Cover
Titel
Evangelische Akademien im Nachkriegsdeutschland. Gesellschaftspolitisches Engagement in kirchlicher Öffentlichkeitsverantwortung


Autor(en)
Treidel, Rulf Jürgen
Reihe
Konfession und Gesellschaft 22
Erschienen
Stuttgart u.a. 2001: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
259 S.
Preis
€ 29,66
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Morten Reitmayer, FB III Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier

Das Buch stellt die gekürzte Fassung von Treidels 1997 an der Universität Hamburg eingereichten Dissertation dar, und nach seiner Lektüre stellt sich die Frage, ob den Kürzungen vielleicht derart viel Text zum Opfer gefallen sein könnte, dass komplexe Sachverhalte über Gebühr sprachlich vereinfacht worden sind.

Treidel untersucht die Arbeit ausgewählter Evangelischer Akademien in den eineinhalb Jahrzehnten zwischen Kriegsende und den beginnenden 60er Jahren. Damit geraten Prozesse und Wege der Zirkulation von Ideen im Nachkriegsdeutschland in den Blick, die bislang von der Forschung eher stiefmütterlich behandelt worden sind. Wer sich über die Diskussionen auf den Tagungen Evangelischer Akademien, bei denen hochrangige Politiker und Beamte, Unternehmer und Gewerkschafter, Intellektuelle und Kleriker miteinander debattierten und denen ein erheblicher Anteil an der Ausgestaltung der „Ideenlandschaft“ der Adenauerzeit zukam, informieren wollte, sah sich bisher auf das schmale und ebenso wie die Schrift von Thomas Luckmann 1 überholte Bändchen von Irmtraut Schmidt 2 sowie auf die kirchengeschichtlich angelegte Arbeit von Friedrich Martiny 3 und auf ein – teilweise auf Vorarbeiten von Treidel beruhenden – Kapitel des Buches von Axel Schildt 4 verwiesen. Daneben existieren nur die – selbst zum Quellenmaterial gewordenen – Selbstdarstellungen der Akademien und ihrer Protagonisten.

Treidel beschreibt zunächst den Aufbau der institutionellen Strukturen und die Rahmenbedingungen der Akademiearbeit, bevor er sich dem gesellschaftspolitischen Engagement, genauer den Diskussionen zur Sozial- und Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik – dieser Abschnitt macht den Hauptteil des Buches aus – sowie den Akademien als Ort des Gesprächs zwischen Kirche und Parteien zuwendet.

Auf institutioneller Ebene handelt es sich bei den Evangelischen Akademien nach 1945 um eine Neuentwicklung, auch wenn einige Ansätze bereits in die Zeit der Weimarer Republik zurückreichen. Ihr Zweck bestand – bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Akademien – darin, das „Gespräch zwischen Kirche und Welt“ (S. 31) zu führen, in dessen bisheriger Vernachlässigung die Gründer und Anführer der Akademie-Bewegung um den ehemaligen Studentenpfarrer, späteren Leiter der Evangelischen Akademie in Bad Boll und Vorsitzenden des Leiterkreises der Evangelischen Akademien in Deutschland ein entschiedenes Problem kirchlicher Arbeit ausgemacht hatten. Nicht ohne Konflikte etablierte sich die Arbeit der Akademien neben der traditionellen Gemeindearbeit.

Treidel vermittelt interessante Einblicke in die Finanzierung der Akademien. Diese waren zu Beginn der 50er Jahre zumindest formal unabhängig von den Landeskirchen, entwickelten sich im Lauf der Zeit jedoch immer mehr zu deren Einrichtungen, wobei Treidel die Bedeutung finanzieller Zuwendungen in diesem Prozess allerdings nicht weiter verfolgt. Bemerkenswert erscheinen hier vor allem drei Befunde: Erstens die hohen Summen, die einzelne Akademien (v.a. Hermannsburg/Loccum) als Spenden aus der Unternehmerschaft einwerben konnten, zweitens die starke Stellung der Akademie Bad Boll, die sich auch in ihrem alle anderen Häuser weit überragenden Budget niederschlug, und drittens die kontinuierlich hohen Bundeszuschüsse, die zwischen 1953 und 1962 rund ein Viertel der Einnahmen aller Akademien ausmachten.

Die an den Evangelischen Akademien stattfindenden Diskussionen zur bundesdeutschen Wirtschafts- und Sozialordnung verfolgt Treidel hauptsächlich entlang des unterschiedlichen Profils ausgewählter Akademien, daneben anhand besonders wichtiger Diskussionsthemen. Zunächst gibt er einen kurzen Überblick über die wichtigsten Problemkreise dieser Auseinandersetzungen, die hauptsächlich um die Konsequenzen der Montanmitbestimmung und des Betriebsverfassungsgesetzes sowie um das Konzept der Sozialpartnerschaft kreisten. Treidel macht dabei das Gedankengut des „Freiburger Bonhoeffer Kreises“ als Grundlage für das gesellschaftspolitische Engagement Evangelischer Akademien aus.

In den folgenden Kapiteln zeigt Treidel dann allerdings, dass die Vorstellungen über die Wirtschafts- und Sozialordnung Westdeutschlands in den einzelnen Akademien keineswegs derart einheitlich waren wie zunächst unterstellt, ohne diesen Widerspruch aufzuklären. Vor allem findet in diesen Kapiteln eine folgenschwere Verengung der Fragestellung statt. Den Ausgangspunkt von Treidels Arbeit bildet nämlich der Versuch, die „Aussagen und Stellungnahmen der Akteure aus Wirtschaft, Politik und Kirche“, die „die Akademien als Foren nutzten“, hinsichtlich „gemeinschaftliche(r) Denktraditionen“ zu untersuchen und die „Wechselwirkungen zwischen geistigen Traditionen im deutschen Protestantismus und gesellschaftspolitischen Entwicklungen“ herauszuarbeiten (S. 25).

Doch in seinen empirischen Analysen beschränkt sich Treidel – von wenigen Ausnahmen wie der Beschäftigung mit dem Präsidenten der Deutschen Kohlenbergau-Leitung, Heinrich Kost, der eine wichtige Brückenfunktion zwischen den Evangelischen Kirchen und der Ruhrunternehmerschaft einnahm, abgesehen – zu häufig darauf, zum jeweiligen Thema den Inhalt eines Briefes oder des Vortrags des betreffenden Akademieleiters, eventuell ergänzt um den Vortrag eines weiteren Akademiemitarbeiters, zu referieren. Diese Aussagen zur Wirtschafts- und Sozialordnung werden dann hinsichtlich der „Überlegenheit des Produktionsfaktors Kapital“ oder des „Produktionsfaktor(s) Arbeit“ bewertet (z.B. S. 161), wobei Treidel durchgehend die „Akzeptanz der Überlegenheit“ des ersteren feststellt. Dies scheint mir eine schwerwiegende Verkürzung darzustellen, denn zum einen suggeriert diese Alternative, dass sich die vielfältigen Positionen in den Auseinandersetzungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern während der Nachkriegszeit auf ein einfaches „Entweder-Oder“ reduzieren ließen, zum anderen bleibt bei einem solchen Urteil unberücksichtigt, dass die vielen, mehrheitlich nicht unmittelbar kirchengebundenen Referenten auf den Tagungen zur Wirtschafts- und Sozialordnung häufig Vorstellungen vertraten, die mit denjenigen der Akademieleiter und –mitarbeiter keineswegs übereinstimmten, was sich schon aus der Konzeption der Akademien als neutrale Foren der Diskussion ergab. Die Vielfältigkeit und Ambivalenz der hier zirkulierenden Positionen bleibt bei Treidels rigidem Bewertungsschema also auf der Strecke.

Im einzelnen beschreibt Treidel in seinem Hauptkapitel vor allem das sozialpolitische Engagement Eberhard Müllers an der Akademie Bad Boll, der sich vor allem um einen Ausgleich zwischen verhärteten Positionen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zur Mitbestimmung konzentrierte, sowie die Aktivitäten der sog. „Wirtschaftsgilde“, einem lockeren Zusammenschluss protestantischer württembergischer Unternehmer. Treidel argumentiert dabei überzeugend, dass diese institutionell wenig verfestigten Kontakte zur Unternehmerschaft es den evangelischen Kirchen ermöglichten, eigene Vorstellungen in die unternehmerischen Interessenverbände hineinzutragen, womit sich die im Vergleich zur katholischen Kirche auffallend geringe Zahl von amtlichen Stellungnahmen zu sozialökonomischen Problemen erklärt.

Einen etwas anderen Kurs als Bad Boll schlug die Akademie Hermannsburg/Loccum ein, die sich unter anderem auf Begegnungstagungen mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern konzentrierte, die in den Gesprächen an diesem neutralen Ort gegenseitig versuchten, Misstrauen und Spannungen abzubauen. Hermannsburg/Loccum ersetzte für viele Unternehmer aus dem Ruhrgebiet die zunächst fehlende Akademie im Rheinland oder in Westfalen und spielte daher für die Verbreitung von Ordnungsvorstellungen in den Raum der Unternehmerschaft hinein eine besonders wichtige Rolle.

Im Vergleich zur Darstellung dieser Auseinandersetzungen nehmen Treidels Ausführungen über Gespräche mit Parteipolitikern an den erwähnten Akademien nur wenig Raum ein. Die Unterschiede im Profil der einzelnen Akademien traten hier allerdings deutlicher zu Tage, etwa zwischen Bad Boll einerseits sowie Arnoldshain und Berlin andererseits.

So bleibt der Eindruck, den das Buch hinterlässt, zwiespältig. Treidel analysiert intellektuelle Debatten und Orte, deren Bedeutung für die Ideengeschichte der frühen Bundesrepublik gar nicht zu überschätzen ist; aber ob ihm diese Relevanz und die Möglichkeiten einer solchen Untersuchung wirklich deutlich geworden sind, lässt sich bezweifeln.

1 Thomas Luckmann: The Evangelical Academies in Germany, New York 1954.
2 Irmtraut Schmidt: Politische Bewusstseinsbildung in Evangelischen Akademien, Bonn 1969.
3 Friedrich Martiny: Die Evangelischen Akademien. Kirche zwischen Anpassung und Parteilichkeit, Frankfurt 1977.
4 Axel Schildt: Zwischen Abendland und Amerika, München 1999.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension