M. Gamper u.a. (Hrsg.): Kollektive Gespenster

Cover
Titel
Kollektive Gespenster. Die Masse, der Zeitgeist und andere unfassbare Körper


Herausgeber
Gamper, Michael; Schnyder, Peter
Erschienen
Freiburg 2006: Rombach
Anzahl Seiten
405 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Natalia Stüdemann, Internationales Graduiertenkolleg „InterArt/ Interart Studies“, Freie Universität Berlin

Spätestens seit Jacques Derridas Buch „Marx’ Gespenster“ spuken die Gespenster auch jenseits von Parapsychologie, literarischer Phantastik und Schlagwörtern wie Okkultismus oder Spiritismus durch die kulturwissenschaftliche Forschungslandschaft. 1 Während der interdisziplinäre und internationale Blätterwald eindeutig der bevorzugte Ort der wissenschaftlichen Heimsuchung ist, scheiden sich über die Spukart die Geister. Dass dieses Gespenstertreiben weniger einer Unstimmigkeit unter Geistern zuzuschreiben ist, als vielmehr den unterschiedlichen wissenschaftlichen Beschwörungs- und Bannungsversuchen, macht der jüngste Gespenstersammelband „Kollektive Gespenster. Die Masse, der Zeitgeist und andere unfaßbare Körper“ deutlich.

Denn im Gegensatz zu der vorletzten Sammelpublikation „Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien“, die noch Gespensterzählerei zu Gunsten einer Phänomenologie der Gespenster und ihrer Repräsentationsformen betrieb 2, spart der vorliegende Band dies aus. Wer sich schon auf das ein oder andere, aus Literatur oder Film bekannte Gespenst gefreut hat, wird enttäuscht werden. Gespenster sind hier dienstbare Geister: Sie fungieren als Sammelmetapher für eine grundsätzliche Undarstellbarkeit des Sozialen seit dem 18. Jahrhundert. Eine Herangehensweise, mit der die Herausgeber Michael Gamper und Peter Schnyder einen neuen Akzent in der aktuellen Gespensterforschung setzen. Denn nicht eine Neubeleuchtung alt bekannter Gespenster im Lichte des Politischen, wie sie für den berühmt-berüchtigten „Gespensterhoffmann“ vorgenommen wurde, ist Ziel des Unternehmens. 3 Im Gegenteil: Der Sammelband vertritt die These, dass mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert das Politische und das Soziale „gespenstisch“ werden.

These und Band sind aus einer Tagung an der Universität Zürich im Oktober 2004 hervorgegangen, auf der vorwiegend Vorträge namhafter Vertreter einer interdisziplinär versierten Literaturwissenschaft, aber auch der Theaterwissenschaft, Philosophie und Geschichtswissenschaft zu hören waren. Nun im Namen der Gespenster zusammengefasst, sollen sie einen Beitrag zu einer Literatur- und Theoriegeschichte des politischen beziehungsweise sozialen Imaginären leisten. Im Anschluss an Jean-Luc Nancys und Claude Leforts Überlegungen zu einer „Undarstellbarkeit der Gesellschaft“ und Niklas Luhmanns Gesellschaftsbegriff, sollen in den einzelnen Beiträgen die kollektiven Verfahren in den Blick genommen werden, die Gesellschaft genuin prägen. Dafür machen die Herausgeber in ihrer Einleitung einen Begriff des Sozialen stark, für den das „In-Form-Setzen“ von Gesellschaft im Mittelpunkt steht und wonach Gesellschaft die Möglichkeit ihrer Repräsentierbarkeit einbüßt – ganz gleich ob in Orten, Personen, Diskursen, Institutionen oder Symbolen (S. 8). Das Gespenst als Metapher für jene Vorstellung von Gesellschaft entlehnen sie Georg Forsters Text „Parisische Umrisse“ (1793) – einem Text, der ihnen in seiner unentwirrbaren Verschränkung von rationalen und imaginären Aspekten paradigmatisch erscheint für die zeitgenössischen Darstellungsversuche der modernen sozialen Wirklichkeit (S. 13f). Speziell Forsters Gespenstermetapher gelänge es, „die ungesicherte Seinsweise der sozialen Mächte und Aggregate“ und die Tatsache zum Ausdruck zu bringen, dass sich „die disparaten Dinge, wie ihre Bildspender, letztlich jeder konzeptuellen Vereinheitlichung entziehen, sie weder praktisch noch diskursiv in den Griff zu bekommen sind“ (S. 12). Wenn nun in den weiteren Beiträgen das Gespenst metaphorisch aufgegriffen wird, dann nicht allein um diese, alle Wissensformen übergreifende Darstellungsproblematik zu thematisieren, sondern auch um damit im Anschluss an eine „Poetologie des Wissens“ über die poetischen und rhetorischen Strukturen von Wissens(an)ordnungen zu reflektieren. 4

Formal bewegen sich die sechzehn, kulturwissenschaftlich interessierten Einzeluntersuchungen meist auf der semantischen Ebene und bedienen sich literaturwissenschaftlicher Methoden. Der historische Schwerpunkt liegt, mit wenigen Ausnahmen, auf dem ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. Angeordnet sind die Beiträge in drei Themenblöcken, die mit den Gegensatzpaaren „Entkörperung/ Verkörperung“, „Figuration/ Defiguration“ und „Regulierung/ Deregulierung“ betitelt sind und eine „Ordnung der Gespenster“ (S. 22) bilden sollen: Denn erst innerhalb dieser terminologischen Spannungsfelder würden die unfassbaren sozialen Zwischenwesen an analytischer Tiefenschärfe gewinnen (S. 22).

Den ersten Abschnitt „Entkörperung/ Verkörperung“ eröffnet Albrecht Koschorke mit einer Untersuchung über die gleichzeitige De- und Inkorporation von Macht im Zuge des Konstitutionalismus und der Gewaltenteilung im 18. Jahrhundert. Anhand einer ideen- und rezeptionsgeschichtlichen Lektüre von Montesquieus „Geist der Gesetze“ (1748) verhandelt er hierbei die These, dass das neue Verhältnis zwischen körperlosem Gesetz und dem Körper des Mächtigen im politischen Denken paradoxe Konzepte von unfassbaren Körpern und Geisterwesen wie Herders „Volksgeist“ hervorbringt. Auch Stefan Andriopoulos greift die neuen politischen Geistwesen auf, wenn er mit Kant die Teilhabe aller an einer „geistigen Republik“ (S. 56) thematisiert. Doch weniger darin liegt seine Forschungsleistung begründet, als vielmehr in einer Vorgeschichte zur zeitgenössischen Gespenstertheorie: Mit seiner mediengeschichtlich informierten Zusammenschau von Immanuel Kants „Träume eines Geistersehers“ (1766) und seiner kritischen Moralphilosophie gelingt ihm der Nachweis, dass Kant im Begriff der „Erscheinung“ eine scheinbar marginale Debatte über Geistererscheinungen fortschreibt und dabei eine implizite Medientheorie formuliert, die es erlaubt, zwischen der Wirklichkeit von Bildern und der realen Präsenz der von diesen Bildern vorgestellten, aber unfassbaren Körper zu unterscheiden. Das Ineinandergreifen von Ent- und Verkörperung für den Bereich der Unterhaltungskultur untersucht Ethel Matala de Mazza in ihrem Beitrag über das Massenphänomen der „Zerstreuung“ und begibt sich dafür in Bewegungsräume wie den Ball oder das Fest. Klaus Müller-Wille erzählt ausgehend von Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ eine kleine dänische Krisengeschichte politischer Selbstrepräsentation. Und Jörg Wiesel nimmt die Piraten als eine Krisenfigur der politischen Moderne um 1800 und 1900 in den Blick.

Aufbauend darauf fragt der Themenblock „Figuration/Defiguration“, ob unter diesen Auflösungserscheinungen die alten politischen Formationen auseinander fallen oder sich wieder Gebilde mit erkennbaren Formen bilden. Den Auftakt macht Jürgen Link mit einer grundlegenden und im Bezug auf die gespenstische Qualität sozialer Wirklichkeit zentralen Frage – der Frage nach Normalität. Die Zwecklosigkeit, nach den Gesetzmäßigkeiten menschlichen Handelns zu fragen, führt Joseph Vogl in seinem Aufsatz über die „Soziale Fassungslosigkeit“ vor. In dem scheinbar nie versiegenden Verlangen, den Dingen trotz aller Grundlosigkeit auf den Grund zu gehen, diagnostiziert er mit Edgar Allan Poe einen „Geist der Perversion“ (S. 171). Jene Versuche, das unfassbare Subjekt der Gesellschaft trotzdem in Roman, Geschichtsdarstellung, Diagramm und statistischer Tabelle zur Erscheinung zu bringen, behandeln die Beiträge von Peter Schnyder und Michael Gamper. Sie kommen dabei zu dem wichtigen Schluss, dass durch diese veranschaulichende Sammlung, Strukturierung und Operationalisierung der chaotischen Einzeldaten die jeweiligen kollektiven Gespenster nicht nur dargestellt, sondern überhaupt erst produziert werden.

