M. Friedrich: Kirche 19. Jahrhundert

Titel
Kirche im gesellschaftlichen Umbruch. Das 19. Jahrhundert


Autor(en)
Friedrich, Martin
Reihe
Zugänge zur Kirchengeschichte 8
Erschienen
Göttingen 2006: UTB
Anzahl Seiten
293 S.
Preis
€ 13,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim Schmiedl, Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar

Das „lange“ 19. Jahrhundert ist Thema des vorliegenden Studienbuchs, das in knapper und präziser Übersicht die wesentlichen Aspekte der Geschichte der beiden großen christlichen Konfessionen Europas nachzeichnet. Der evangelische Kirchenhistoriker Martin Friedrich, zur Zeit in Diensten der Leuenberger Kirchengemeinschaft in Wien tätig, legt ein um konfessionelle Ausgeglichenheit bemühtes Werk zur Kirchengeschichte zwischen der Französischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg vor. Er konzentriert sich dabei auf West- und Mitteleuropa, was unter anderem den Verzicht auf die für das 19. Jahrhundert ebenfalls prägende Missionsgeschichte zur Folge hat. Inhaltlich behandelt Friedrich politische, kulturelle und soziale Herausforderungen für die Kirchen, wobei er sich auf die evangelischen und die katholische Kirche beschränkt und die Entwicklungen innerhalb der Orthodoxie außer acht lässt.

Als „fundamentale Herausforderung“ (S. 15-30) bewertet Friedrich die Französische Revolution, der das Eingangskapitel gewidmet ist. Auffallend in diesem auf die wesentlichen Ereignisse und Entwicklungen konzentrierten Abschnitt ist die Terminologie. So verwundert die Verwendung von „Kirchenkampf“, sonst eher für die evangelische Kirche im Nationalsozialismus verwendet, für die Verfolgung der Priester in der ersten Phase der Revolution, ebenso wie die zeitliche Konzentration der Dechristianisierung auf die Zeit nach 1791, entgegen der schon vor Jahrzehnten von Michel Vovelle herausgearbeiteten „déchristianisation“ als Voraussetzung für die Bewegung und Ideen von 1791.

Die „politischen Herausforderungen“ (S. 31-138) nehmen den größten Teil des Buches ein. Friedrich geht chronologisch vor, um die unterschiedlichen rechtlichen Bedingungen für die Entfaltung kirchlichen Lebens darzustellen. Die Periodenabgrenzungen sind dabei der politischen Geschichte entnommen, wobei gerade für die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts wie in allen Darstellungen dieser Epoche die zeitlich differierenden Zentralereignisse der napoleonischen Herrschaft und der davon abhängigen Entwicklungen in der Endphase des Heiligen Römischen Reiches in Deckung zu bringen sind. Überraschen mag, dass in einem aus evangelischer kirchenhistorischer Perspektive geschriebenen Werk zumeist die Entwicklungen innerhalb der katholischen Kirche die Leitmotive vorgeben. Aus Sicht des Protestantismus erscheint das 19. Jahrhundert als eine Verlustgeschichte. Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg muss Friedrich konstatieren, dass „der größere Teil des Katholizismus und ein kleiner Teil des Protestantismus seinen Frieden mit der Republik machen“ konnte, „weil das symbiotische Verhältnis von Nation, Staat und Kirche [...] am Ende war – und noch kein neues Modell sich abzeichnete“ (S. 137f.).

Eine andere Betrachtungsweise schlägt Friedrich bei den „kulturellen Herausforderungen“ (S. 139-223) ein. Dieses Kapitel ist von den Entwicklungen im Protestantismus umrahmt. Aufklärung, Schleiermacher und Hegel am Beginn, Kulturprotestantismus, Gemeinschafts- und Pfingstbewegung am Ende des Untersuchungszeitraums stehen für die kulturelle Meinungsführerschaft des Protestantismus, der von Seiten des Katholizismus in erster Linie der romantische Aufbruch und eine integralistisch-konfessionalistische Verengung bis zur modernistischen Krise gegenübergestellt werden. Wenn in der gegenwärtigen protestantischen Kirchengeschichtsschreibung das 19. Jahrhundert als Epoche der „Kirchenbildung“ diskutiert wird, so klingt diese These bei Friedrich immer wieder durch. Er beurteilt die Notwendigkeit eines solchen Konfessionalismus aber auch auf dem Hintergrund einer wachsenden Infragestellung des christlichen Glaubens überhaupt. Das 19. Jahrhundert war eben nicht nur die Zeit der Erweckungsbewegung, sondern auch der Religions- und Kirchenkritik, der theologischen Pluralisierung und beginnenden historisch-kritischen Bibelexegese.

Im letzten Kapitel nimmt Friedrich die „sozialen Herausforderungen“ (S. 224-277) in den Blick. Auch hier geht er in erster Linie von den Entwicklungen im Protestantismus aus. Die Reaktionen auf die soziale Frage nahmen im Lauf des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Gestalt an. Konkrete Initiativen, wie sie etwa von Wichern und Löhe unternommen wurden, stehen neben den Bewegungen der Inneren Mission und des christlichen Sozialismus. Tragfähige programmatische Positionsbestimmungen zur sozialen Frage finden sich in beiden Konfessionen erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

Friedrich hat ein Werk vorgelegt, das sich gut in die Überblicksdarstellungen zur Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts einfügt, die in der Auswahlliteraturliste am Ende alle genannt sind. Es eignet sich als Studienbuch für Studierende der Theologie aus beiden Konfessionen, aber auch für Historiker/innen, die sich schnell und zuverlässig über die Entwicklungen in der Geschichte der Kirche im 19. Jahrhundert informieren wollen. Dazu tragen auch die in den Text eingefügten Quellenzitate bei. Insgesamt erfüllt Friedrichs Überblick alle Anforderungen an ein Studienbuch zur Kirchengeschichte, zeigt im Sinne der Reihe „Zugänge zur Kirchengeschichte“ auf, macht aber auch deutlich, wie sehr gerade im 19. Jahrhundert Religion und Konfession die gesellschaftliche Entwicklung beeinflusst und geprägt haben.