D. van Melis u.a. (Hrsg.): "Republikflucht"

Cover
Titel
"Republikflucht". Flucht und Abwanderung aus der SBZ/DDR 1945 bis 1961


Herausgeber
van Melis, Damian; Bispinck, Henrik
Erschienen
München 2006: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
276 S.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Wenzke, Militärgeschichtliches Forschungsamt

Sie wurden von den Herrschenden in der DDR als Verbrecher, Verräter, Kriminelle und Saboteure abgestempelt, denen man angeblich keine Träne nachweinte. Die Rede ist von den "Republikflüchtigen", die vor dem Mauerbau jährlich zu Hunderttausenden den "besseren" deutschen Staat in Richtung Westen verließen. Nicht weniger als drei Millionen Ostdeutsche hatten von 1945 bis 1961 letztlich "mit den Füßen" abgestimmt und mit ihrem Weggang der staatlichen Obrigkeit in der SBZ/DDR den Gehorsam verweigert.

Wie reagierten die staatlichen Behörden und die SED-Funktionäre auf diesen Exodus und vor allem, wie versuchten sie, die Ursachen und Motive der Fluchtbewegung zu erklären und in ihr Weltbild einzupassen? Wer sich zu dieser Thematik recht kompakt, zugleich aber auch differenziert informieren will, der sollte das hier vorzustellende Buch in seine engere Wahl ziehen. Aufbauend auf einem relativ breiten Forschungsstand untersuchen und dokumentieren die Herausgeber Damian van Melis und Henrik Bispinck, die sich bereits unter anderem durch Arbeiten zur Entnazifizierung in Mecklenburg bzw. über die Flucht- und Ausreisebewegung einen Namen machen konnten, die "Wechselwirkung zwischen deutsch-deutscher Fluchtbewegung und der Politik der SED zur Umgestaltung der Gesellschaft der SBZ bzw. DDR zwischen Kriegsende und Mauerbau"(S. 12). Mit einem politik- und sozialgeschichtlichen Ansatz fragen sie nach den Ursachen der Flucht- und Abwanderungsbewegung, ihrer Wahrnehmung durch die politische Führung und die staatlichen Organe der DDR sowie nach den politischen Maßnahmen, die zu ihrer Verhinderung unternommen wurden.

Wie diffizil die wissenschaftliche Bearbeitung dieser Thematik noch heute ist, erweist sich schon beim Finden einer adäquaten Begrifflichkeit: "Sowjetzonenflüchtlinge", "illegale (Zonen)-Grenzgänger", "Republikflüchtlinge" waren im Westen lange Zeit gängige Bezeichnungen; "Republikflucht", "Republikflüchtige", "illegale Abwanderung" und "illegales Verlassen" entstammen dagegen dem offiziellen DDR-Wortschatz. Auch van Melis und Bispinck können letztlich keinen umfassenden Begriff für das Phänomen von Ab- und Auswanderung, Flucht und Übersiedlung bieten, verweisen jedoch darauf, dass nur ein "differenzierter und stets selbstkritischer Sprachgebrauch"(S. 16) der komplexen historischen Situation annähernd gerecht wird. In der Studie finden daher solche Termini wie Ab- und Auswanderer oder Flüchtlinge ebenso Verwendung wie der DDR-Terminus "Republikflucht" – letzterer jedoch, anders als im Buchtitel, zumeist ohne Anführungszeichen.

Nach einer kurzen Bestandsaufnahme geht es im ersten Kapitel des von Damian van Melis verfassten mehr als hundertseitigen Einleitungstextes um die Vor- oder Frühgeschichte der "Republikflucht" bis 1952. In dieser Zeit war die Abwanderungsbewegung in den Westen zwar quantitativ und in ihren sozialen Auswirkungen nicht weniger bedeutsam als später, aber offenbar noch kein Thema der offiziellen Politik und der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Diese "unbeachtete Auswanderung" zeichnete sich unter anderem dadurch aus, dass viele Menschen die SBZ aufgrund unmittelbarer Kriegsfolgen verließen und Angehörige der alten Eliten von der Besatzungsmacht und den deutschen Kommunisten regelrecht vertrieben bzw. durch Repressionsmaßnahmen und -drohungen indirekt zum Weggang animiert wurden. Van Melis arbeitet heraus, dass die politisch Verantwortlichen in der DDR die Abwanderung nach Westdeutschland zumindest in den 1940er-Jahren nicht wirklich systematisch wahrnahmen, sondern sie höchstens im Kontext der "notwendigen" gesellschaftlichen Umgestaltungen thematisierten. Erst Anfang der 1950er-Jahre änderte sich diese Sichtweise, als man in Ost-Berlin begann, nunmehr "neben dem politischen Prestigeverlust auch die gesellschaftliche Brisanz des Massenexodus"(S. 122) zu erkennen.

