Titel
The Corruption of Angels. The great inquisition of 1245-1246


Autor(en)
Pegg, Mark Gregory
Erschienen
Oxford / Princeton 2001: Princeton University Press
Anzahl Seiten
X + 238 S
Preis
$ 35.00, £ 24.95, DM 82,93
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Feuchter, Institut für Geschichtswissenschaften der HU Berlin

In den Jahren 1245/46 führten zwei Bettelmönche in Toulouse eine Ketzerinquisition von unerhörtem Umfang durch. Die Bevölkerung ganzer Landstriche musste in die Stadt kommen und im Kloster St. Sernin vor Fragekommissionen treten. Von den Befragungen ist nur ein Bruchteil erhalten, doch dieses geschätzte Fünftel birgt allein rund fünfeinhalbtausend Verhörnotizen. Der Codex, der sie auf über 250 dicht beschriebenen Blättern überliefert, das Manuscrit 609 der Bibliothèque Municipale von Toulouse, ist in Fachkreisen bekannt und berühmt, aber weder ediert noch umfassend ausgewertet worden. Bis auf eine ältere Arbeit von Yves Dossat hat man die Handschrift bisher nur als ergiebigen Steinbruch für Einzelbelege genutzt. Mit umso größerer Spannung ist deshalb die Studie zum "Six-cent-neuf" erwartet worden, die Mark Pegg (St. Louis) nun vorlegt.

Die schönen Hoffnungen werden insofern erfüllt, als es sich um ein anregendes Buch mit Mut zu großen Thesen handelt, umfassend und polyglott in der Rezeption der Forschungsliteratur, dabei mit 130 Seiten angenehm knapp, durch 60 Seiten Anmerkungen aber auch dem Beleghungrigen Sättigung verheißend. Dennoch verfestigt sich bei der Lektüre mehr und mehr der Eindruck, dass das Potential der Quelle zugunsten übergestülpter Theorieanleihen verschenkt wird.

Das Buch enthält außer der Einteilung in 17 ganz ungleich lange Kapitel mit mehr aphoristischen als informativen Titeln keinerlei strukturelle Gliederung. Auch legt es an keiner Stelle sein Vorgehen dar. Im folgenden seien daher schlicht die nach Auswahl des Rezensenten wichtigsten Kapitel diskutiert. Da wäre zunächst ein Theoriekapitel (Nr. 3), das der negativen Abgrenzung von einem “intellectualist bias” (S. 15) dient, also geistesgeschichtlicher Betrachtungsweise von Häresie. Ein Vierteljahrhundert nach “Montaillou” ist dies freilich nur noch ein Kampf gegen Windmühlen.

Kapitel 5-10 bilden eine recht geschlossene Einheit, die sich mit Aspekten der Verhörpraxis auseinandersetzt. Kapitel 7 betrachtet dabei den Fragekatalog der beiden Inquisitoren. Er ist im Ms. 609, wie in südfranzösischen Inquisitionen der Zeit üblich, hauptsächlich auf die Ermittlung häretischen Verhaltens abgestellt. Doch auch wenn die persönlichen sozialen Kontakte des Verhörten mit der Häresie besonders interessierten, stehen am Ende jedes Verhörs auch Fragen nach dem Glauben, die bei Pegg jedoch zu kurz kommen. Umso besser kann er das soziale Fragen zur speziellen Häresiedefinition des Ms. 609 erklären, ja gar zur sozialen Neudefinition des Individuums der Inquisitoren (S. 50f).

Kapitel 9 thematisiert die Verschriftlichung der mündlichen Aussagen. Auch hier sind die meisten sachlichen Beobachtungen von Dossat entlehnt, es treten jedoch eigene Interpretationen Peggs hinzu, die nun bereits konkreter auf seine Thesen hinführen. So findet sich erstmals die Behauptung (S. 59), dass die Verhörten die Häretiker immer nur die “guten Männer/Frauen” genannt hätten und dass die gelegentliche Bezeichnung als “Häretiker” von den Schreibern stammte, mit einigen Ausnahmen, in denen Angeklagte die inquisitorische Nomenklatur bereits willig vorwegnahmen. Wie Pegg diese Fälle voneinander unterscheidet, ist allerdings nicht nachzuvollziehen.

