist allerdings die „Ereignishaftigkeit“ auf etwa 15 Jahre ausgedehnt. Die europäische Öffentlichkeit wurde bewusst, wenn auch wohl nicht selbstreflektiert, in die ausgreifende Debatte um die Verbote der Gesellschaft Jesu einbezogen: zunächst in Portugal, dann in anderen europäischen Ländern und zuletzt weltweit 1773 durch die Auflösung durch Clemens XIV. Tatsächlich wurde diese Debatte europäisch geführt, und zwar nicht nur räumlich durch die Verbreitung von Pamphleten, Karikaturen und Apologien im Abendland, wobei die Autorin den Schwerpunkt auf die romanischen Länder und Deutschland legt, Ostmitteleuropa, allerdings das eine bedeutende Wirkungsfläche für die Jesuiten darstellte (Wien, Braunsberg, Olmütz etc.), so gut wie nicht berücksichtigt. Gerechtfertigt mag diese Beschränkung allenfalls durch den Umstand sein, dass an den westeuropäischen Bourbonen-Höfen die Epizentren des Jesuitenhasses lagen. Auch inhaltlich ist die verschiedensprachige zeitgenössische Streitschriftliteratur aufeinander bezogen, kopiert und beantwortet worden. Die Autorin beansprucht, die „Gesamtdebatte sowohl in ihrem äußeren Verlauf als auch in ihren inhaltlichen Dimensionen zu rekonstruieren“ (S. 6) und setzt dabei den historischen Kontext weitgehend voraus, obgleich ihr eine genaue historische Kontextualisierung wichtig ist (S. 8) und sie zu Neubewertungen kommt, etwa hinsichtlich Pastors Papstgeschichte, deren pauschale Verurteilung bei ihr zumindest relativiert wird. Aber auch bei dem für die Thematik so entscheidenden Begriff der Aufklärung plädiert sie korrekt für eine moderne Differenzierung. Dabei hält sie ganz richtig fest, dass die Aufhebung der Gesellschaft Jesu symptomatisch für die Grundtendenzen der Epoche war. Daher eignet sich dieses Paradigma sehr gut für die Darstellung des Phänomens und der Mechanik einer zunehmend sich verdichtenden politischen Öffentlichkeit mit europäischen Dimensionen. Dadurch, dass sie die Aufhebung von 1773 als Kulminationspunkt einer Entwicklung erkennt und bewertet, wird sie der Prozesshaftigkeit des historischen Datums ebenso gerecht wie dem Verständnis von Aufklärung als Kommunikationsprozess. Damit besitzt die Konzeption der Arbeit eigentlich zwei Brennpunkte: die Auflösung als Medienereignis sowie Verlauf und Inhalte der publizistischen Debatte über das Verbot der Jesuiten. Schon durch diesen Ansatz nimmt die Autorin die Gesamtdebatte in den Blick, was immer wieder als Desiderat der Forschung angemahnt wurde. Einen solchen Großen Wurf leistet sie in der vorliegenden Arbeit jedoch nicht und will sie auch nicht leisten; dazu hätte neben Ostmitteleuropa vor allem auch die Kurienpolitik und der italienische Kontext breiter und differenzierter erörtert werden müssen. Methodisch fällt weiterhin auf, dass die Autorin zwar die wichtige Druckgraphik aufgreift, den kunsthistorisch-ikonographischen Ansatz aber weiter hätte ausbauen sollen. Bildmaterial wird nur dann herangezogen, wenn es auf publizistische Texte bezogen ist. Eine weitere materielle Lücke entsteht durch die Auswahl der Dokumente: Neben dem meist zahlenmäßig dominanten antijesuitischen Streitschrifttum zieht die Autorin bei Zeitungen nur die Dissidentenliteratur bzw. Journale aus protestantischen Ländern und staatlich kontrollierte Blätter heran. Die andere Seite kommt inhaltlich zu kurz. Methodischer Schwerpunkt bleibt demnach das Herausarbeiten der Funktionsweisen öffentlicher Kommunikation, das ihr beim systematischen Zugang zu inhaltlichen Ebenen der Publizistik hilft. Auf diese Weise kann die mediale Vernetzung Europas der Jahre 1758 bis 1773 anhand der Jesuitendebatte mit ihrer politischen, sozialen und theologischen Ideenwelt konkretisiert werden.

Der mediale Diskurs über das Ende der weltweit etwa 22.500 Mitglieder zählenden Gesellschaft Jesu setzte mit dem Verbot in Portugal 1759 ein, das eine erste Welle von Publikationen in ganz Europa auslöste, welche alle Medien beschäftigte. Der Ansehensverlust der Gesellschaft hatte jedoch schon Jahrzehnte vorher eingesetzt, da sie – obgleich in der katholischen Welt quasi ein Lehrmonopol innehabend – damals kaum fortschrittliche Erziehungsmethoden und neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse adaptierte und den Herausforderungen der Aufklärung weitgehend hilflos gegenüberstand. Die Autorin gliedert die Chronologie ihrer Arbeit in drei Phasen des Untergangs: Die erste Etappe (1758-1761) wurde von der Diskussion in Portugal dominiert, die in Italien, Frankreich und Deutschland rezipiert wurde. In der zweiten Phase (1761-1764) stand das politisch geschwächte Frankreich im Mittelpunkt des medialen Diskurses, der von einer deutlichen Gegenoffensive und einer Zementierung der inhaltlich-argumentativen Weichenstellung gekennzeichnet war. Entsprechend brachte die dritte Phase (1765-1773) inhaltlich wenig Neues, noch nicht einmal eine Beschleunigung oder Intensivierung des Diskurses, sondern – gegen alle Erwartungen – Abschwächung und rückläufige Internationalität. Dieser Abschnitt lief mit den knapp geschilderten ereignisgeschichtlichen Höhepunkten aus: den Jesuitenverboten in Spanien, Neapel und Parma sowie der Aufhebung des Gesamtordens durch Clemens XIV. 1773.

Der Auslöser für das portugiesische Verbot von 1759, das die von Anfang an hochemotional geführte publizistische Auseinandersetzung in Gang setzte, war der Hass des portugiesischen Premierministers Pombal, der der Autorin zufolge durch Berichte seines Bruders aus Brasilien über die Auflösung der Reduktionen (1751-1759) geschürt worden sei (S. 44). Das den Jesuiten in die Schuhe geschobene Attentat auf den portugiesischen König Joseph I. 1758 bedeutete dann die Initialzündung für das „mediale Ereignis“, das sich anfangs mit den südamerikanischen Jesuitenmissionen beschäftigte, dann aber auch bereits das Thema des Tyrannenmordes aufgriff. Dessen Legitimation dominierte nun zunehmend die öffentlich geführte Diskussion, die 1759 Italien als „wichtigste[n] Schauplatz der publizistischen Auseinandersetzungen“ (S. 122) erreichte. In Rom waren es vor allem die Mitglieder des Archetto, die Aufklärer im Verein mit den Jansenisten, die den Jesuiten das Leben schwer machten und starken Druck auf Kurie und Papst ausübten. Indes war der damals regierende, wenn auch schwache Pontifex Clemens XIII. ein entschiedener Gegner dieser Tiraden, der seit 1729 der römischen Herz-Jesu-Erzbruderschaft angehörte und jesuitische Frömmigkeitsformen intensiv förderte. Während die Autorin auf die Streitschriftanalyse fixiert bleibt, hätte dies und das römische Ambiente in dieser entscheidenden Zeit deutlich und differenzierter, als sie es tut, herausgearbeitet werden müssen. Denn Clemens XIII. gelang es als letztem Papst des Ancien Regime noch, die Verteidigungsfront gegen die meist politisch motivierten Jesuitengegner zu halten, die argumentativ immer stärker in den Strudel des Verschwörungsdenkens gerieten. Für diese zweite Phase (1761-1764) arbeitet die Autorin deutlich für den zentralen Schauplatz Frankreich heraus, wie stark die Jesuitendebatte von den Jansenisten und den Parlements für aktuelle politische Fragen instrumentalisiert wurde. Überraschenderweise legten die Hauptvertreter der französischen Aufklärung, Voltaire und d’Alembert, eine ganz eigene Deutung der Ereignisse vor; sie lassen sich daher nicht den mainstreams der Publizistik zuordnen. In den Schlussbemerkungen zeigt die Autorin, wie der mediale Diskurs – etwa bei Peter Philipp Wolf und Adolph Freiherr von Knigge – in Historiographie umgegossen wurde und so aus dem Medienereignis Langzeitfolgen hervorgingen. Teilweise wurden nach der Wiederherstellung der Gesellschaft Jesu von 1814 Bild- und Textzeugnisse des 18. Jahrhunderts rezipiert und erneut aufgelegt.

Die Autorin hat schier unüberschaubares Material bearbeitet, meist französischsprachige Streitschriften (Verzeichnis: S. 344-411), zu denen sie allerdings auch die Papstbreven und -bullen rechnet (S. 399-400). Manche sprachliche Mängel und historische Ungenauigkeiten (S. 3: die Jesuiten seien durch die Bourbonenhöfe „säkularisiert“ worden; S. 215: „Despotismus des Ordensgenerals“; S. 216: „wahrhaft maßlosen Privileg Gregors XIV.“) können den positiven Gesamteindruck nicht trüben. Der Wert des Buches liegt vor allem im Aufzeigen der europäischen Vernetzung und Interdependenz in der Publizistik sowie in der exemplarischen Verdeutlichung des Politisierungsprozesses der Aufklärungsepoche.

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