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Titel
Arbeit - Macht - Markt. Industrieller Arbeitsmarkt 1900-1929. Deutschland und Italien im Vergleich


Autor(en)
Tilly, Stephanie
Reihe
Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 9
Erschienen
Berlin 2006: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
488 S.
Preis
€ 79,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elke Viebrock, University of Edinburgh

Stephanie Tilly vergleicht in der überarbeiteten Version ihrer Dissertation die Entwicklung des deutschen und italienischen industriellen Arbeitsmarktes vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Weltwirtschaftskrise. Sie untersucht die industriellen Arbeitsmärkte in beiden Untersuchungsländern „mit Blick auf ihre strukturellen und institutionellen Merkmale“ (S. 12). Dabei soll aufgezeigt werden, wie das Arbeitsmarktgeschehen „Aushandlungsprozesse um gesellschaftliche Machtfragen“ reflektiert (S. 13). Dieser Analyse liegt dabei die Theorie der so genannten „Neuen Institutionenökonomik“ zugrunde. Dieser eher unter seiner englischen Bezeichnung „New Institutionalism“ geläufige Ansatz ist seit den 1980er-Jahren in einer Vielzahl von Varianten in der sozialwissenschaftlichen Literatur verbreitet.1 Es handelt sich um einen losen Theorieansatz, der sensibler für die Erfassung zwischenstaatlicher Unterschiede ist als etwa marxistische oder neoklassische Theorien des Marktes. Mit seiner Hilfe können analytische Brücken zwischen Markt- und Gesellschaftstheorien gebaut werden, indem die Beziehungen zwischen Staat, Markt und Gesellschaft beleuchtet werden. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Rolle von Institutionen zur Regelung von strukturellen Konflikten. Der Institutionenbegriff ist breit definiert und umfasst das Gefüge von Regeln und Normen, das die menschliche Interaktion – im vorliegenden Beispiel begrenzt auf den Wirtschaftsprozess – ausgestaltet. Viele aus Sicht der neoklassischen Marktanalyse exogenen Konzepte wie Macht, Kultur und Tradition werden in die Analyse einbezogen, um die Existenz von Institutionen erklärbar zu machen. Denn, wie Tilly ausführt, „[...] der Arbeitsmarkt [ist] durch diverse nicht-marktliche Regulierungen geprägt, die das Marktgeschehen und das Verhalten der Akteure bestimmen“ (S. 24). Der Vielfalt von Vertragsbeziehungen auf dem Arbeitsmarkt entsprechend entfalten die Akteure „Strategien und Verhaltensmuster, die ihrerseits wieder mit dem Umfeld und den Regelsystemen in einer Wechselwirkung stehen“ (S. 27).

Nach der Logik des neuen Institutionalismus ist die Analyse der Entstehungsphase von Institutionen entscheidend, um spätere Entwicklungspfade verständlich zu machen. Somit erklärt sich auch die Auswahl des frühen 20. Jahrhunderts als Untersuchungszeitraum. In dieser Periode bildeten sich die industriellen Arbeitsmärkte und deren erste kollektive Regelsysteme heraus. Der Staat reifte zum maßgeblichen Akteur im Arbeitsmarktgeschehen neben Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen heran.

Vergleichende historische Arbeiten über Deutschland und Italien beziehen sich aus offensichtlichen Gründen zumeist auf den Faschismus. Ein deutsch-italienischer Vergleich der Arbeitsmärkte im genannten Zeitraum wirft allerdings aufgrund der unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung der beiden Staaten gewisse Bedenken auf. Tilly rechtfertigt ihre Fallauswahl mit den beiden Ländern gemeinsamen Problemlagen – Weltkrieg, Demobilmachung, Inflation und Stabilisierungskrise –, deren unterschiedliche Lösungsmuster sie zu kontrastieren versucht. Gerade strukturelle Unterschiede beider Länder könnten für die Entwicklung des Arbeitsmarktgeschehens aufschlussreich sein (S. 14).

