D. Hein u.a. (Hrsg.): Festschrift Lothar Gall

Titel
Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse. Festschrift für Lothar Gall


Herausgeber
Hein, Dieter; Hildebrand, Klaus; Schulz, Andreas
Erschienen
München 2006: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
730 S.
Preis
€ 89,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gabriele Lingelbach, FB III - Geschichte, Universität Trier

Rezensenten, deren Aufgabe es ist, eine Festschrift zu besprechen, überfällt in der Regel eine gewisse Ratlosigkeit, wie diese Aufgabe zu bewältigen sei. Denn dieser Literaturgattung ist meist eine große thematische Disparität zu Eigen, ein gemeinsamer Nenner ist nur selten zu finden. Zudem ist es unmöglich, jeden einzelnen Beitrag angemessen und kompetent zu würdigen. Wie also beginnen?

Zunächst kann eine sachliche Beschreibung gegeben werden: In der hier zu rezensierenden Festschrift für Lothar Gall finden sich auf über 700 Seiten 52 Beiträge von einer Länge zwischen acht und etwas mehr als 20 Seiten. Der Sammelband beginnt mit einer kurzen Würdigung des zu Ehrenden durch die drei Herausgeber, enthält aber kein Publikationsverzeichnis und keine Vita Lothar Galls. Ebenso wenig erfährt der Leser etwas über die Hintergründe bzw. institutionellen Anbindungen der Laudatoren. In einigen Beiträgen kommt aber zum Ausdruck, dass hier vor allem Wegbegleiter und (frühere) Mitarbeiter Galls zu Worte kommen: Ehemalige Kollegen von der Universität Gießen, wie etwa Peter Stadler (Gall lehrte seit 1968 für wenige Jahre in Gießen), sind mit Beiträgen ebenso vertreten wie viele Dozenten der Universität Frankfurt (hier hatte Gall seit 1975 den Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte inne), unter ihnen Luise Schorn-Schütte, Manfred Clauss und Johannes Fried – um nur diese drei zu nennen. Mitarbeiter bzw. Mitstreiter der zahlreichen geschichtswissenschaftlichen Institutionen, die Lothar Gall initiiert oder geleitet hat, haben ebenfalls Beiträge geliefert: Von der Historischen Zeitschrift, deren Herausgeber Gall seit 1975 ist, finden sich die Redakteure Jürgen Müller und Eckhardt Treichel, außerdem mehrere Mitherausgeber wie Gerrit Walther oder Klaus Hildebrand. Von der Ausstellung ‚Fragen an die deutsche Geschichte’, die Lothar Gall in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren maßgeblich konzipiert und wissenschaftlich begleitet hat, ist Hermann Schäfer als Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung ‚Haus der Geschichte’ unter den Laudatoren. Rudolf Morsey wiederum hat einen Artikel über die Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien verfasst, in der er zusammen mit Gall Mitglied ist; Winfried Schulze steuerte einen Beitrag über die Nachkriegsentwicklung des deutschen Historikerverbandes bei, dessen Vorsitzender Gall von 1992 bis 1996 war. Außerdem stehen ehemalige Assistenten Galls auf der Liste der Beitragenden, ebenso einige seiner Doktoranden. Bemerkenswert ist, dass sich unter den 52 Autoren nur fünf Frauen finden.

Zwar enthält die Festschrift auch Aufsätze, die nicht direkt mit dem Lebenswerk und den Forschungsinteressen Galls in Verbindung stehen, doch kristallisieren sich in Hinblick auf die gesamte Festschrift einige Schwerpunkte heraus. Zunächst beschäftigen sich mehrere Artikel mit der Geschichte der historischen Disziplin als solcher und insbesondere mit der Entwicklung einzelner geschichtswissenschaftlich relevanter Institutionen, was auf das vielfältige Engagement Lothar Galls in den verschiedensten Organisationen unseres Faches zurückzuführen ist: Nur wenige Historiker haben die bundesrepublikanische Geschichtswissenschaft auch institutionell so geprägt wie er. Dies ist sicherlich bei der Historischen Zeitschrift der Fall, mit der sich zwei Beiträge des Bandes beschäftigen. Jürgen Müller setzt sich mit der Gründung der Historischen Zeitschrift durch Heinrich von Sybel auseinander, wobei er unter anderem das Spannungsfeld zwischen den Motiv- und Interessenlagen auf Seiten der kleinen Gruppe aktiv involvierter Historiker einerseits und denen der Verleger andererseits ausleuchtet. Gerhard A. Ritter wiederum untersucht auf der Basis intensiven Aktenstudiums die Verdrängung Friedrich Meineckes aus der Herausgeberschaft der Zeitschrift nach der nationalsozialistischen Machtübernahme und konstatiert, dass auch verlegerische Geschäftsinteressen hierbei eine wesentliche Rolle spielten.

