S. Kuntz Ficker u.a. (Hrsg.): México y la economía atlántica

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Titel
México y la economía atlántica. Siglos XVIII-XX


Herausgeber
Kuntz Ficker, Sandra; Pietschmann, Horst
Erschienen
Anzahl Seiten
337 S.
Preis
$ 22.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Niels Wiecker, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Die Geschichte der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Mexiko und Deutschland stand im Zentrum eines 2003 in Mexiko veranstalteten Kolloquiums, aus dem der vorliegende Band hervorgegangen ist. Zwei Ziele verfolgen die Herausgeber Sandra Kuntz Ficker und Horst Pietschmann: Zum einen sollen nationale Perspektiven der Historiographie überwunden werden, zum anderen soll versucht werden, das Konzept der "Atlantic History" aus dem frühneuzeitlichen Kontext auf die Epoche der Nationalstaaten zu übertragen. Die deutsch-mexikanischen Beziehungen dienen somit als Beispiel für die atlantische Geschichte Mexikos.

Der Schwerpunkt des Bandes liegt auf dem Ende des 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert, einem Zeitraum, der unter der Herrschaft Porfirio Díaz' zunächst von wirtschaftlicher Stabilität gekennzeichnet war, bis durch die Wirtschaftskrise ab etwa 1907 und die mexikanische Revolution ökonomische und soziale Verwerfungen entstanden, die auch die Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland beeinflussten. Alle Beiträge sind in spanischer Sprache verfasst und enthalten ein jeweils eigenes Quellen- und Literaturverzeichnis.

Horst Pietschmann eröffnet den Band mit einem Aufriss aktueller Problemstellungen der atlantischen Geschichte und verknüpft eigene Quellenbefunde mit einer konzentrierten Auswahl aus dem immer umfangreicher werdenden Forschungsstand. 1 Anhand der Historiographie macht Pietschmann eine deutliche Vorreiterrolle Neu-Spaniens in den atlantischen Wirtschaftsbeziehungen Hispanoamerikas aus.

Johanna von Grafenstein untersucht die wirtschaftliche Bedeutung des karibischen Raums einschließlich des Golfs von Mexiko in der Wahrnehmung verschiedener spanischer Reformer des 18. Jahrhunderts. Mittels der Zusammenschau bekannter Texte von Uztáriz, B. Ulloa, Campillo y Cosío, Ward und Campomanes wird offenkundig, dass ihnen der karibische Raum als Schmuggelzentrum unter dem Einfluss ausländischer Mächte erschien – zum Nachteil des spanischen Kolonialhandels. Bessere Verteidigung, Belebung der Landwirtschaft und vor allem eine Reform der Handelspolitik sollten nach einhelliger Meinung der Reformer die spanische Position wieder stärken.

Nicht recht zum Thema des Bandes passt der Beitrag von Peer Schmidt über die Entstehung des frühen Konservatismus innerhalb des mexikanischen Klerus im Zeitalter der Unabhängigkeitskriege. Davon abgesehen erinnert Schmidt aber zu Recht daran, dass nur ein geringer Teil des Klerus den mexikanischen Unabhängigkeitskampf unterstützte, obwohl mit Morelos und Hidalgo zwei prominente Geistliche an seiner Spitze standen. Schmidt zeigt anhand von Predigten und Denkschriften, dass gerade durch die Ablehnung der revolutionären Vorgänge der Konservatismus deutlich vor 1830 im Klerus Fuß fassen konnte.

Zwei Artikel behandeln Mexikos Außenhandel. Walther L. Bernecker liefert einen knappen Abriss seiner Monographie von 1988 2, in dem er beschreibt, wie es Großbritannien nach der Unabhängigkeit Mexikos frühzeitig gelang, ein Handelsabkommen mit dem jungen Staat abzuschließen. In der Folge dominierten britische Handelshäuser den mexikanischen Außenhandel, bis sie sich auf andere Märkte konzentrierten und deutsche sowie später französische Händler an ihre Stelle traten. 3 Der Artikel offenbart – was dem Verfasser nicht anzulasten ist – den weitgehend veralteten Forschungsstand zum deutschen Atlantikhandel im 19. Jahrhundert. 4 Der Beitrag von Sandra Kuntz Ficker schließt sich chronologisch an und liefert einen neuen Blick auf Mexikos Handel mit seinen wichtigsten europäischen Partnern zwischen 1870 und 1913. Gestützt auf europäische Statistiken der Zeit weist sie eine stark zunehmende Diversifikation der Produktpalette nach, allerdings mit der Einschränkung, dass insbesondere die Exporte vermehrt in die U.S.A. gingen. Die Importe bedienten die Textilnachfrage Mexikos, hatten aber wenig Anteil am Industriegütermarkt, so dass Europa kaum von der mexikanischen Industrialisierung profitierte. 5

Gleich drei Mal ist das Bankwesen am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert Gegenstand von Untersuchungen. 6 Thomas Passananti legt dar, wie sich deutsche Banken ab 1888 als Kreditgeber des mexikanischen Staates etablierten und wie später Mexikos Finanzminister Limantour immer bessere Kreditkonditionen aushandeln konnte. Das Ergebnis sei ein Paradoxon gewesen: Entgegen der Forschungsmeinung habe die schwächere Administration der frühen Jahre mehr Verhandlungsspielraum gegenüber Geldgebern gehabt als die stärkere Regierung zur Zeit Limantours, die sich aufgrund ausländischen Drucks um Haushaltsdisziplin bemühen musste. Carlos Marichal und Paolo Riguzzi vergleichen den Markteintritt britischer, französischer und deutscher Banken in Mexiko zwischen 1864 und 1933. Jede der untersuchten Banken war erfolgreich gestartet, doch schaffte es keine dauerhaft, sich auf einer Spitzenposition zu etablieren. Luis Anaya Merchant zeigt anhand des Banco Mexicano de Comercio e Industria, der 1906 aus einer Filiale des Lateinamerikazweigs der Deutschen Bank (Deutsche Überseeische Bank) hervorging, wie schlechtes Management und widrige äußere Umstände die Bank innerhalb weniger Jahre trotz finanzstarker deutscher und U.S.-amerikanischer Partner in den Konkurs trieben. Die Aufsätze verdeutlichen, dass deutschsprachige Forschungen zum Lateinamerika-Engagement deutscher Banken um die Jahrhundertwende weiterhin ein Desiderat darstellen. Eine Übersetzung der Ergebnisse könnte also auch für die deutsche Bankengeschichte einen Gewinn bedeuten.

Die zwei abschließenden Beiträge beleuchten die Entwicklung ausländischer Unternehmen in Mexiko. Reinhard Liehr und Georg Leidenberger haben neues, umfangreiches Material zu Mexican Light and Power und Mexico Tramways zu Tage gefördert. Beide Firmen wurden als "free-standing companies" geführt, das heißt ihr Sitz befand sich im Ausland, hier Kanada, was den Zugang zu ausländischen Kapitalmärkten erleichterte, während die eigentliche Geschäftstätigkeit in Mexiko stattfand. Beide Firmen sahen sich wachsender staatlicher Einflussnahme und dem Widerstand der Gewerkschaften ausgesetzt und wurden schließlich nationalisiert. Dagegen besteht die 1865 von Deutschen in Mexiko gegründete Eisenwarenhandlung Böker bis heute. Jürgen Buchenau präsentiert zu diesem Phänomen einen Abschnitt seiner kürzlich erschienen Arbeit 7, der die ausgeprägte Anpassungsfähigkeit der "Casa Boker" in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts demonstriert.

Die Herausgeber charakterisieren ihr Anliegen als Experiment (S. 16). Man kann dies als durchaus geglückt betrachten, auch wenn einige der Beiträge keine neuen Ergebnisse bringen oder sich etwas abseits des Themas bewegen. In der Summe gelingt es, über den Forschungsstand hinaus die Komplexität der atlantischen Wirtschaftsbeziehungen Mexikos aufzuzeigen und die deutsche Beteiligung daran herauszustellen. Es ist dem Band zu wünschen, dass er hierzulande ein breites Publikum findet, denn er behandelt auch ein Stück deutscher Geschichte.

Anmerkungen:
1 Für einen umfangreichen Überblick zum Forschungsstand vgl. Pietschmann, Horst, Introduction, in: ders. (Hrsg.), Atlantic History. History of the Atlantic System 1580-1830, Göttingen 2002, S. 11-54.
2 Bernecker, Walther L., Die Handelskonquistadoren. Europäische Interessen und mexikanischer Staat im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1988.
3 Etwas verwirrend sind allerdings die Angaben zu den 1850er-Jahren: Die Zahlen der Gesamtimporte Mexikos (Tab. 3, S. 127) zeigen für die Jahre 1850-56 (weitere Jahre fehlen) Importe aus Frankreich mit deutlichem Vorsprung vor Großbritannien. Anhand der Importe nach Veracruz nennt Bernecker aber Großbritannien als wichtigsten Handelspartner (S. 130), jedoch fehlt hierfür der Beleg.
4 Vgl. eine der wenigen neueren Arbeiten: Weber, Klaus, Deutsche Kaufleute im Atlantikhandel 1680-1830. Unternehmen und Familien in Hamburg, Cádiz und Bordeaux (= Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Bd.12), München 2004.
5 Irrtümlich sind in Grafik 4b (S. 164) US-Dollar anstelle von Prozent ausgewiesen.
6 Deutschsprachige Referenz zu den deutsch-mexikanischen Beziehungen in dieser Zeit ist nach wie vor: Katz, Friedrich, Deutschland, Díaz und die mexikanische Revolution, Berlin 1964.
7 Buchenau, Jürgen, Tools of Progress. A German Merchant Family in Mexico City, 1865-present, Albuquerque 2004.

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