Im Eingangskapitel erläutert Tilly die zugrunde liegenden theoretischen Annahmen der Neuen Institutionenökonomik und klärt wesentliche Begriffsbestimmungen. Es folgt eine detaillierte Beschreibung der demographischen, strukturellen und räumlichen Aspekte des deutschen und italienischen Arbeitsmarktes vor dem Ersten Weltkrieg – soweit es die dürftigen italienischen Statistiken für diesen Zeitraum zulassen. Zudem werden die institutionellen Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes in beiden Untersuchungsländern genauer beleuchtet. Als Fazit ergibt sich, dass das Industrieland Deutschland gegenüber dem Nachzügler Italien bereits am Vorabend des Ersten Weltkrieges relativ etablierte Arbeitsmarktstrukturen aufwies. Der italienische industrielle Arbeitsmarkt war hingegen regional und branchenspezifisch überaus fragmentiert und wies eine relativ hohe Durchlässigkeit zu landwirtschaftlichen Arbeitsmarktsegmenten auf. Dennoch konnte auch in Bezug auf die in Deutschland bereits schärfer konturierte Rolle des Staates noch nicht von systematischer Arbeitsmarktpolitik gesprochen werden. Die in beiden Ländern bestehenden arbeitsmarktbezogenen Regelsysteme konnten lediglich als rudimentär gelten.

Die nächsten beiden Kapitel widmen sich der Entwicklung der Arbeitsmärkte im Ersten Weltkrieg und der Nachkriegszeit bis 1929. Die strukturelle Konflikthaftigkeit der Arbeitsmarktverhältnisse wurde unter dem Eindruck der Kriegsbedingungen offensichtlich und ließ die Notwendigkeit politischer Regelung und einer aktiveren Rolle des Staates drastisch erkennen. Die zentralstaatlichen Steuerungsversuche des Arbeitsmarktes wurden jedoch in beiden Ländern unterschiedlich organisiert. Die deutsche Arbeitsmarktpolitik stand unter dem Vorzeichen des „Burgfriedens“ und der damit verbundenen Aufwertung der Gewerkschaften bei gleichzeitigem Verzicht auf Arbeitskämpfe. Dieser Kompromiss veränderte die Voraussetzungen für die Arbeitsmarktbeziehungen grundlegend. Die Arbeitsmarktpolitik war jedoch meist von improvisierten Maßnahmen geprägt und lavierte zwischen den Interessen der verschiedenen Akteure, ohne diese aber harmonisieren zu können. Dieser Kompromisscharakter lässt sich auch am Hilfsdienstgesetz von 1916 ablesen, welches aber dennoch einen qualitativen Transformationsprozess der Arbeitsmarktbeziehung in Gang setzte (S. 159). Die Institutionalisierung von Schlichtungsausschüssen vollzog die Kollektivierung der Arbeitsbeziehungen.

In Italien gab es kein vergleichbares Bündnis, das die innenpolitischen Konflikte während der Kriegsdauer zurückstellte und die Arbeiterschaft formal in die Kriegspolitik integrierte. Stattdessen galten für die Arbeiterschaft umfangreiche Zwangsbestimmungen, die die Marktmechanismen größtenteils ausschalteten. Die Kriegswirtschaft wurde unter einen staatlichen Lenkungsapparat gestellt. Derartige Zwangsmaßnahmen, die auch von Teilen der deutschen Industrie favorisiert wurden, stießen jedoch bald an ihre Grenzen, so dass im Kriegsverlauf eine Annäherung der beiden Arbeitsmarktpolitiken stattfand. So wurden hier wie dort sozialpolitische Zugeständnisse gemacht, Arbeitsämter und Ministerialbehörden zu zentralen öffentlichen Trägern von Arbeitsverwaltung und Arbeitsmarktpolitik ausgebaut, und paritätische Gremien zur Konfliktregulierung gestärkt.