Immer wieder stellen die institutionengeschichtlichen Beiträge die enge Verwobenheit der disziplinären mit der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung heraus und beweisen so, dass die Historiographiegeschichte ihre ideengeschichtliche Engführung hinter sich gelassen hat. Dies zeigt sich, wenn Winfried Schulze die Folgewirkungen des Nationalsozialismus und den Einfluss der internationalen Blockbildung auf die Genese des neu gegründeten deutschen Historikerverbandes in den Nachkriegsjahren untersucht oder wenn Rudolf Schieffer auf die Gründung der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften eingeht und die politischen Interessen rekonstruiert, die bei den Auseinandersetzungen etwa über die Finanzierung der Projekte der Kommission und der mit ihr konkurrierenden Monumenta Germaniae Historica zu Tage traten.

Eine weitere Gruppe von Aufsätzen ist in der Schnittmenge zwischen Historiographiegeschichte und einem wesentlichen Schwerpunkt im Werk Lothar Galls – der Historischen Biographik – angesiedelt. Der Leser findet beispielsweise eine Studie von Ulrich Muhlack über die Entwicklung des jungen Ranke, die sich quellenkritisch mit den autobiographischen Texten Rankes auseinandersetzt und dessen „Streben nach Selbstmonumentalisierung“ (S. 31) unterstreicht. Rudolf Morsey stellt die Person von Erich Matthias in das Zentrum seiner Analyse zur Genese der frühen Editionsprojekte der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, wobei er auf der Basis zahlreicher Archivalien unter anderem herausarbeitet, dass – auch zwischenmenschliche – Konflikte über den Zuschnitt der Arbeitsbereiche der Mitarbeiter, über die institutionelle Anbindung, die personelle Ausstattung, die konzeptionelle Ausrichtung usw. den Werdegang des Projekts wesentlich mitbestimmten. Hans-Werner Hahn wiederum porträtiert den Jenaer Historiker Adolf Wilhelm Schmidt und streicht an dessen Beispiel die enge Verbindung zwischen Geschichtswissenschaft und Politik im 19. Jahrhundert heraus. Auch Reflexionen über das Schreiben von Biographien enthält die Festschrift: So fragt beispielsweise Hans-Peter Schwarz nach den Erkenntnispotenzialen dieser historiographischen Gattung, indem er mehrere der großen Arbeiten Lothar Galls einer Analyse unterzieht.

Entsprechend der Anlage von Galls historiographischem Werk enthält die Festschrift auch bürgertumsgeschichtliche Untersuchungen. Zum Beispiel befasst sich Harold James mit der Heiratspolitik des Wirtschaftsbürgertums und führt diesbezügliche Veränderungen im späten 19. Jahrhundert auf Entwicklungen im Unternehmensrecht zurück. Dieter Hein wiederum konzentriert sich in seiner Analyse bürgerlicher politischer Identitätsbildung auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts und fragt nach dem jeweiligen relativen Gewicht städtischer, einzelstaatlicher und nationaler Orientierungen in diesem Zeitraum.

Über den Sinn oder Unsinn von Festschriften lässt sich trefflich streiten – festzuhalten bleibt, dass dieser Band besonders jenen, die sich mit der Entwicklung unseres Faches in Deutschland, seiner Standards und seiner Institutionen auseinandersetzen wollen, viele anregende Beiträge offeriert. Einige wenden sich meist recht quellennah, eher rekonstruierend-deskriptiv kleinteiligeren Phänomenen zu oder analysieren in Form von Überblicken die Entwicklung von Subdisziplinen oder Ansätzen (besonders lesenswert: Werner Plumpes Darstellung der bundesrepublikanischen Wirtschaftsgeschichtsschreibung). Andere wiederum widmen sich theoretischen oder methodologischen Reflexionen. Aber auch jene Leser, die sich für bürgerliches Mäzenatentum interessieren (Helmut Berding schreibt über die private Finanzierung des Gießener Theaters im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert) oder jene, die sich mit Phänomenen des öffentlichen Gedenkens beschäftigen wollen (Eberhard Kolb untersucht den Wandel des Stresemann-Bildes und die Versuche, die Erinnerung an ihn in politischen Auseinandersetzungen für die Absicherung bestimmter Positionen zu instrumentalisieren), können hier fündig werden. Den Band von vorne bis hinten durchzulesen ist wohl – wie bei fast allen Festschriften – kein sinnvolles Unterfangen. Das tun nur Rezensenten ... und hoffentlich die Geehrten.

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