J. Smele u.a. (Hrsg.): The Russian Revolution

Cover
Titel
The Russian Revolution of 1905. Centenary perspectives


Herausgeber
Smele, Jonathan D.; Heywood, Anthony
Reihe
Routledge Studies in Modern European History 9
Erschienen
London 2005: Routledge
Anzahl Seiten
284
Preis
€ 134,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Gumb, SFB "Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel. Interkulturelle und intertemporäre Vergleiche", Humboldt-Universität zu Berlin

Die Revolution von 1905 war vor allem eines: chaotisch. In den Konflikten, die ab dem Jahre 1904 im russischen Zarenreich endgültig eskalierten, kam das Imperium in seiner ganzen Vielfalt und Unübersichtlichkeit zum Vorschein. Die Ereignisse dieser Jahre waren eben nicht nur, wie uns Historiker jahrzehntelang und aus den unterschiedlichsten Motiven weismachen wollten und wollen, die Leninsche „Generalprobe für 1917“, bei der sich politische Bewegungen (die „Arbeiterbewegung“) untereinander und mit der Autokratie stritten. Von den Bewohnern des Vielvölkerreichs wurde sie vielmehr als Raubüberfall, als Bombenanschlag auf Militär- und Polizeiposten, als das Brandschatzen von Gutshöfen, Meuterei von Soldaten, nächtliche Messerstecherei, als ethnisch motivierte Gewalt und Pogrom erfahren. Auch handelten die Mitglieder der politischen Bewegungen wohl kaum in dem Bewusstsein, dass es erst zwölf Jahre später so richtig losgehen würde (S. 3). Es kann „1905“ nur verstehen, wer erkennt, dass es sich hier um mehrere, teilweise miteinander vernetzte, aber auch voneinander unabhängige, parallel ablaufende Revolutionen mit, nun ja: oftmals äußerst unklaren Zielvorstellungen handelte.

Der vorliegende Sammelband trägt dem Rechnung. Bei aller Kritik, die an den Beiträgen im Einzelnen geübt werden kann: Von Terrorismus (Geifman) über die Armee (Airapetov) bis zum Pogrom (Hamm), von der russischen Provinz (Williams, Schedewie) bis zur multiethnischen Peripherie des Zarenreichs (White, Kujala, Noack), von politischen Parteien und Bewegungen (Heywood, Galai) bis hin zu einzelnen Persönlichkeiten (Read, Thatcher) behandeln sie die Revolution in thematischer Breite. Es wird hier sogar die russische Revolution im britischen Tyneside untersucht (Saunders) – das dürfte sicher ein Novum sein.

„1905“ stand vor allem im Zeichen der Gewalt. Und diese sollte, so Anna Geifman in ihrem Beitrag, verstärkt psychohistorisch gedeutet werden. Denn die Ursachen für die Gewalt, die von Terroristen ausgeübt wurde, sieht sie nicht in objektiven Faktoren. Geifman sieht sie in den Köpfen und Seelen der Täter. Unter Bezug auf Theorien der Psychologie beschreibt sie, wie im Zuge der „Großen Reformen“ der 1860er-Jahre und dem damit verbundenen Aufbrechen traditionaler Lebenswelten in Russland etwas entstehen konnte, das sie „border generation“ (S. 19) nennt: Kohorten entwurzelter Menschen, zwischen Stadt und Dorfgemeinschaft stehend, mit Hass auf ihre Umwelt, fasziniert von neuen Lebensentwürfen, emotional und moralisch aus der Bahn geworfen, zerstörerisch und selbstzerstörerisch zugleich. Geifman zitiert den Schriftsteller Andrej Belys: Diese Menschen waren „halbzerstört“ („polurasruschennye“) (S. 19).

Eine der Bedingungen für die Gewaltexzesse war jedoch auch der Zusammenbruch des staatlichen Gewaltmonopols: Gewalt eskalierte vor allem dort, wo man dies zuließ. Michael F. Hamm beschreibt am Beispiel der ukrainischen Stadt Charkow (heute: Charkiw), wie eine Allianz aus organisierten Eisenbahnarbeitern, sozialistischen Milizen, jüdischen Selbstverteidigungsgruppen, aber auch einzelnen Repräsentanten der Stadtverwaltung das staatliche Gewaltmonopol übernahm und so einen drohenden antisemitischen Pogrom verhinderte.

Beryl Williams räumt einmal mehr mit dem Mythos von der von Parteien gemachten Revolution auf. In ihrem Forschungsüberblick zur Revolution in der russischen Provinz kann sie zeigen, wie sich Forderungen, die lokalen Bedürfnissen entsprungen waren, mit solchen von allgemeiner, abstrakter Natur („Wir sind auch Menschen!“) verbinden konnten. Vor allem aber unterstreicht sie die Rolle lokaler Persönlichkeiten: Sie, und nicht etwa zentral organisierte Parteien, trieben die Revolution voran.

Dieses Bild kann Franziska Schedewie in ihrem Beitrag über den Kreis Ostrogoschski in der Provinz Woronesch verfeinern. Auf Grundlage von bäuerlichen Bittschriften argumentiert sie, dass die Bauern, die Kontakt zur Außenwelt hatten und revolutionärer Propaganda ausgesetzt waren, überwiegend friedlich geblieben seien. Gutshäuser brannten dort, wo die Reformen der 1860er Verlierer zurückgelassen hatten, die von lokalen Gutsherren abhängig waren (S. 148).

Die Beiträge zur multiethnischen Peripherie haben, bei allen lokalen Unterschieden, eines gemeinsam: Sie sehen in der imperialen Politik gegenüber lokalen Gesellschaften den entscheidenden Faktor. Im Falle der Kazaner Tartaren argumentiert Noack etwa, handelte es sich gar um „retrospectively revolting“: Während der Revolution selbst hätten sie sich, so Noack, friedlich verhalten. Erst die zarischen Behörden hätten die muslimische Revolution ab 1907, also post factum, gemacht – die Mär von „revolutionären“, später auch „pan-islamischen“ Umtrieben der Tartaren hätte eine radikale Bewegung der Muslime erst entstehen lassen. Ähnlich die Beiträge zum Baltikum und zu Finnland: Auch hier habe das repressive Auftreten der russischen Gouverneure zum Entstehen von nationalen Unabhängigkeitsbewegungen geführt, die zwar 1905-1907 keinen Erfolg, 1917 dann aber schon eine andere Wirkung gehabt hätten.

Einen Akteur von „1905“, der an Bedeutung wohl kaum zu überbieten ist, hat sich Oleg Airapetov vorgenommen: die Armee. Er nimmt einen ihrer Offiziere, General Michail Wassilewitsch Aleksejew, als Sonde, um zweierlei zu beschreiben: zum einen die chaotischen Zustände in der Mandschurei im Gefolge der russischen Rückzüge und der Ströme rückkehrender Gefangener. Zum anderen sei, so Airapetov, Aleksejews Verhalten, der im März 1917 dem letzten russischen Zaren den Rückzug nahelegte, nur vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen im Jahre 1905 zu verstehen. Wenn 1905 also eine „Generalprobe“ gewesen sein soll, so Airapetovs These, dann eben nicht nur für die revolutionäre Bewegung (S. 114).

Anthony Heywood und Shmuel Galai bestätigen noch einmal die These, dass die Parteien mit ihrer Revolution scheiterten, weil sich Liberale und Sozialdemokraten nicht einigen konnten. Statt noch einmal die verschiedenen Resolutionen und Anträge der Parteien durchzuarbeiten, wäre allerdings gerade hier eine Herangehensweise sinnvoll gewesen, die einmal die unterschiedlichen kulturellen Kontexte berücksichtigt hätte, aus welchen die politischen Akteure kamen und in denen sie handelten.1

Wann wurde Lenin geboren? Entgegen der bisherigen Forschungsmeinung, so Christopher Read in seinem Aufsatz, war dies erst um 1905 der Fall: Hier wurde aus dem Schriftsteller und Journalisten Wladimir Uljanow der Bolschewik Lenin – dessen Ansichten zum „bewaffneten Aufstand“ von 1905 aber, so Read, bestenfalls als naiv zu bezeichnen seien (S. 238). Ähnliches kann auch, folgt man Ian D. Thatcher, über Leo Trotzki gesagt werden: Denn, der Trotzki, „that so impresses audiences to this day […] was a product auf 1905“ (S. 257). Vor allem aber war er das Produkt seiner eigenen Selbststilisierung, so möchte man mit Thatcher hinzufügen, um sogleich zu fragen: Gibt es tatsächlich noch jemanden, der dies bezweifelt?

Der Band endet mit David Saunders höchst originellem Beitrag zur „1905 Revolution on Tyneside“. Saunders zeigt anhand der Reaktionen lokaler Politiker und Parteien – die von Ignoranz bis zum Schmuggeln von Waffen nach Russland reichten – wie der „mid-Victorian consensus“, der die britische Gesellschaft zusammengehalten haben soll, bröckelte. Die These des Autors, das ideologische Spektrum in Großbritannien zu Beginn des 20. Jahrhunderts entspräche demjenigen Russlands, ist jedoch fragwürdig.

Mehr als einhundert Jahre sind vergangen seit der russischen Revolution von 1905. Ihre Neuinterpretation im Lichte neuer Forschungsergebnisse und Fragestellungen ist längst überfällig. „The Russian Revolution of 1905. Centenary Perspectives“ kann hierzu einige gangbare Pfade aufzeigen.

Anmerkungen:
1 Was für das Zarenreich unter anderem fehlt, ist eine Geschichte der politischen Bewegungen, die einen Zugang wählt, wie ihn: Mergel, T., Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf, 2002 für die Weimarer Republik aufgezeigt hat.

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