Bereits während des Krieges erhielten also in beiden Ländern korporatistische Praktiken des Interessenausgleichs wichtige Impulse. Diese wurden nach Kriegsende durch das organisatorische Wachstum der Interessenverbände sowie die Ausdehnung des staatlichen Interventionsapparates gestärkt. In Deutschland scheiterten jedoch die Konzertierungsbemühungen durch die Zentralarbeitsgemeinschaft bereits Mitte der 1920er-Jahre an unüberbrückbaren Gegensätzen und einer durch den schwindenden Verteilungsspielraum nach der Währungsstabilisation bedingten Konfliktverschärfung. Stattdessen griff man verstärkt auf das Instrumentarium der Zwangsschlichtung zurück. Die staatlichen Instanzen erlitten als Schlichter zwischen verhärteten Fronten unweigerlich Legitimationsverluste, die später zum Scheitern der Republik beitrugen sollten. In Italien trat das Element des obrigkeitsstaatlichen Zwanges nach Mussolinis Regierungsübernahme offen zu Tage, indem ein autoritärer Korporatismus institutionalisiert wurde, der eine freie Gewerkschaftsbewegung unterband. Tilly stellt trotz der unterschiedlichen Lösungsstrategien für die Arbeitsmarktkrise in beiden Ländern ähnliche Ergebnisse fest (S. 427).

Interessante Einblicke gewährt Tillys Vergleich, wenn Akteure des jeweiligen nationalen Arbeitsmarktes von Erfahrungen anderer Staaten lernen wollten, wie dies zum Beispiel Italien aufgrund des fast ein Jahr später stattfindenden Kriegseintrittes versuchte. Tilly verweist auch auf das Vorbild weiter industrialisierter Nationen bezüglich des Organisationsverhaltens oder möglicher Kampftaktiken der Arbeiterschaft (S. 109). Leider bleibt diese Erweiterung der Perspektive beschränkt, da sie selten über die beiden Untersuchungsländer hinausgeht.

Tillys durchweg gut lesbare Arbeit stützt sich auf eine breite Literaturbasis, die durch eigene Quellenstudien in ausgewählten deutschen und italienischen Unternehmensarchiven ergänzt wird. Es handelt sich um eine gelungene systematische Überblicksdarstellung, die den neuesten Forschungsstand kompetent zusammenfasst. Für das deutsche Fallbeispiel liefert sie allerdings kaum neue Erkenntnisse. Dies überrascht wenig angesichts der Breite an Studien hierzulande, die sich mit allgemeinen Themen industrieller Erwerbsarbeit beschäftigen – man denke nur an die zahlreichen Arbeiten zur Gewerkschaftsgeschichte – und auch angesichts des relativ gut erforschten speziellen Themengebietes der historischen Arbeitsmarktforschung.2 Die industrielle und damit sozial- und arbeitsmarktpolitische Rückständigkeit Italiens, von regionalen Ausnahmen insbesondere im Norden des Landes abgesehen, ist ebenso wenig neu. Dennoch offenbarten sich in einigen Arbeitsmarktsegmenten interessante Parallelen bezüglich der institutionellen Arrangements, die später auf eine breitere nationale Basis gestellt wurden. Eine Verkürzung der Betrachtung auf die relative Rückständigkeit Italiens würde zu kurz greifen, wie Tilly zu Recht anmerkt. Insgesamt ist es ein unbestreitbarer Verdienst Tillys, den Forschungsstand zur Arbeitsmarktgeschichte Italiens für die deutschsprachige Leserschaft prägnant zusammenzufassen.

Anmerkungen:
1 Einen guten Überblick über die verschiedenen Spielarten des neuen Institutionalismus bieten: Hall, Peter A.; Taylor, Rosemary C. R., Political Science and the Three New Institutionalisms, in: Political Studies 44 (1996), S. 936-957.
2 So liegen bereits einschlägige Arbeiten zu den Themengebieten Arbeitsvermittlung und Arbeitslosigkeit im Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik vor, siehe z.B.: Faust, Anselm, Arbeitsmarktpolitik im Deutschen Kaiserreich. Arbeitsvermittlung, Arbeitsbeschaffung und Arbeitslosenunterstützung 1890-1918, Stuttgart 1986; Führer, Karl-Christian, Arbeitslosigkeit und die Entstehung der Arbeitslosenversicherung in Deutschland, Berlin 1990; Lewek, Peter, Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenversicherung in der Weimarer Republik, Stuttgart 1992.