R. vom Bruch: Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften

Cover
Titel
Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaft und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Björn Hofmeister und Hans-Christoph Liess


Autor(en)
vom Bruch, Rüdiger
Erschienen
Stuttgart 2006: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
430 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas König, Graduiertenzentrum der Fakultät für Sozialwissenschaften, Universität Wien

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die zweite Aufsatzsammlung des Berliner Wissenschaftshistorikers Rüdiger vom Bruch im Franz Steiner Verlag. Der Autor ist ein ausgewiesener Experte der Geschichte des späten deutschen Kaiserreichs; seine Forschung zur wilhelminischen Kultur und insbesondere zur politischen Kultur, war maßgeblich für einen differenzierteren Blick auf deren Modernisierungspotential.1 Der Titel des vorliegenden Bandes ist freilich für jene, die damit weniger vertraut sind, etwas irreführend. Im Mittelpunkt der insgesamt 21 Aufsätze stehen auch hier vor allem die Jahre zwischen 1890 und 1918; nur wenige Beiträge behandeln Aspekte der vorausgehenden bzw. nachfolgenden Epochen der deutschen Universitätsgeschichte. Vom Bruch interessiert sich in diesem Zusammenhang vor allem für die „vielen Eigenschaften“ (S. 11) der Universitätsprofessoren und geht unter verschiedensten Blickwinkeln auf „die Widersprüchlichkeiten einer akademischen Elite“ (S. 12) ein.

Die versammelten Aufsätze, in verschiedenen Zeitschriften und Sammelbänden zwischen 1980 und 2006 publiziert, sind in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt behandelt vom Bruch „Politische Öffentlichkeit und Gelehrtenpolitik im Kaiserreich“. Seit Fritz Ringers Buch über die „deutschen Mandarine“2 ist die besondere Rolle der Universitätsprofessoren im deutschen Kaiserreich Gegenstand vielfältiger Betrachtungen geworden.3 Vom Bruch verwendet hier den Begriff der „Gelehrtenpolitik“, um Stellung, Bewusstsein und (nicht zuletzt selbst auferlegte) Handlungsmöglichkeiten sowie -beschränkungen dieser „Funktionselite“ (S. 46), die zugleich eine „Wertelite“ (S. 47) war, aufzuzeigen.

Dabei schälten sich zwei neue Leitdisziplinen heraus, zum einen die Geschichtswissenschaft und zum anderen die Nationalökonomie. Aus diesen beiden Disziplinen stammen nicht nur die wichtigsten „Gelehrtenpolitiker“ mit ihren spezifisch „gouvernementalen“ Positionen – wobei unter „gouvernemental“ die spezifisch zeitgenössische Verwendung dieses Begriffs zu verstehen ist, also „ein Dreiecksverhältnis zwischen Regierung, Wissenschaft und Öffentlichkeit, in dem der Wissenschaft eine beratende Funktion gegenüber der Regierung und ein erzieherisch-aufklärerischer Auftrag gegenüber der Öffentlichkeit zukam“ (S. 133). Größtenteils von hier werden auch die maßgeblichen Initiativen zu einer wissenschaftlich-objektiven Untermauerung der deutschen Kultur (Karl Lamprecht), der konservativen Sozialreform (Adolph Wagner, Gustav Schmoller) und der Wissenschaftspolitik (Adolf von Harnack, Max Weber) lanciert, um nur einige der politischen Themenfelder und ihre zentralen Akteure zu nennen, auf die vom Bruch in einzelnen Artikeln vor allem im zweiten Teil des Bandes („Professoren und akademische Diskurse“) eingeht.

„Historische Sozialwissenschaft“ nannte im Jahr 1916 Werner Sombart, was vom Bruch bei allen sozialwissenschaftlich gesinnten „Gelehrten“ aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland zu finden meint, nämlich den Versuch, „in sozialwissenschaftlicher Perspektive eine Einheit der historischen Kulturwissenschaften zu bewahren und neu zu gestalten“ (S. 321) – folgerichtig behandelt der dritte Abschnitt des Buches die „universitäre Professionalisierung der Staats- und Sozialwissenschaft“. Hier findet sich auch der zentrale Aufsatz über die „Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin“, einer von mehreren Gelehrtenkreisen des Kaiserreichs, der ganz bewusst die Professoren mit Vertretern der hohen Staats- und Verwaltungsbürokratie zusammenspannte. Vom Bruch zeigt anhand seiner Untersuchung zu dieser Gesellschaft detailliert auf, wie den Gelehrten „einzigartige Voraussetzungen für klärende Diskussionen mit evidenter politischer Relevanz“ ermöglicht wurde (S. 360). In „dieser Gesinnungsgemeinschaft von Gelehrten, Experten und Gestaltern“ (S. 184) war den Professoren eine Einflussnahme gestattet, die „mit der eindeutigen Verlagerung politischer Entscheidungsprozesse in Parlamente und Parteien während der Weimarer Republik“ (S. 360) endete.

Vom Bruch hat den Untersuchungszeitraum aus sehr verschiedenen Perspektiven ausgeleuchtet und dabei einige bemerkenswerte Ergebnisse zutage gebracht. Seine Stärke liegt zweifellos in der Analyse einzelner Gelehrter und ihrer politischen Aktivitäten. Hervorzuheben sind insbesondere „Max Webers Kritik am ‚System Althoff’“, wo vom Bruch in der universitätspolitischen „Scharniersituation um 1900“ bereits den „Abschied von Humboldt“ diagnostiziert (S. 221), des Weiteren die luzide Analyse der „nicht unbedenklichen Gratwanderung“ (S. 88) Adolf von Harnacks in seiner Einflussnahme auf Kaiser Wilhelm II. sowie die Untersuchung von Karl Lamprechts „Anliegen einer kollektivpsychologisch verankerten […] Kulturstufentheorie in vergleichender Absicht“ (S. 268).

Wenn es allerdings um die Analyse von kollektiven Bedeutungsstrukturen und um wissenschaftstheoretische Erklärungen geht, bleibt zuweilen ein Fragezeichen stehen. So bietet der Artikel „Zur Historisierung der Staatswissenschaften“ in Hinblick auf die vom Autor selbst aufgeworfene Frage, „um was für eine Wissenschaft es sich dabei überhaupt handelte“ (S. 300), keine befriedigende Antwort, vielleicht, weil vom Bruch darauf verzichtet, die mit diesem Disziplinenbündel verknüpften Inhalte und ihre Funktionalität herauszuarbeiten. An anderen Stellen würde man sich zumindest eine etwas genauere Ausführung wünschen. So wird etwa in dem Beitrag zu Gustav Schmollers wissenschaftlichem Denken angekündigt, dessen „Wirkungswillen“ anhand einer „Ende Juni 1914 für Generalstabsoffiziere verfasste[n] Abhandlung“ (S. 329) zu analysieren – diese fehlt dann aber. Analog dazu wäre auch für wenige andere Aufsätze wünschenswert, dass auf die Originalwerke der behandelten Gelehrten eingegangen oder zumindest verwiesen würde. Besonders schmerzhaft fällt dies an einzelnen Stellen in „Historiker und Nationalökonomen im Wilhelminischen Deutschland“ (S. 60f.) auf.

Es liegt in der Natur der Sache, dass sich in einer Aufsatzsammlung bestimmte Zitate, Argumente und Gedankengänge wiederholen, aber auch aus jeweils unterschiedlichen Fragestellungen ausgelotet werden. Für Spezialisten im Feld bietet es einen zusätzlichen Anreiz, die bislang weit verstreuten Texte und teilweise bislang eher an Seitenrändern geparkten Beiträge vom Bruchs versammelt vorzufinden. Der Band eignet sich unter anderem aus diesem Grund freilich weniger als Einstieg in die Thematik.

Anmerkungen:
1 Pohl, Karl Heinrich, Rezension zu: Rüdiger vom Bruch / Hans-Christoph Liess (Hrsg.), Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2005,. In: H-Soz-u-Kult, 29.03.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-1-208>.
2 Ringer, Fritz, The Decline of the German Mandarins. The German Academic Community 1890–1933, Cambridge/Mass. 1969.
3 Schwabe, Klaus (Hrsg.), Deutsche Hochschullehrer als Elite 1815-1945, Boppard 1988.

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