H. Nitschack (Hrsg.): Brasilien im amerikanischen Kontext

Cover
Titel
Brasilien im amerikanischen Kontext. Vom Kaiserreich zur Republik: Kultur, Gesellschaft, Politik


Herausgeber
Nitschack, Horst
Reihe
Biblioteca Luso-Brasileira 23
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Harbeck, Humboldt-Universität zu Berlin

Brasilien ist das einzige lateinamerikanische Land, das nach erreichter Unabhängigkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst den Weg der konstitutionellen Monarchie wählte, dauerhaft beibehielt und sich erst vergleichsweise spät in eine Republik verwandelte (1889/91). Dieser verfassungsgeschichtlich-politische Hintergrund ist aber nur einer der Aspekte, die im vorliegenden Tagungsband behandelt werden. Es geht vielmehr um eine breite Einbettung in ein ganzes Spektrum von Transformationsprozessen, die sich in den Dekaden um die Jahrhundertwende vollzogen und die hier in insgesamt 14 Einzelbeiträgen und der knappen Herausgebereinleitung aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet werden. Besonders hervorzuheben ist dabei das Bemühen, durch explizite und implizite Vergleiche mit unter anderen Argentinien, Cuba und den USA brasilianische Spezifika zu profilieren. Der Band bietet die seltene Möglichkeit, sich in deutscher Sprache über eine ganze Vielzahl von Forschungsfeldern der „Brasilianistik“ zu informieren. Schwerpunkte bilden hierbei neben der politischen Transition, die Siedlungspolitik, die Situation der Farbigen sowie die Haltung von Intellektuellen und Literaten zur Nation und zu Amerika.

Die ersten drei Aufsätze kreisen um den politischen Übergang vom Kaiserreich zur Republik und die Rollen, die die Verfassung bzw. das Militär hierbei spielten. Wolf Paul arbeitet heraus, dass die Nähe der brasilianischen Verfassung zum US-amerikanischen Modell vor allem darin begründet lag, dass der in der breiten Bevölkerung und in Teilen der Eliten abgelehnte Putsch der Republikaner gegen das Kaiserreich rasch eine neue Legitimationsbasis zur Begründung politischer Herrschaft erforderte. Die US-amerikanische Verfassung wurde als die Grundlage für den beispiellosen und auch von brasilianischen Eliten ersehnten Aufstieg der USA und ihre „Fortschrittlichkeit“ angesehen. Paul spricht allerdings auch die sich hier bereits abzeichnende Kluft zwischen Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit an. Wolfgang Heinz knüpft teilweise direkt an den vorangehenden Aufsatz an, indem er zeigt, dass das Militär die in der Verfassung verankerte „moderierende“ Rolle des abgelösten Kaisers (poder moderador) für sich in Anspruch nahm – auch ohne explizite Verfassungsgrundlage. Ausländische Einflüsse auf die republikanische Armee waren in dieser Phase eher struktureller und nicht so sehr politischer Natur. Jens Hentschkes Analyse des brasilianischen Transitions- und Konsolidierungsprozesses stellt überzeugend dar, dass es sich nicht um eine Revolution, sondern vielmehr um eine „Mischung aus Verschwörung, Militärputsch und Reform ‚von oben’“ (mit deutlichen Kontinuitäten zum Kaiserreich) gehandelt habe. Erst seit den 1920er-Jahren sei es verstärkt zu einer Ausweitung demokratischer Ansprüche und zu einer partiellen Abkehr vom Modell der „konservativen Modernisierung“ (S. 68) gekommen.

Gerson Roberto Neumann behandelt die Einwanderungspolitik. Seine wichtigsten Beobachtungen beziehen sich auf ihre Verknüpfung mit den Interessen der Landaristokratie und mit der Sklaverei-Debatte. Im Vergleich mit den USA und Argentinien war Brasilien durch die größere Entfernung bzw. die den Arbeitsmarkt „blockierende“ Sklaverei im Nachteil und „nur“ an dritter Stelle der Haupteinwanderungsländer Amerikas. Ergänzend hierzu stellt Beatrice Zieglers Artikel Kolonisationsprojekte seit der Ankunft des portugiesischen Hofes in Brasilien (1808) vor. Sie hätten sich aufgrund mangelnder oder schädlicher staatlicher Regulierung meist nur in den Regionen durchsetzen können, die nicht durch die Plantagenwirtschaft dominiert wurden bzw. in denen sie in frontier-Situationen als Puffer dienlich waren. Argentiniens effizientere Kolonisationspolitik habe eine größere Attraktion auf Auswanderer ausgeübt, weil sie weitgehend ohne gesetzliche Beschränkungen auskam und durch Landverkäufe gegenfinanziert war.

Jochen Kemner und Katharina Bosl von Papp setzen sich mit Aspekten afrobrasilianischer und afrokubanischer Kultur auseinander. Kemner vergleicht soziale Aufstiegsmöglichkeiten für freie Farbige in Recife und Santiago de Cuba. In Brasilien stand theoretisch jedem freien Mann seit der Verfassung von 1824 der Zugang zu Bildung und Besitz offen. In Kuba bot sich ihnen bis zur Zäsur des Unabhängigkeitskrieges 1868-78 ausschließlich der ökonomische Aufstieg. Allerdings sind auch in Brasilien Theorie und Praxis der Anerkennung zu unterscheiden. Die Zahl farbiger Aufsteiger blieb begrenzt. Die verschiedenen Gruppen bildeten kein übergreifendes Selbstverständnis als „farbige Brasilianer“ aus. Papp verweist in ihrem knappen Beitrag zu Religion und Sklaverei in Brasilien und auf Kuba auf die interessante Stellung der Laienbruderschaften. Diese boten den Afrikanern und ihren Nachkommen einen Freiraum, in dem sie sich selbst organisieren und somit aktiv und passiv Widerstand gegen die Sklavenhaltergesellschaft leisten konnten. Der Vergleich mit Kuba fällt jedoch dünn aus und ihre interessantesten Feststellungen zum Ausbleiben einer Integration der Sklavinnen und Befreiten nach der Abschaffung der Sklaverei und dem Übergang zur Republik handelt sie nur in Stichpunkten ab.

Der Aufsatz von Karen Lisboa leitet in einen großen eher kulturgeschichtlich-literarischen Block über. Sie untersucht den kulturellen Vergleich, den Brasilianer der frühen Republik zwischen ihrer Heimat und den USA anstellten. In ihrer Auswertung ausgewählter Reiseberichte meist brasilianischer Intellektueller, stellt sie das Vorherrschen eines positiven Bildes der Vereinigten Staaten fest: Gleichberechtigung, Leistungswillen und Fortschritt wurden von der Mehrheit der Autoren teils begeistert hervorgehoben. Nur Wenige differenzieren dagegen stärker oder orientieren sich eher an Europa. Deutlich wird hier aber auch die Meinungsvielfalt der Umbruchsphase und das ambivalente Verhältnis zu den USA. Susanne Klengel behandelt den interkulturellen Dialog zwischen Brasilien und Argentinien anhand des 1900 erschienenen Werkes „O Brasil intelectual“ des argentinischen Diplomaten Martín García Merou. Mit diesem Werk habe er eine erste kritisch-wohlwollende Betrachtung der literarischen Produktion Brasiliens vorgelegt, die aber sowohl von der brasilianischen als auch von der einheimischen Literaturkritik lange Zeit missachtet wurde. Der Herausgeber Horst Nitschack wendet sich Sílvio Romeros Sicht auf die brasilianischen Nationalliteratur zu. Vom Positivismus geprägt habe Romero sich, im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen, weniger mit der literarischen Produktion der Nachbarstaaten und dem politischen Verhältnis zu ihnen auseinander gesetzt. Die Herausbildung einer Nationalliteratur sei für Romero geradezu die Voraussetzung für die angestrebte Internationalisierung Brasiliens im Zeichen der vorherrschenden Fortschrittsideologie gewesen (S. 244). Trotz seiner positivistisch-darwinistischen Ansätze sei Romero gleichzeitig ein großer Verfechter der „mestizagem“, also der Vermischung verschiedener Völker und Ethnien gewesen. Sabine Schlickers widmet sich Azevedos „O cortiço“. Am Vergleich mit Zolas Werken demonstriert sie, dass es sich um ein Parade-Beispiel des brasilianischen Naturalismus handelt. Ligia Chiappini schließlich lenkt das Augenmerk auf grenzüberschreitende Regionalkulturen am Beispiel der Gaucho-Literatur Südbrasiliens und Uruguays. Anhand der Autoren Javier de Viana und João Simões Lopes stellt sie Parallelen und Unterschiede kultureller Akteure dar und zeigt anschaulich, dass die kulturelle Tordesilhas-Linie längst überschritten und dieser Umstand nur allzu lange ignoriert wurde.

Mit dem Sammelband liegt ein gelungener Überblick über diverse Facetten des (frühen) republikanischen Brasiliens vor. Gerade im ersten Teil gehen die Themenkomplexe der Einzelaufsätze fließend ineinander über. Der rote Faden ist deutlich zu spüren. Im eher kulturbezogenen Teil hätten diese Zusammenhänge vielleicht stärker herausgestellt werden müssen, allerdings verdeutlichen sie die kulturelle und regionale Diversität Brasiliens. Auch die thematisch isolierter stehenden Beiträge Martina Neuburgers über den Aufstieg und Niedergang der Kautschukproduktion in Amazonien und Ute Hermanns zur frühen Kinoproduktion in Brasilien durch Immigranten stützen dieses Bild. Als Handbuch, das kohärent alle Aspekte des Übergangs vom Kaiserreich zur Republik beleuchtet, wie die ersten drei Aufsätze vielleicht erwarten lassen, eignet sich der Band – leider – nicht, als Nachschlagewerk, um einen schnellen Überblick zu Einzelthemen zu gewinnen, oder als Grundlagenlektüre für Einführungskurse ist er dagegen gut einsetzbar. Auf jeden Fall aber veranschaulicht er, dass es nicht ausreicht, Brasilien mit seinen kontinentalen Ausmaßen isoliert zu betrachten, sondern dass sich durch die Einbeziehung amerikanisch-vergleichender Aspekte neue Einblicke gewinnen lassen.

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