In dem sich anschließenden Kapitel beleuchtet van Melis Maßnahmen und Initiativen von Regierung und SED gegen die sogenannte Republikflucht. Er zeigt, wie das verfassungsmäßige Recht zur Auswanderung nach und nach durch Gesetze und Verordnungen eingeschränkt wurde und ein System von "Zuckerbrot und Peitsche" zum Einsatz kam, um die Fluchtbewegung einzudämmen. Tatsächlich gelang es der SED in der Folge des "Neuen Kurses" ab Mitte 1953, einen spürbaren Rückgang der Fluchtzahlen zu erreichen. Der taktische Charakter dieser zeitweisen Liberalisierung wurde jedoch schon bald sichtbar und die Fluchtzahlen erhöhten sich wieder. Die DDR verlor immer mehr junge und hochqualifizierte Arbeitskräfte. Allein im Jahr 1956 gingen über 270.000 Menschen im arbeitsfähigen Alter in den Westen, darunter 170 Wissenschaftler und Forscher, 2.822 Ingenieure, Techniker und Chemiker sowie 671 Ärzte. Auch die weitere Kriminalisierung sowie die verstärkte Überwachung, Beobachtung, Kontrolle und Repression seitens der Behörden, der Polizei und der Staatssicherheit konnten die Fluchtbewegung in Richtung Westdeutschland und West-Berlin in den folgenden Jahren nicht nennenswert einschränken. Erst der Mauerbau 1961 stoppte den Massenexodus der Menschen aus dem Osten in den Westteil Deutschlands.

Das letzte Kapitel des einführenden Begleittextes zur Dokumentation behandelt ausführlich Ursachen, Umstände und zum Teil auch die Folgen der "Republikflucht" in ihrer Wahrnehmung durch die Behörden und Funktionäre von Staat und Partei. Es wendet sich damit im besonderen Maße der "Perspektive der DDR-Gesellschaft" zu, die bislang kaum in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen genommen wurde. Der Leser erfährt, wie sich Staats- und SED-Funktionäre in offiziellen Berichten über die Fluchtmotive äußerten bzw. diese einschätzten. Die meisten dieser Berichte spiegeln nicht nur die Unzufriedenheit in der DDR über die Arbeitsbedingungen und den Lebensstandard, sondern erlauben mitunter auch einen tieferen Einblick in die Berufswelt und den privaten Alltag der DDR-Bürger. Die Analyse von Damian van Melis zeigt, dass die Erklärungen für die Fluchtbewegung, die die Staats- und Parteifunktionäre immer wieder fast gebetsmühlenhaft anboten, ein Synonym für die Unfähigkeit im Umgang mit eigenen Fehlern und Problemen darstellten. "Entweder individualisierten sie die Verantwortung, indem sie einzelne Verwaltungsmitarbeiter und ihre angeblich zu bürokratische Arbeitsweise für Fehlentwicklungen, Überspitzungen und Unzufriedenheiten verantwortlich erklärten, oder sie externalisierten die Verantwortung unter dem Stichwort der ‚Abwerbung’"(S. 127).

Natürlich konnten die beiden Herausgeber bei ihrer sehr konzentrierten Sicht auf 16 Jahre "Republikflucht" nicht alle Aspekte von Flucht und Abwanderung gleichermaßen detailliert behandeln. So finden Fragen der Grenzsicherung kaum Erwähnung, ebenso wenig wird dem Zusammenhang zwischen der zunehmenden gesellschaftlichen Militarisierung in der DDR und der Flucht von Jugendlichen nachgegangen. Obwohl auch das Problem der Westabwanderung nicht im Mittelpunkt des Interesses der Herausgeber stand, erhält man dazu doch einige interessante Informationen. So sei es Anfang der 1950er-Jahre "noch relativ selbstverständlich"(S. 25) gewesen, dass auch junge und hoch qualifizierte Menschen aus dem Westen in die DDR übersiedelten. Später waren unter den Zuziehenden und Rückkehrern eher Menschen mit niedrigem Qualifikationsniveau. Immerhin gingen in den Jahren von 1949 bis 1961 etwa 600.000 Menschen von West nach Ost, die jedoch im Ulbricht-Staat keinesfalls immer mit offenen Armen empfangen wurden.

Der von Hendrik Bispinck sachkundig zusammengestellte ausführliche Dokumentenanhang, der dem Textteil folgt, bietet die Möglichkeit, einige Aspekte der Darstellung zu vertiefen und zu ergänzen. Abgedruckt sind 47 zumeist bisher unveröffentlichte Dokumente unterschiedlichster Provinienz sowie drei Tabellen und zwei Grafiken. Im Dokumententeil findet der Leser neben Angaben über Zu- und Abwanderungszahlen unter anderem Auszüge aus Gesetzestexten, offizielle Berichte, Schreiben und Protokolle von Behörden und der SED, aber auch private Briefe.

Alles in allem ist es den beiden Herausgebern dieser Sondernummer der Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte überzeugend gelungen, das Thema "Republikflucht" für die Zeit bis 1961 kompakt darzustellen und mit einer informativen Dokumentenauswahl zu verbinden.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension