Titel
Europa. Geographie, Geschichte, Wirtschaft, Politik


Autor(en)
Lichtenberger, Elisabeth
Erschienen
Darmstadt 2005: Primus Verlag
Anzahl Seiten
360 S., 7 s/w, 219 farb. Abb., 28 Tab.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Nichts weniger als schlüssige Antworten auf so epochale Fragen wie „Was ist Europa?“ (S. 11), gar „Quo vadis, Europa?“ (S. 317) hat sich die Wiener Geografin Erika Lichtenberger mit einem im Alleingang verfassten Handbuch zum Ziel gesteckt, das „‚Europa als Ganzes’ zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ porträtieren möchte (S. 9). Dabei nimmt sie ihre Berufsbezeichnung – also „Weltbeschreiberin“ – insofern ernst, als sie ihrer enzyklopädischen Abhandlung eine gewaltige thematische, disziplinäre, chronologische und regionale Spannweite zugrunde legt. Und gleichfalls in Strabos Fußstapfen tritt sie in methodischer Hinsicht, nähert sie sich doch ihren Untersuchungsgegenständen nicht nur anhand von Buch, Bild und Karte, sondern zugleich mittels Feldforschung und Inaugenscheinnahme vor Ort. Das Ergebnis ist, soviel vorweg, eindrücklich.

Im ersten der zehn Kapitel des Buches, überschrieben mit „Was war und was ist Europa?“, gibt Lichtenberger konzise Überblicke über geografische, historisch-politische und institutionelle Europamodelle. Von besonderem Interesse ist ihre Karte „Die Verschiebung der Ostgrenze Europas in der Neuzeit“, die einmal mehr den Konstruktionscharakter solcher Grenzziehungen belegt. Eine Kartenserie zu „Geographischen Grenzen und Gliederungen Europas im 20. Jahrhundert“ demonstriert dann den zunehmenden Einfluss sicherheitspolitischer Konstellationen auf europäische Identitäts- und Alteritätsdiskurse. Mitunter schießt die Autorin dabei interpretatorisch über ihr Ziel hinaus: Ob etwa die unterschiedliche Art der Darstellung von Bauern in der modernen Kunst, hier exemplifiziert an Gemälden von Kazimir Malevič und Albin Egger-Lienz, tatsächlich etwas über die Grenze zwischen Europa und der außereuropäischen Welt aussagt, mag bei aller Originalität des Gedankens dahingestellt bleiben. Die Kernthese des Kapitels ist diejenige einer „Sonderstellung des modernen Europa in der westlichen Welt“. Die Argumentation dabei ist viel stärker historisch als geografisch, indem auf Prozesse wie die Entstehung von Feudalstaat, Papsttum, Aufklärung, kolonialer Expansion, Nationalstaat, Kapitalismus, Kommunismus, Demokratie, Sozialstaat, ökologischem Denken und Europäischer Union abgehoben wird. Entsprechend ist das Lichtenbergersche Europa „der Kontinent, dem es in der Neuzeit gelungen ist, globale Innovationen zu verwirklichen“.

Kapitel 2 über „Natur und Gesellschaft“ ist insofern irreführend betitelt, als hier die Natur dominiert und die Gesellschaft lediglich als ein Faktor unter mehreren figuriert, welche die naturräumlichen Spezifika im Europa der Gegenwart bestimmen. Kapitel 3, „Der historische Sonderweg Europas“, führt von den Stadtstaaten der Antike zur Industrialisierung und legt den Schwerpunkt auf „die Siedlungstriade des mittelalterlichen Europa – Städte, ländliche Räume und Burgen“. Es enthält einen interessanten Abschnitt über „Das Erbe der orientalischen Kultur in Europa“, womit die temporär islamisch geprägten Teile der Iberischen wie der Balkanhalbinsel gemeint sind. Gleichfalls historisch ist Kapitel 4, „Vom Experiment der Teilung zum Projekt Europa“, das die Umbrüche des 20. Jahrhunderts sowie die Entstehung von Europäischer Gemeinschaft und EU beleuchtet, wohingegen Kapitel 5, „Die Europäer und der soziale Wohlfahrtsstaat“ erneut einen unpassenden Titel trägt, da es hier primär um Sprachen, Demografie und Migration und lediglich am Schluss um den Sozialstaat geht. Diffus sind dabei die Angaben zu den europäischen Sprachen- und Minderheitenrechtsstandards. Unverkennbar auf heimischem Terrain bewegt sich die Verfasserin hingegen in den Kapiteln 6 „Die europäische Stadt“ – mit ausgezeichneten Fotografien illustriert –, 7 „Das ländliche Europa und die Agrarwirtschaft“, ebenfalls höchst informativ bebildert, 8 „Europäische Wirtschaft und Verkehr“ und 9 „Die europäische Freizeitgesellschaft“.

Das ebenso meinungsfreudige wie im Kern normative Kapitel 10, „Quo vadis, Europa?“, schließlich schrumpft in einer Zwischenüberschrift auf die Frage „Quo vadis, Europäische Union?“, was dann doch etwas ganz anderes ist – zumindest in der Perspektive von derzeit ca. 200 Millionen Europäer/innen ohne EU-Pass. Auch erscheint die Konzentration auf die Beziehungen der EU zu den USA und zur NATO zumindest einseitig, da die paneuropäischen Organisationen Europarat und Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE, vormals KSZE) ebenso wenig figurieren wie subregionale vom binneneuropäischen Typus des Ostseerats und der Visegrád-Staatengruppe (Polen, Tschechische Republik, Slowakei und Ungarn) oder euro-asiatische wie die Organisation der Schwarzmeerwirtschaftskooperation (BSEC) und GUAM (Georgien, Ukraine, Aserbajdschan, Moldova), die zunehmend energiepolitische und geostrategische Konturen gewinnen.

Der Band verfügt über einen detaillierten Anhang mit Angaben zu den enthaltenen Abbildungen, ein durch zusätzliche Tabellen erheblich erweitertes Tabellenverzeichnis, eine nach Kapitel gegliederte Bibliografie sowie topografische, geowissenschaftliche und humanwissenschaftliche Indices. Die physische Übersichtskarte im vorderen Einband lässt Romanisten/innen und Slavisten/innen die Haare zu Berge stehen – „Kischinau“ (statt Chişinău), „Winnecja“ (statt Vinnycja) – und auch sonst ist die Nomenklatur samt Transkription von Ortsnamen uneinheitlich. Für 2004 wird noch von „Jugoslawien“ (statt von Serbien und Montenegro) und von „Moldawien“ (statt von Moldova bzw. Moldau) gesprochen und die artifiziell-administrative Nomenclature des unités territoriales statistiques der EU figuriert lediglich unter ihrer wenig gängigen (und unfreiwillig passenden) Abkürzung NUTS (S. 33). Dass die offizielle Statistik Bulgariens aktuell lediglich 30.000 Türken anführt (S. 123), ist unzutreffend. Vielmehr sind es 720.000 – immerhin 24-mal mehr. Czernowitz, das heutige ukrainische Černivci und vormalige rumänische Cernăuţi, liegt in der Bukovina, nicht in Galizien (S. 125). Und der Satz „Durch die Räumung Finnlands von deutschen Truppen fiel Karelien 1947 an die UdSSR“ (S. 124) ist ein Amalgam aus Unzutreffendem und partiell Zutreffendem, welches in richtig und falsch zu scheiden hier nicht der Platz ist.

Bei aller geografisch-disziplinären Wissenschaftlichkeit träumt Lichtenberger unverkennbar „den europäischen Traum“ (Jeremy Rifkin), was nicht zuletzt biografische Gründe in Form einer transatlantischen Gastprofessur hat: „In Nordamerika bin ich zur Europäerin geworden.“ (S. 7) Dass nach Kaltem Krieg, Kollaps des Staatssozialismus und 11. September das „Projekt Europa“ als einziger Fluchtpunkt desillusionierter Eliten einiger Staaten Europas übrig geblieben ist, ist individuell auch generationell-kollektiv nachvollziehbar. Und natürlich ist die Beobachtung, dass in semantischer Hinsicht die Begriffe „Europa“ und „EU“ zunehmend kongruent werden, zutreffend. Aber verpflichtet das die Regionalwissenschaften zur Übernahme von EU-Emphase? Sind „Euro“, „Schengen“ und „Sozialcharta“ a priori Untersuchungsrahmen von Area Studies oder sollten sie nicht vielmehr deren Untersuchungsgegenstände sein? Zumindest im Schlusskapitel verschwimmen der Autorin ihre Kategorien partiell. Dass sie keine Sympathie für einen EU-Beitritt der Türkei hat, mag mit den angeführten kulturellen Argumenten durchgehen, aber was ist mit Albanien, Makedonien, Montenegro, Serbien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, der Ukraine, Moldova und Weißrussland, gar mit der Russländischen Föderation und Israel oder der Schweiz und Norwegen, demnächst mit Kosova? Wie lautet diesbezügliche das universalgeografische (Pro et) Contra? Auch hier müsste der Brüsseler Tunnelblick durch den multiperspektivischen Geografen-Blick auf Europa ersetzt werden.

Spannend gewesen wäre überdies eine Diskussion nicht-geografischer Europakonzeptionen aus fachgeografischer Sicht: Wie nehmen sich in dieser Perspektive das Europa des Europarats, welches sowohl die Russländische Föderation wie den Transkaukasus einschließt, oder dasjenige der OSZE „von Vancouver bis Vladivostok“ aus? Was hält die geografische Forschung vom Analyserahmen eines postkommunistischen „Eurasien“, den die angloamerikanischen Sozialanthropologie anlegt? Wie beurteilen Geograf/innen heute die „Grenzen und Gliederungen“ Europas, die zuletzt 1950 – also vor mehr als einem halben Jahrhundert! – der US-polnische Exilhistoriker Oskar Halecki mit beträchtlichem Echo in Ost und West vermessen hat? Macht seine Binnengliederung in West-, Westmittel-, Ostmittel- und Osteuropa geografisch Sinn? Oder sind eher „Nord“ (im Gegensatz zu „Süd“) und die „nördliche Hemisphäre“ geografisch operable Begriffe? Darüber hätte man gerne mehr erfahren, desgleichen über die postkolonialen Prägungen etlicher Gesellschaften Europas sowie über Regionalisierungsmuster europäischer Erinnerungskulturen – wenn schon „die historisch-kulturelle Identität Europas“ auf fast jeder dritten Seite bemüht wird.

Doch genug der beckmesserischen Kritik an einem so mutigen und in jeder Hinsicht großformatigen Unternehmen wie dem anzuzeigenden: Moderne geografische Europaforschung à la Lichtenberger ist in multipler Weise erklärungsmächtig sowie in disziplinärer Hinsicht vielfach anschlussfähig, vor allem was Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte, Bildwissenschaft, Philologie, Demografie, Ökonomie und Politologie betrifft; die europäische Ethnologie, die neuere historische Forschung zu geschichtsregionalen Konzeptionen sowie die Fachrichtungen Globalgeschichte und Außereuropäische Geschichte sollten künftig einbezogen werden. Das Europa-Buch der Wiener Geografin ist ein großer Wurf. Mehr davon!

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