Die folgenden fünf Kapitel (11-15) bringen nun endlich die große These des Buches, die sich so zusammenfassen lässt: Was die Inquisitoren des Ms. 609 verfolgten, habe mit dem in der Geschichts- und Religionswissenschaft als "Katharismus" bekannten Phänomen wenig zu tun und könne mit den von der Forschung konstruierten Begriffen kaum beschrieben werden. Vielmehr habe eine lokale Religion vorgelegen, die ohne übergreifende organisatorische Strukturen und klare Dogmen ausgekommen sei und stattdessen auf einer im engen dörflichen Rahmen konstituierten, nur situativ hervortretenden Heiligkeit beruht habe, die bestimmten Personen durch gemeinschaftliche Rituale zugewiesen und bestätigt worden sei.

Eingeführt wird das lokale Heilige zuerst auf S. 79. Eine Frau unterzieht sich vor ihrem Tod sowohl einer letzten Eucharistie wie dem häretischen Reinigungsritual des consolamentum (Geisttaufe). Diese Doppelung sei nicht unsinnig gewesen, denn für die Frau seien beide Rituale gleichermaßen “realizations of the holy” gewesen. Die einfachen Menschen im Lauragais hätten ständig die verschiedenen religiösen Angebote getestet (S. 79). Es sei ihnen dabei nicht auf Dogmen angekommen, sondern auf ein Ritual des Entkommens aus der Zeitlichkeit und dem mit ihr verbundenen Verfall, der sie beängstigt habe. Eine solche Angst ist allerdings weder an sich, geschweige denn als Motiv für den Zulauf zur Häresie, in einer Quelle belegt; sie muss deshalb vom Verfasser sprachlich mit gehörigem Aufwand an colores rhetorici heraufbeschworen werden: “The awful anxiety that shaped so much of village life, that sense of always being swamped by time, sight, and sound, was, quite clearly, reflected, reiterated, and reinforced in the growing, the rushing, and the decomposition of woods, streams, flowers, and animals.” (S. 81) Eine Seite weiter wird bereits der Höhepunkt in der Definition des zentralen Begriffes des Buches erreicht: “Holiness in such a world was, in a very generalized way, the ability of men or women to divorce themselves from such particular and collective relations as exemplified in food or sex, to become, in short, as socially blasé about the rhythms of a Lauragais village as God was about the tempo of the universe.” (S.82).

Im Kapitel 13 ist der Kern der Argumentation um das Heilige die bereits erwähnte Ansprache der Häretiker als “boni homines”. Dies sei mit “probi homines” gleichzusetzen, einem in Südfrankreich häufig auftretenden Ehrentitel. Mithin liege darin nur ein Zeichen des Respektes, nicht des Glaubens, wie auch die Verbeugung vor den Häretikern keine Glaubensdemonstration, sondern eine Höflichkeitskonvention gewesen seien. Dies aber führe mitten in das Verständnis von Heiligkeit im Ms. 609: “The holy was to be understood and embraced as something decidedly ordinary, as something accessible to any man or woman [...]”(S. 97). Die boni homines = probi homines-Gleichung steht allerdings auf wackligen Füßen, denn sie beruht, was nicht ausgesprochen wird, auf einigen vereinzelten “probi”-Belegen unter vielen tausenden “boni” in den Inquisitionsquellen. Ähnlich selten war umgekehrt ein “bonus homo” in den Urkunden der Region vertreten, so dass wohl eine klare Differenzierung der Benennung vorliegt.

Nun hört das Heilige nicht mehr auf, wie ein Echo durch den Text zu schallen, etwa durch die ausgemalte Schilderung eines gestörten katharischen Rituals. Bei einem sogenannten Aparellamentum geschieht ein Missgeschick. Eine Frau stürzt dabei, als sie ihre Verbeugungen vor den Häretikern machen will, und der darüber vor dem Inquisitor berichtende Mann erzählt, dass er und einige andere sich vor Lachen nicht halten konnten und den Raum verließen. Mehr steht nicht in der Quelle, aber man kann einiges daraus machen: “This amusing anecdote succinctly captures the serious excitement of the aparelhamen, the giddy tenseness felt by all participating in it, and the sheer physical movement, by one woman in particular, that was necessary to transform the visible world around some good men and their believers into a steady perceptible bubble of the invisibly holy.” (S. 99). Eine ethnologisch inspirierte Analyse durchbrochener Rituale wäre hier zumindest interessant zu lesen gewesen; Pegg beschränkt sich aber darauf, die “Anekdote” als Beleg zu nehmen für die generelle Passivität der Häretiker im Ritual. Denn schließlich überliefert der Zeuge uns doch keine Reaktion der Häretiker auf den komischen Vorfall.

Das 16. und vorletzte Kapitel beschäftigt sich mit den recht milden Strafen, die für die im Ms. 609 Verhörten überliefert sind. Die wichtigste Sanktion der Inquisitoren sei aber ohnehin die Stigmatisierung mit gelben Kreuzen und die Beeinflussung der Wahrnehmung durch den Befragungsprozess gewesen. Den Verhörten sei eine fremde, individualisierte Sicht auf ihr Leben und ihre Umwelt aufgezwungen worden - eine so wahre wie banale Feststellung, die oft wiederholt, aber leider nicht am geeigneten und naheliegenden Material vertieft wird, etwa anhand wiederholter Aussagen einer Person vor Inquisitoren.

Am Ende findet das Buch zu beschwörenden Worten: Nie werde man eine “Cathar church” aus der Quelle lesen können; vielmehr “an intimate, intensely local, and deliberately unadorned way of living with the holy will be discerned”. Da aber durch das Wirken der Inquisition die stete Konstruktion des Heiligen in Ritualen verhindert wurde, geriet das soziale Mörtelwerk (“mortise work”) der lokalen Kultur (“culture, that subtle carpentry of metaphor and matter”) ins Rutschen, Bedeutungen verschwanden aus dem Bewusstsein und mit ihnen langsam die gewöhnlichen Heiligen. Denn: “Societies really do forget as easily as they remember” (Zitate S. 130).

Dass “The corruption of angels” neben der noch leidlich rezenten Theorie der kulturellen Konstruktion im Wesentlichen bereits nicht mehr ganz taufrischen Trends verpflichtet ist, nämlich der Sicht mittelalterlicher Milieus durch die ethnologische Brille und dem foucaultischen Fokus auf die Macht der Internalisierung, erklärt zwar, warum es so heftig gegen den längst obsoleten “intellectualist bias” anschreibt, macht seinen Ansatz jedoch keineswegs von vornherein illegitim. Es ist vielmehr die argumentativ so wenig stringente Durchführung einer vorgefassten Hauptthese, die das Buch in der zweiten Hälfte zum Ärgernis werden lässt. Statt auf umfassend (etwa durch andere Inquisitionsquellen oder gar “normale” Quellen) kontextualisierte Belege setzt Pegg auf Selektivität, die Überwältigungskraft von Wortkaskaden und die Deduktion ethnologischer Theoriegemeinplätze. Es wäre geradezu ein “anthropologist bias” zu konstatieren, wenn man nicht von einem historischen Ethnologen erwarten dürfte, dass er zumindest das Wort für “Gaben” in der Quellensprache kennt (“encennia”) und es nicht mit “Weihrauch” (“incensum”) verwechselt (S. 116, Kapitel 15). Das ist leider kein Einzelfall. Wo die Arbeit nicht auf Befunden (v.a. Dossats und Walter L. Wakefields) anderer beruht, sondern selbständig ad fontes geht, da wimmelt es von Transkriptions- und drastischen Übersetzungsfehlern aus dem simplen Inquisitionslatein des gut lesbaren Ms. 609 (“nunquam”=”nothing”, Kap. 14, S. 106 m. Anm. 8).

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