Das letzte Kapitel „Regulierung/Deregulierung“ widmet sich einem der maßgeblichen organisierenden Prinzipien solcher gesellschaftlicher Figurationen: dem Zeitgeist. Als „Hüter des Konsens“ und grundlegend paradoxem Konzept ist ihm Ralf Konsermann in einer begriffsgeschichtlichen Skizze auf der Spur. Ulrich Stadler nimmt sich der Zeitgeisterbeschwörung unter deutschen Autoren um 1800 an, bevor in den nächsten drei Beiträgen künstlerische Bannungsversuche des Zeitgeists abgehandelt werden. Während Christine Weder den Zeitgeist in der unzeitgemäßen Form des Trivialgedichts aufspürt, suchen ihn Hans-Georg von Arburg und Heinz Brüggemann dort, wo er seinen vornehmlichen Ausdruck finden sollte: in der Architektur. Den verschiedenen Zeitgeistern ein Ende setzt Inge Baxmanns Text über den „Zeitplus“, wie ihn Ludwig Klages um 1900 als „Bewegungsrhythmus der unterirdischen Kollektivkräfte“ und als überzeitlichen und dionysischen Widersacher des Zeitgeists entwarf. Sein innovatives und produktives Potential für zeitgenössische kulturwissenschaftliche Theoriediskussionen führt zum Abschluß Andrea Krauß in einer dekonstruktivistischen und diskursanalytischen Relektüre von Stephen Greenblatts Zirkulationsbegriff vor.

Doch es sind weniger diese einzelnen, fundierten und anregenden Beschwörungsversuche, die den Sammelband als solchen auszeichnen: Seine Stärke liegt vielmehr im konzeptionellen Rahmen und der dazugehörigen Rahmenerzählung. Diese werden in der sehr empfehlenswerten Einleitung entwickelt und am anschaulichsten in den Beiträgen der beiden Herausgeber aufgegriffen. Daneben sind es die Artikel von Albrecht Koschorke, Joseph Vogl und Ralf Konsermann, die in der Struktur des Sammelbandes Leben entfalten. Während Jürgen Links Artikel von seinem Vorleben als Monografie profitiert, ist den Beträgen von Andrea Krauß und Ethel Matala de Mazza ein Weiterleben in anderen Forschungszusammenhängen zu wünschen. Letzterer wäre gerade im Kontext der Festforschung oder der sich zwischen Geschichts- und Tanzwissenschaft entspinnenden „bewegten Geschichte“ besonders lesenswert. Auf ein monografisches Nachleben können sich die Leser von Stefan Andriopoulos’ Artikel freuen. Den gesetzten Rahmen des Sammelbandes droht er leider zu sprengen. Angesichts seiner für die Gespensterthematik grundlegenden Erkenntnisse wäre es vielleicht sinnvoller gewesen, ihn in Ergänzung zur Einleitung dem Sammelband voranzustellen, anstatt ihn unter die übergeordnete Fragestellung zu subsumieren. Auf diese Weise hätten die Herausgeber nicht nur den Hintergrund ihrer innovativen Fragestellung deutlicher herausgestellt, sondern auch die zeithistorischen, philosophisch-ästhetischen Ursprünge der Gespenstermetapher freigelegt.

1 Derrida, Jacques, Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt am Main 1994.
2 Vgl. die Beiträge in: Baßler, Moritz; Gruber, Bettina; Wagner-Egelhaaf, Martina (Hrsg.), Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien, Würzburg 2005.
3 Vgl. Triebel, Odila, Staatsgespenster. Fiktionen des Politischen bei E.T.A. Hoffmann, Köln 2003.
4 Vogl, Joseph (Hrsg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension